Das italienische Madrigal im 16./17. Jahrhundert
Hier wage ich es, eine Einführung in ein Gebiet der Musikgeschichte zu geben, das mir bislang nur in kleinen Teilen vertraut ist. Beginne ich also mit dem, was ich selbst erfahren habe und etwas kenne.
Im Fokus steht für mich zur Zeit das Madrigalwerk eines mehr berüchtigten als geliebten Meisters, des Don Carlo Gesualdo da Venosa (1560/66-1613), von dessen erhaltenen 6 Madrigalbüchern mich besonders die letzten beiden, das fünfte und sechste, schon lange faszinieren: Wie sich hier ein hochkomplexer polyphoner Stil, der eine geradezu atemberaubende Harmonik (irgendwo habe ich gelesen, es handle sich um "atonale Musik in Dreiklängen") einschließt, mit hochexpressivem Ausdruck, gesteigert in exzentrische Regionen musikalischer Empfindungen, verbindet, das finde ich tief beeindruckend und bewunderungswürdig. Ich glaube, niemand, der für die Spannungen empfänglich ist, die etwa im Übergang von Spätromantik zur freitonalen Ausdruckswelt Arnold Schönbergs thematisiert werden (z. B. Erwartung, Pierrot lunaire), dürfte sich dem Zauber dieser letzten Madrigale Gesualdos ganz entziehen können. (Vgl. auch Gesualdo, Don Carlo: Die Madrigalbücher I-VI (1594-1611))
Des weiteren schätze ich seit langem die Madrigale Claudio Monteverdis (1567-1643), habe den Einstieg seinerzeit über die letzten Madrigalbücher (7.-9., besonders die Madrigali guerrieri et amorosi, mein Favorit: Or che'l cielo e la terra e'l vento tace) gefunden: stilistisch ist das schon eine ganz andere Welt, in der die Monodie, gerneralbaßgestützt, die Polyphonie abgelöst hat (die "Seconda pratica" gegenüber der alten "Prima pratica"). (Vgl. auch MONTEVERDI, Claudio: Achtes Madrigalbuch - "Bisher weder gesehen noch gehört")
Mich selbst reizt momentan mehr das mehrstimmige Madrigal, auch wenn hier die Textverständlichkeit hinter der mich stärker anziehenderen musikalisch-verwickelten Konstruktion in den Hintergrund rückt - für Monteverdi und andere gerade ein entscheidender Grund, die Polyphonie zu verlassen (musikgeschichtlich bedeutend: daraus entstand dann die Barockoper bzw. die Oper überhaupt).
Damit bin ich bereits an dem Punkt angelangt, wo ich Neuland betrete. Aktuell interessieren mich am meisten italienische Madrigale, die in der zeitlichen Umgebung Gesualdos, ungefähr um 1580-1620, entstanden. Hier habe ich erst in diesen Tagen die Musik von Luca Marenzio (1553/54-1599) für mich entdeckt. Sie scheint überwiegend harmonischer, heller und lebenszugewandter zu sein als die Musik Gesualdos, wenn auch nicht ohne Melancholie. Deren Fehlen würde auch überraschen, da die weltlichen Themen der Madrigale nicht selten um unglückliche Liebessehnsucht kreisen. Marenzios 9. Madrigalbuch (1599 erschienen) finde ich besonders spannend, da hier harmonische Grenzen auch schon recht weitgehend ausgeforscht werden: so weit ist das gar nicht von den Kühnheiten Gesualdos entfernt!
Aufgrund freundlicher Empfehlungen (eifelplatz) habe ich auch Madrigale von Giaches de Wert (1535-1596) erstmals gehört. Erster Eindruck: insgesamt eher schlicht gehaltene Harmonik, durchaus schön und wert, näher gehört zu werden.
