• Nachtrag:

    Am 18.11.2022 in Stuttgarts Liederhalle

    SWR Sinfonieorchester unter der Leitung von Vasily Petrenko

    Franz Schreker

    Vorspiel zu einem Drama

    Alban Berg

    7 frühe Lieder

    Igor Stravinsky

    Petrushka

    Petrenko und das SWR boten hier drei Werke, die ungefähr zur gleichen Zeit entstanden. Die Orchesterfassung der ursprünglich für Klavierbegleitung geschriebenen 7 frühen Lieder entstand allerdings erst 20 Jahre später. Das Vorspiel zu einem Drama von Schreker ist eine symphonische Zusammenfassung der Oper Die Gezeichneten. Von Petrushka wurde die Originalversion von 1911 gegeben. Orchester und Dirigent konnten in allen drei Werken überzeugen und Sopranistin Chen Reiss meisterte ihre Partie souverän und höhensicher. Höhepunkt des Abends sicher der Stravinsky'sche Jahrmarktstrubel mit einem brillant aufspielenden Orchester.

    Das Konzert kann man auf der SWR website nachhören.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Vorgestern gastierte wieder einmal das Henschel Quartett in Stuttgart, sicher eines der Quartette, die ich am häufigsten live erlebt habe und dessen CDs ich alle besitze. Sie haben jetzt auch fast 30 Jahre auf dem Buckel und ich fand, dass man das auch hörte und sah. Die Begeisterung, die gerade junge Quartette häufig ausstrahlen, ist einer in sich ruhenden, abgeklärten Sicht der Dinge gewichen, die manchmal aber auch etwas routiniert wirkt.

    Höhepunkt des Programms war sicher Beethovens op. 59/2, das den zweiten Teil des Abends einnahm. Hier überzeugte das Quartett durch seinen homogenen Klang vor allem in den ruhigeren Passagen. Das galt auch für die Zugabe, die Cavatina aus op. 130.

    Vor der Pause gab es Mozarts Flötenquartett D-Dur KV 285 mit Philipp Jundt als Solist, netter früher Mozart, aber die Flöte ist nicht mein Lieblingsinstrument.

    Gestartet sind die Henschels mit Prokofieffs 1. Streichquartett und das war m.E. eine problematische Wahl. Das Stück ist wohl intonationsmäßig recht heikel und ich hatte den Eindruck, dass gerade im 1. Satz nicht alles so perfekt klang wie man es von einem Spitzenensemble erwartet. Ich habe es zu Hause noch einmal von den Pavel Haasianern gespielt nachgehört und fand meinen Eindruck bestätigt. Vielleicht hätten sie mit dem Mozart starten sollen. Insgesamt also ein guter, aber kein überragender Abend.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Gestern abend in der ausverkauften Stuttgarter Liederhalle:

    Yulianna Avdeeva und Teodor Currentzis

    Diese Kombination erwies sich schon in der letzten Saison in Hamburg bei Prokofiews KK 3 als Volltreffer. Und dann auch noch die damalige Zugabe der Solistin: Die Toccatina aus "Das Leben der Maschinen" von Wladyslaw Szpilman. Dort wurden Klavierkenner abgeholt, die Lust auf etwas anderes haben als "Für Elise" (eine von Lang Lang bevorzugte Zugabe).

    Prokofieff Klavierkonzert Nr. 2

    Stravinsky Le Sacre

    Ravel Bolero

    Ja, auch dieses Mal ergaben die beiden wieder einen Volltreffer.

    Das IMO beste Klavierkonzert von Prokofieff stellt die Solistin vor enorme Herausforderungen und ich denke Frau Avdeeva hat sie gut gemeistert. Und es hat ihr auch sichtlich Freude bereitet, wenn man ihre Mimik - wie ich aus der 6. Reihe - beobachten konnte. Auch diesmal als Zugabe ein Stück von Wladyslaw Szpilman, eine Mazurka, geschrieben im Warschauer Ghetto, wo das Spielen von Chopin verboten war, Szpilman dies aber durch die Komposition eines sehr nach Chopin klingenden Stückes umging.

    Nach der Pause dann die einst skandalträchtige Ballettpartitur, die ich auch mehrmals als Ballett aufgeführt erlebt habe. U.a. in New York eine Rekonstruktion der ursprünglichen Choreographie von 1913 mit ebenfalls rekonstruierten Kostümen und Bühnenbild. Noch eindrucksvoller aber vor über drei Dekaden in Hamburg unter John Neumeier mit einem Opfer, das sich völlig unbekleidet zu Tode tanzt. Der Name der phänomenalen Tänzerin fällt mir leider gerade nicht ein.

    Gestern nun als Bravourstück für Orchester mit nur einem Tänzer ;) und das Stück kam hammermäßig rüber. Wie zwei Beiträge zuvor berichtet, spielte das Orchester ja vor zwei Wochen bereits Petrushka, seinerzeit geleitet von Vasily Petrenko. Aber unter Currentzis schaltet das Orchester immer irgendwie noch einen Extragang an Spannung und Explosivität ein; wie er das macht, bleibt sein Geheimnis. Ungewöhnlich auch dass es danach - sozusagen zum Wiederrunterkommen - noch den Bolero gab, der ebenfalls vorbildlich mit genau dosierten Steigerungen exekutiert wurde. Hier agierte der Dirigent sogar ohne Partitur. Grins1

    Ein beglückender Abend.

    Mit dem Programm touren die Musiker jetzt noch durch D und meines Wissens nach werden noch weitere Forianer in den Genuß dieser Aufführungen kommen.

    Im Januar steht das nächste Konzert mit Curentzis an, wieder ein absolutes Hammerprogramm:

    Vilde Frang spielt Alban Bergs Violinkonzert

    danach

    Schostakowitschs 8. Sinfonie.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Mit dem Programm touren die Musiker jetzt noch durch D und meines Wissens nach werden noch weitere Forianer in den Genuß dieser Aufführungen kommen.

    Also ich auf jeden Fall am 21. Dezember in Hamburg. Für mich der krönende Abschluss der Konzertsaison dieses Jahres.

    Im Januar steht das nächste Konzert mit Curentzis an, wieder ein absolutes Hammerprogramm:


    Vilde Frang spielt Alban Bergs Violinkonzert

    danach

    Schostakowitschs 8. Sinfonie.

    Dafür muss man leider am 24.1. nach Berlin reisen, eine Hamburger Aufführung gibt es nicht.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

    Einmal editiert, zuletzt von music lover (13. Dezember 2022 um 12:49)

  • Vor gut zwei Jahren hat mich ein nettes Forenmitglied auf das Esmé Quartett aufmerksam gemacht, das damals gerade ihre Debut-CD herausgebracht hatte.

    Das Esme Quartett besteht aus vier jungen koreanischen Musikerinnen, die sich 2016 an der Kölner Musikhochschule zusammengetan haben und bereits zwei Jahre später den Wigmore Wettbewerb in London gewonnen haben.

    Gestern hatte ich nun die Gelegenheit, das Quartett zum ersten Mal live zu erleben und ich kann nur sagen: es war umwerfend.

    Schon nach wenigen Takten Beethoven 18,6 dachte ich: wow, hier wird gleich von Anfang an auf der vordersten Stuhlkante musiziert und dies wurde bis zu den letzten Takten durchgehalten. Ligetis 1. Streichquartett rockten die Musikerinnen wie ich es selten so spannend und explosiv gehört habe und bei Mendelssohns op. 80 habe ich die Abgründe und die tiefe Trauer selten so eindringlich vernommen. Hier spielen nicht nur vier traumwandlerisch aufeinander eingestimmte und technisch absolut gleichwertige überragende Musikerinnen, sondern auch welche, die wissen, was sie da spielen.

    Das war IMO Weltspitze und wenn man in diverse Aufnahmen auf youtube (z.B. Schuberts letztes Quartett) reinhört, wird dies nur bestätigt.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Auch diesmal als Zugabe ein Stück von Wladyslaw Szpilman, eine Mazurka, geschrieben im Warschauer Ghetto, wo das Spielen von Chopin verboten war, Szpilman dies aber durch die Komposition eines sehr nach Chopin klingenden Stückes umging.

    In Hamburg gab sie heute Abend als Zugabe nach dem Klavierkonzert die Nocturne cis-moll op. posth. von Chopin.

    Ein beglückender Abend.

    Ebenso in Hamburg! Dass es in Hamburg nach einem Currentzis-Konzert eine minutenlange standing ovation gibt, ist völlig normal - so auch heute Abend nach dem Boléro. Bemerkenswert war aber, dass auch die Pianistin Yulianna Avdeeva nach dem Klavierkonzert mit einer standing ovation sondergleichen abgefeiert wurde. Völlig zu Recht. Welch eine innige Interpretation des Prokofiew-Klavierkonzerts Nr. 2 hatte sie dargeboten! Gewissermaßen das Gegenmodell zu Yuja Wang (die ich mit diesem in Werk vor ein paar Jahren in Berlin live gesehen habe). Während Frau Wang die Virtuosität des Klavierparts bis ins letzte auskostet und sich bei schnellen Passagen (insbesondere in der Kadenz des 1. Satzes) an der Grenze der Spielbarkeit bewegt, geht es Frau Avdeeva - bei deutlich langsameren Tempi - darum, Details deutlich werden zu lassen, die Löwenkrallen eingefahren zu lassen und die intimen Seiten dieses Werks hervorzukehren. Was nicht bedeutet, dass sie nicht auch gehörig zulangen kann! Dass sie hochvirtuose Passagen manuell ohne Weiteres meistern kann, steht außer Frage und blitzte auch gelegentlich mal auf. Der Akzent ihrer Interpretation liegt jedoch auf der Demonstration, dass dieses Klavierkonzert etwas anderes sein kann als Futter für Löwenpranken.

    Und jetzt kommt der Hammer schlechthin. Als Zugabe nach dem Boléro kündigte der Maestro "a wonderful piece of chamber music, around 30 minutes long" an. Er verriet nicht das Werk, "because otherwise it would not be a surprise". Es gab eine 5-minütige Umbaupause, der Steinway-Flügel wurde wieder auf die Bühne geschoben. Und dann kam tatsächlich Yulianna Avdeeva, diese wirklich wundervolle Pianistin, überraschend für ein drittes Werk auf die Bühne! Sie spielte gemeinsam mit der Konzertmeisterin Mila Georgieva und dem Solocellisten Frank-Michael Guthmann das Klaviertrio Nr. 2 e-moll op. 67 von Schostakowitsch. Etwas Vergleichbares habe ich bisher nur bei dem allerersten Currentzis-Konzert erlebt, das ich jemals gesehen habe, als nämlich nach dem Schnittke-Violakonzert und der Fünften von Tschaikowsky nach einer entsprechenden Ankündigung von Currentzis, man möge sich bitte ein paar Minuten gedulden, da ein wenig umgebaut werden müsse, im komplett abgedunkelten Saal von den vier Stimmführern der ersten Violinen, der zweiten Violinen, der Bratschen und der Violoncelli als Zugabe das komplette Streichquartett op. 110 von Dmitri Schostakowitsch aufgeführt worden ist.

    Du, lieber Wieland, hast von einer solchen Zugabe in Stuttgart bei Deinem Konzerterlebnis vom 9.12. nichts berichtet. Ich hatte zwar auf Facebook gelesen, dass es in Wien eine "extra time" gegeben habe, dem bin ich aber nicht weiter nachgegangen. Umso überraschter war ich, dass ich Yulianna Avdeeva plötzlich mit einem solch großartigen Werk erleben durfte.

    Es war fast 23.00 Uhr, als das Konzert endete. Und es war wirklich eins: beglückend.

    «Denn Du bist, was Du isst»
    (Rammstein)

  • Lieber musiclover tatsächlich gab es auch in Stuttgart ein Kammermusikextra - ob dasselbige weiss ich nicht. Da meine bessere Hälfte aber gesundheitlich angeschlagen war, sind wir nach dem Bolero gegangen. Toll, dass es noch so schön weiterging.

    :) :)

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Gestern Abend war das Juilliard Quartet zu Gast in Stuttgart, das ja inzwischen auf eine über 75-jährige Geschichte zurückblickt. Natürlich ist niemand mehr von der ersten Garde dabei, das älteste Mitglied ist Ronald Copes (2. Violine), der seit 1997 dabei ist. Die Cellistin Astrid Schween ist seit 2016, die Primaria Areta Zhulla seit 2018 und die Violinistin Molly Carr seit letztem Jahr als Ersatz für den unerwartet früh verstorbenen Roger Tapping im Team. Und in dieser Zusammensetzung trat das JSQ auch gestern gar nicht auf, denn die Primaria ist kürzlich Mutter geworden und hatte anderes zu tun. Als Ersatz-Primaria fungierte die irakisch-amerikanische Geigerin und Komponistin Michelle Ross, die wohl schon häufiger mit den Juilliard zusammen gespielt hat und als viel gefragte Solistin und Kammermusikerin in den USA schon sehr etabliert ist. Kürzlich hat sie ihr erstes Streichquartett In Memoriam Roger Tapping vollendet. Und es spricht schon für die Qualität der Musiker, dass trotz der vielen Neu- und Umbesetzungen ein absolut konkurrenzfähiges Niveau geboten wurde.

    Das Programm begann ungewöhnlich mit Beethovens op. 135, ein Stück, das man sonst eher am Ende eines Konzertes antrifft. Der Höhepunkt für mich dann das 10. Streichquartett Cavatina von Jörg Widmann, das vom JSQ in Auftrag gegeben (Widmann hat u.a. an der Juilliard School studiert) und erst im Herbst letzten Jahres von diesem uraufgeführt wurde. Das 16-minütige Stück ist der letzte Teil von Widmanns Studien zu Beethoven und wie der Titel schon vermuten lässt, setzt sich das Werk mit Beethovens langsamen Satz aus op. 130 auseinander. Und zwar sehr konkret in einer Art Recomposing oder "Übermalung" des originalen Satzes. Das mag nicht jedermanns Sache sein, mir hat hat es sehr gefallen - definitiv viel besser als das kürzlich diskutierte SQdW des gleichen Komponisten. Und da ich immer schon fand, dass die Cavatina zu kurz ist, kamen mir auch die 16 min des Widmannschen Opus sehr entgegen.

    Nach der Pause dann Dvorak op. 105, auch sehr gut gespielt, nur halt nicht von einem tschechischen Ensemble, die IMO immer noch einen besonderen Zugang zu diesem Werk haben.

    Als Zugabe mal wieder Ravels 2. Satz Assez vif. Très rythmé.

    Schöner Abend, ausgiebiger Beifall.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Danke für den Bericht! Sollte sich hier in der Gegend die Gelegenheit ergeben, würde ich die Juilliards auch gern einmal hören. Wie kürzlich gesagt, hat mir ihre relativ neue Aufnahme mit Beethoven/Bartók/Dvořák (aber noch mit Tapping) sehr gefallen.

  • Dank auch von mir! So wie Du es schilderst, lieber Wieland, sollte auch ich es mal wieder mit Widmann versuchen; vielleicht wäre die Beethoven-Übermalung auch etwas für mich?!

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

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