Musikhochschule Detmold arbeitet NS-Vergangenheit auf

  • Musikhochschule Detmold arbeitet NS-Vergangenheit auf

    Dr. Thomas Grosse, seit einem Jahr Rektor der Hochschule für Musik Detmold, hat den bevorstehenden hundertsten Geburtstag seines Amtsvorgängers Martin Stephani (Direktor der Detmolder Hochschule von 1959 bis 1982) zum Anlass genommen, einen Bielefelder Historiker damit zu beauftragen, dessen NS-Vergangenheit wissenschaftlich zu erforschen. Stephani wurde 1940 zusammen mit seinem Lehrer Fritz Stein Mitglied der "Leibstandarte Adolf Hitler" und stieg später bis zum Leiter des Musikzuges auf. Als er 1959 zum Direktor der damaligen "Nordwestdeutschen Musikakademie" berufen wurde, schrieb ihm der Rektor der Freiburger Hochschule, Gustav Scheck (der ihm im Zuge der Entnazifizierung noch einen "Persilschein" ausgestellt hatte): "Ihr eigenes Gefühl aber müsste Ihnen sagen, daß Sie einen Ruf als Direktor einer Musikhochschule nicht annehmen sollten, auch wenn zehn Spruchkammern und Gerichte Sie formell freigesprochen hätten." Stephani folgte dem Ruf dennoch. Der WDR hat heute in der Sendung "Tonart" einen sehr hörenswerten Beitrag von Beate Depping zu dem Fall gesendet, der aber leider in der Mediathek nicht abrufbar ist. Wer sich dafür interessiert, kann sich per PN bei mir melden.

    Christian

  • Auch wenn der Fall des Dirigenten und Hochschulrektors Martin Stephani eher lokale Bedeutung hat, so finden sich in ihm doch Konflikte, Empfindlichkeiten, Argumentations- und Verhaltensmuster, die immer wieder bei der Beschäftigung mit der "braunen" Vergangenheit von Künstlern zu beobachten sind, hier etwa zuletzt in der wieder aufgeflammten Diskussion über Elly Ney.
    Im Falle von Martin Stephani, der an der Musikhochschule Detmold auch 35 Jahre nach seiner Emeritierung noch immer einen geradezu legendären Ruf als Rektor hat, bewirkte allein die Ankündigung des aktuellen Rektorates, seine nur in Teilen bekannte und bei allen öffentlichen (und wohl auch den allermeisten privaten) Anlässen verschwiegene NS-Vergangenheit wissenschaftlich erforschen zu lassen, vor allem bei den älteren bzw. ehemaligen Hochschulangehörigen einen Sturm der Entrüstung (und führte für mich persönlich wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten zu meinem Rückzug aus dem Vorstand des Alumni-Vereins). Zur Begründung wurde u.a. aus "Persilscheinen" zitiert, die Stephani im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens vorgelegt hatte, und die ihm bescheinigten, keine Nazi-Gesinnung gehabt zu haben. Das kann mit dem jetzt vorliegenden vorläufigen Bericht von Prof. Schmuhl als widerlegt gelten, ich zitiere aus der Stellungnahme des Senats der Hochschule:

    "Wie der von Prof. Dr. Schmuhl vorgelegte vorläufige Bericht belegt, erfolgte diebVersetzung Martin Stephanis von der Wehrmacht zur Leibstandarte Adolf Hitler der Waffen-SS im Mai 1941 auf Initiative des Kommandeurs der Leibstandarte, SS Obergruppenführer Sepp Dietrich. Stephani fügte sich dieser Entwicklung eher widerstrebend. Die Abkommandierung zum Stabsmusikkorps der Waffen-SS beim SS-Führungshauptamt im Juli 1941 war dagegen ganz im Sinne Martin Stephanis. Bis Kriegsende war er, zuletzt im Rang eines SS-Obersturmführers, als Musikreferent im SS-Führungshauptamt tätig. Der privaten Korrespondenz aus dieser Zeit ist zu entnehmen, dass Stephani sich mit den Herrschaftszielen des nationalsozialistischen Deutschlands – vor allem auch mit dem Weltanschauungs-,Lebensraum- und Rassenkrieg im Osten – identifizierte und das elitäre Selbstverständnis der SS als Avantgarde des Nationalsozialismus zu eigen machte.Als Musikreferent arbeitete er an der Formulierung der Musikpolitik der SS mit. Seine künstlerische Tätigkeit mit dem Symphonieorchester der Waffen-SS verstand er –ebenso wie seine Unterrichtstätigkeit im Rahmen der Ausbildung von SS Musikführern am Konservatorium der Reichshauptstadt Berlin – als Beitrag zur Erziehung zu einer wahrhaft „nationalsozialistischen Weltanschauung“. Dass er –etwa durch sein Eintreten für Paul Hindemith, mit der Werkauswahl für die Konzerte des SS-Symphonieorchesters oder mit seinen Ambitionen zur Übernahme der Leitung des Berliner Staats- und Domchors – wiederholt mit anderen Instanzen der NS-Musikpolitik, namentlich mit der Musikabteilung des Reichsministeriums für Propaganda und Volksaufklärung, in Konflikt geriet, kann nicht – wie Martin Stephani es in seinem Entnazifizierungsverfahren nach 1945 darstellte – als Opposition gegen den nationalsozialistischen Staat interpretiert werden."

    Am Ende stellt der Senat in aller wünschenswerten Klarheit fest:

    "Die Causa Martin Stephani zeigt erneut, dass Musik nicht unabhängig von Gesellschaft und Politik besteht. Die Hochschule für Musik Detmold stellt sich der Verantwortung,diesem Aspekt der Kunstausübung gerecht zu werden."

    Der endgültige Abschlussbericht von Prof. Schmuhl wird im Frühjahr in Form einer Monographie in der Reihe „Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik“ im Allitera-Verlag München erscheinen.

    Christian

  • zeigt erneut, dass Musik nicht unabhängig von Gesellschaft und Politik besteht

    Genau das ist aber das Argument vieler, die sich im sog. "Dritten Reich" für das Regime engagiert hatten, um sich frei zu sprechen. Dem liegt die sog. "Zwei Welten Theorie" zu Grunde, nach der es auf der einen Seite die Kunst, und auf der anderen Seite die reale politische Situation gibt. Diese Auffassung vertraten offenbar auch viele Offiziere bei der Entnazifizierung von Musikern und Musikfunktionären. Sie fanden nämlich, dass die künstlerische Leistung der betroffenen Personen gewürdigt werden sollte, und in jedem Falle einen höheren Stellenwert habe, als deren Einordnung in und die Propaganda für das Regime. Und so lange sie keine Straftaten begangen hatten, wurden sie auch problemlos entnazifiziert. Teilweise haben sich diese Personen dann gegenseitig Persilscheine ausgestellt, und konnten unbehelligt weitermachen. In diesem Bereich hat es praktisch keine Entnazifizierung gegeben.
    Eines der prominentesten Beispiele ist wohl Walther Abendroth, der nach dem Krieg von 1948 - 55 Leiter der Feuilletonredaktion der Zeitschrift "Die Zeit" war.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • Es ist immer wieder erstaunlich, dass selbst nach über 70 Jahren immer noch Widerstände gegen eine transparente Bearbeitung der Nazi-Vergangenheit öffentlich tätiger Personen bestehen, auch wenn Selbige längst tot sind. Jedenfalls kann ich mir angesichts dessen die leidenschaftlichen Plädoyers von Christian und seinen Austritt gut vorstellen. :evil: :thumbup:
    Diese Woche wurde auf Arte ein Film gezeigt (ich glaube man kann ihn noch abrufen) "Wer, wenn nicht wir". Darin geht es u.A. um den Dichter und Gudrun Ensslin Lebensgefährten Bernward Vesper, der Sohn eines Nazi- Schriftstellers war und zwischen der Liebe zu seinem Vater und seiner eigenen Anti-Nazi Gesinnung (und der Kritik seiner linken Freunde) zerrieben wurde. Allerdings lebte der Vater noch und drängte auf Neuauflage seiner Werke, das ist nochmal eine andere Brisanz. Mein eigener mütterlichseitiger Grossvater war Pianist im Offizierskasino der deutschen Besatzer in Paris und dass Musik keinesfalls unpolitisch war, hat mir auch ein von ihm hinterlassenes Buch über Schubert gezeigt, dass ihm sein Vorgesetzter 1943 zu Weihnachten geschenkt hat. Unsäglich, wie Schuberts Musik da verformt und aufs Völkische und Anti-Jüdische hingedeutet wurde. In der Familie wurde immer lächelnd gesagt, der Opa habe ja nur Klavier gespielt und Fresspakete aus Paris geschickt. und damit war der persönliche Persilschein dann ausgestellt. Die Frage, warum er ausser Wagner keinen anderen Komponisten hat gelten lassen, konnte ich ihm leider nicht mehr stellen. Auch wenn man niemandem in dessen Schuhen man nicht selbst gelaufen ist, Schuldvorwürfe machen darf, ist Musikschaffen gewiss nicht per se ein Blankoscheck zur weissen Weste. Und das gilt keinesfalls nur für das Naziregime sondern für alle totalitären Ideologien.

    :fee:

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Auch wenn man niemandem in dessen Schuhen man nicht selbst gelaufen ist, Schuldvorwürfe machen darf, ist Musikschaffen gewiss nicht per se ein Blankoscheck zur weissen Weste.

    Ich war von der Heftigkeit der Reaktionen wirklich überrascht, zumal es hier - deutlich ausgesprochen - überhaupt nicht um eine irgendwie geartete "Schuld" ging sondern nur um die historische Wahrheit, und weil sein in der Tat sehr positives Wirken an der HfM Detmold bei jeder Gelegenheit, also auch bei der Bekanntgabe dieser Untersuchung immer wieder hervorgehoben wurde. Man muss sich nur einmal vorstellen, die Hochschule hätte zu Stephanis hundertstem Geburtstag im November 2015 kommentarlos ein Gedenkkonzert veranstaltet, und dieser Teil seiner Biographie bzw. sein Verschweigen durch die Hochschule wäre dann in der Presse oder unter den Studierenden (die aus zig Ländern kommen, darunter auch aus Israel) bekannt geworden! Allein diese Überlegung hätte doch auch bei denen, die aus persönlicher Verbundenheit ein Problem damit haben, zu der Erkenntnis führen müssen, dass es zur Offenlegung der historischen Wahrheit keine Alternative gibt. In Stephanis Wikipedia-Eintrag begann sein Berufsleben noch vor kurzer Zeit im Jahr 1957, erst Ende 2015 hat jemand eine kurze Ergänzung zu seiner NS-Vergangenheit hinzugefügt. Mich erinnert so etwas immer an den schönen Sketch von Otto Waalkes, bei dem er als "Wetten-dass"-Kandidat den Nachweis antreten will, sämtliche Jahreszahlen seit Christi Geburt in der richtigen Reihenfolge aufsagen zu können, aber an dieser Aufgabe scheitert, weil er von 1932 zu 1946 springt, woraufhin ihm vorgehalten wird, er habe "tausend Jahre vergessen" :D .

    Den Film, den Du erwähnst, kenne ich auch, er basiert auf dem sehr lesenswerten Buch "Vesper, Ensslin, Baader: Urszenen des deutschen Terrorismus" von Gerd Koenen.

    Christian

  • dass es zur Offenlegung der historischen Wahrheit keine Alternative gibt.

    Völlig richtig - Unwahrheit hat nämlich eine peinliche Konsequenz, sie lockt die in den Archiven schlummernden ungeschönten Tatsachen ans Licht (so oder ähnlich das Fazit von Fred K. Prieberg in seinem Musiker-Mimikry-Beitrag).

  • Völlig richtig - Unwahrheit hat nämlich eine peinliche Konsequenz, sie lockt die in den Archiven schlummernden ungeschönten Tatsachen ans Licht (so oder ähnlich das Fazit von Fred K. Prieberg in seinem Musiker-Mimikry-Beitrag).

    Aus dem dort erwähnten "Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945" stammen auch die Elly-Ney-Zitate in meinem Beitrag.

    Christian

  • Aus dem dort erwähnten "Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945" stammen auch die Elly-Ney-Zitate in meinem Beitrag.

    Dieses wahre Mammutwerk ist Priebergs Vermächtniss, welches seinerzeit noch zu seinen Lebzeiten auf CD-R in Form von zwei PDF zu einem horrenden Preis angeboten wurde.
    Dies ist die umfassendste Dokumentation aller Zeiten über die Musik im NS-Staat.
    Ein Lebenswerk sondergleichen.

    Leider ist es aber nicht in Buchform, und es beinhaltet zum allergrößten Teil vor allem die Fakten.
    Es ist nicht leicht, sich da durchzuwühlen, denn es ist irrsinnig viel.
    Aber man erfährt auch irrsinnig viel.

    Und leider ist es auch nicht mehr erhältlich.

    https://www.youtube.com/watch?v=i9G2vX4CTsc

    Dafür scheint Priebergs gesamtes Archiv mittlerweile frei zugänglich zu sein, allerdings wohl nur nach Absprache mit der UNI Kiel.
    Und wohl nur vor Ort in Kiel.

    So, wie ich das verstehe, ist dieses gesamte Archiv NOCH ausführlicher als die seinerzeit veröffentlichten PDF -Dateien.
    http://www.uni-kiel.de/muwi/forschung/archiv-prieberg.html

    Wer sich für die PDF -Dateien interessiert: Bitte PN an mich.

    Michael

  • welches seinerzeit noch zu seinen Lebzeiten auf zwei CDs in Form von PDF zu einem horrenden Preis angeboten wurde.

    z.Zt. antiquarisch bei eurobuch für ca. 100.-- EUR, also im Vergleich zu einer Buchausg. spottbillig.
    (ist offenbar nur 1 CDROM).

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • (ist offenbar nur 1 CDROM).

    Stimmt, habe es korrigiert.
    1 CD-R, Inhalt 2 PDF , so ist es korrekt.

    Antiquarisch für 100,- ist ok, das Orginal lag wesentlich höher.
    Mich würde interessieren, warum man es nicht mehr neu erwerben kann, sondern nur noch antiquarisch.

    Das ist eine ungemein wichtige Veröffentlichung gewesen, jedes Geld der Welt wert.
    Und jetzt kann man sehen, wo man bleibt.

    Das hier habe ich eben in einer damaligen Rezension der Orginalveröffentlichung gefunden:
    "Das Handbuch ist als CD-ROM erschienen und beim MusikwissenschaftlichenInstitut der Universität Kiel gegen eine Schutzgebühr von 150 EURO zu bekommen. "

    Aber ich denke, daß sich das einfach nicht verkaufen läßt.
    Schade.

  • Ich habe von Prieberg andere Bücher gelesen (eines ganz, eines bruchstückhaft) und war recht enttäuscht, das war nicht wissenschaftlich sondern sozusagen veraltet journalistisch, hatte wohl die falschen Erwartungen. Seither würde ich ja grundsätzlich bei jedem Thema erstmal einen anderen Autor versuchen.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Ich habe von Prieberg andere Bücher gelesen (eines ganz, eines bruchstückhaft) und war recht enttäuscht, das war nicht wissenschaftlich sondern sozusagen veraltet journalistisch, hatte wohl die falschen Erwartungen. Seither würde ich ja grundsätzlich bei jedem Thema erstmal einen anderen Autor versuchen.

    Das "Handbuch" ist ein Lexikon und deshalb nicht mit seinen sonstigen Büchern zum Thema zu vergleichen. Als gigantische Quellensammlung ist es von unschätzbarem Wert und enthält belegte Fakten zu rund 5500 Musikern und zehntausenden von Werken. Die Ordnung ist dabei jeweils diese:

    • Name, Vorname (bei Pseudonym bürgerlicher Name)
    • Lebensdaten
    • Biographisches
    • Auflistung vor allem der nach 1945 verschwiegenen Werke, Kompositionen oder Schriften mit Rezensionen und Textbeispielen, bei Anthologien mit Inhaltsangabe
    • Selbstaussagen oder Zitate politischer Art, Bemerkungen
    • Informationen über ergänzende Lexikographie, Korrekturen, Probleme der biographischen Quellensicherung und Archivmängel

    Christian

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