Bald hoffe ich Madrigale von Luzzasco Luzzaschi (1545-1607) kennenzulernen. Interessant ist, daß dieser in Ferrara um 1594 mit Gesualdo zusammentraf, der sich anscheinend weit mehr für musikalischen Austausch begeisterte als für das Hofleben. Unterwegs zu mir sind Aufnahmen des 5. Madrigalbuchs (1595) und einer Sammlung von Madrigalen für ein bis drei Sopranen. Bei letzteren kündigt sich schon die "Seconda pratica" mit Anfängen des Generalbasses an.
Da ich mich an den Aufnahmen orientiere, die von La Venexiana und La Compagnia del Madrigale in den letzten Jahren beim Label Glossa erschienen - die sagen mir sehr zu wegen der lebendigen Darstellung und feinen Durchhörbarkeit, ohne daß dies auf Kosten des homogenen Ensemblegesangs ginge -, könnte ich mich noch für Sigismondo d’India (1582-1629) erwärmen. Mit Sicherheit kommen noch die frühen Madrigalbücher Claudio Monteverdis dran.
Noch etwas Lexikonwissen (Quelle: dtv-Atlas Musik): Um 1530 entstand das italienische Madrigal - das musikalisch nichts mit dem Madrigal des 14. Jahrhunderts zu tun hat (dem sog. Trecentomadrigal) -, aus dem Bedürfnis in adligen Kreisen Italiens nach einer feinsinnigen Kunst, die im privaten Rahmen als "Musica reservata", als für Kenner reservierte Musik, ausgeübt wurde. Musikalische Wurzeln waren die (sic!) französische Chanson (vgl. Das Chanson im 15. und 16. Jahrhundert) und vor allem die frankoflämische Polyphonie, die sich vorwiegend in geistlicher Musik entwickelt hatte. Literarisch war Petrarca bedeutsam.
Man unterscheidet drei Phasen:
Das frühe Madrigal (1530-1550) mit Philippe Verdelot (1490-1552), Costanzo Festa (1480-1545), Jacques Arcadelt (1500-1568), Adrian Willaert (um 1480-1562) und Cyprian de Rore (1516-1565). Vierstimmig, homophon und polyphon gemischt, durchkomponiert, meist im geraden Takt.
Das klassische Madrigal (1550-1580) mit immer noch Adrian Willaert und Cyprian de Rore, außerdem Orlando di Lasso (1532-1594), Philippe de Monte (1521-1603), Giovanni Perluigi da Palestrina (um 1525-1594), A. Gabrieli (1510-1586) und B. Donato (um 1530-1603). Fünfstimmig, textinspirierte Ausdruckskunst, die als natürlich empfunden wurde, dabei manieristische Züge (Tonmalereien, Vogelstimmen, Hühnergegacker, Glockenklänge, Schlachtenlärm, sogar "Augenmusik").
Das späte Madrigal (1580-1620) mit Marenzio, Gesualdo, de Wert, Luzzaschi, Monteverdi (s. o.). Nochmalige Steigerung der Textausdeutung, Überhäufung mit "Madrigalismen", z. B. plötzliche Rückungen in entfernte Tonarten als Ausdruck für die Ferne der ersehnten Hilfe, Pause als fragender Ruf in die Leere, "morire" mit starker Chromatik, rasche Aufwärtsläufe als Flammen (der dtv-Atlas führt hier Notenbeispiele aus Dolcissima mia vita (Gesualdo) an).
Das Madrigal wurde allmählich auch außerhalb Italiens populär, ich erwähne hier nur (Quelle: Wikipedia): Heinrich Schütz (1585–1672) (vgl. Heinrich Schütz: Il primo libro de Madrigali (1611) – SWV 1–19), Hans Leo Haßler (1564–1612), Johann Hermann Schein (1586–1630), William Byrd (1543–1623), John Dowland (1563–1626), Orlando Gibbons (1583–1625), Thomas Morley (1557–1602).
Das soll fürs Erste genügen.
:wink1: