Wann kann man von einem Musikgenie sprechen - der Versuch einer offenen Diskussion

  • Wann kann man von einem Musikgenie sprechen - der Versuch einer offenen Diskussion

    Im laufenden Richard Strauss - Thread hat sich eine Diskussion entsponnen, die aus meiner Sicht diesen Thread sinnvoll erscheinen lässt.

    Gemäss meiner laienmässigen persönlichen langjährigen Hörerfahrungen bringe ich hier 3 Kriterien, die ein Musikgenie für mich gleichzeitig mindestens erfüllen muss als Diskussionsgrundlage:


    Ausserordentliche Fähigkeit beim Komponieren (auch, was die Komplexität betrifft)

    und

    Entwicklung bzw Vervollkommnen neuer Kompositionstechniken oder musikalischer Richtungen

    und

    Schaffung von nachhaltigen immergrünen Werken


    Ich bin mir klar: Dieser Thread kann zu hitzigen Debatten führen.

    Bitte, bitte, bitte dabei sachlich bleiben :)

    ... Alle Menschen werden Brüder.
    ... We need 2 come 2gether, come 2gether as one.
    ... Imagine there is no heaven ... above us only sky

  • Ich finde Deine Kriterien gar nicht schlecht. Allerdings wundert es mich, dass Du sie so formulierst, denn Du stellst Komponisten der klassischen Musik normalerweise durchaus auf eine Stufe mit denen der sogenannten Populärmusik, obwohl das technische Element in der Klassik unbestreitbar komplexer ist. Oder habe ich das falsch verstanden?

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • auf den ersten Blick bin ich geneigt, dem Katalog zuzustimmen.
    Nur: wie wird "immergrün" definiert? Hat das ein Verfallsdatum? Oder einen Mindestbekanntheitsgrad? Mit anderen Worten: Wie grenzt man das von "mainstream" ab? (Wie "immergrün" wäre ars nova?). Und wie bewerten wir das für die zeitgenössische Entwicklung? Das wäre dann gar nicht möglich, weil wir ja nicht wissen, ob heutige Erfolge immergrün bleiben. Umgekehrt: was ist mit denjenigen, die über Generationen im Repertoire waren, heute aber aus welchen Gründen auch immer nicht mehr aufgeführt werden? Und schließlich: was hat musikalische Genialität mit dem Bekanntheitsgrad zu tun? Der hängt ja schließlich UND-verknüpft noch von ganz anderen und z.T. äußerst trivialen Kriterien ab.
    Und welche neuen Kompositionstechniken oder neue musikalischen Richtungen haben z.B. JSB, GFH oder Gesualdo entwickelt? Was ist mit jenen, die so etwas zu einem Abschluß geführt haben? Waren die Mitglieder der Mannheimer Hofkapelle in dieser Hinsicht "genialer" als die Genannten?
    Also: je nachdem, wie man die Kriterien 2 und 3 in der vorgeschlagenen Wortwahl betrachtet, fällt da ganz schön viel aus dem Raster...
    Ich glaube, da muß man nochmal nachschärfen...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Zudem viele Werke jahrhundertelang vergessen waren und auf einmal unglaubliche Popularität erreichten, etwa die vier Jahreszeiten. Da spielen sehr viele Zufälle eine Rolle und auch historische Umstände. Und "Vervollkommenen" aus Punkt 2 ist natürlich auch eher ein weiches Kriterium. Schwierig, schwierig.....

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Ich fände es gut, wenn die Diskussion schlichtweg an MUSIK an sich ohne irgendwelche Vorabfilterungen läuft ...

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  • noch ein Nachtrag:
    Der Geniebgriff ist als solcher nicht ganz unproblematisch.
    wollt' ich nur noch mal darauf hinweisen.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Ich fände es gut, wenn die Diskussion schlichtweg an MUSIK an sich ohne irgendwelche Vorabfilterungen läuft ...


    Naja: Dein Katalog IST ein Filter...

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • noch ein Nachtrag:
    Der Geniebgriff ist als solcher nicht ganz unproblematisch.
    wollt' ich nur noch mal darauf hinweisen.

    ... ich weiss, deshalb auch mein Hinweis mit der hitzigen Diskussion.

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  • Lt. Wikipedia

    Zitat

    Ein Evergreen ist ein beliebtes Musikstück, dessen Veröffentlichung mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegt und das dennoch von den Medien häufig gespielt und von den Hörern gerne gehört wird.

    Somit gäbe es nach Deiner Definition keine Genies z.B. in der Renaissancemusik (mit der Neuen Musik gäbe es auch einige Probleme).

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • genau das meinte ich!
    :cincinbier:

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • ... immer wenn ich Bachs Air oder Toccata und Fuge d-Moll oder .... , oder aber auch Beethovens Pastorale oder Choral und... höre denke ich: Man hört schon aus welcher Zeit diese Musik stammt, aber dennoch klingt sie so frisch als wenn sie gerade eben entstanden ist. Ich weiss, das ist ein Wiederspruch, aber ich empfinde es einfach so.

    Ich denke mal viele andere Laien empfinden ähnlich. Wenn man bedenkt, dass da bis zu ca 300 Jahre verstrichen sind glaube ich dabei schon an eine epochenübergreifende Nachhaltigkeit, die sich für Werke dieser Art wahrscheinlich auch nicht mehr ändern wird.

    Mit dem dritten Satz der Choral und mit dem zweiten Satz des fünften Klavierkonzertes, aber auch mit Kompositionen wie "Elegisches Lied" oder "Meeresstille und Glückliche Fahrt" hat Beethoven die "Romantik" auf den Punkt gebracht, auch wenn man diese Musik epochenmässig noch nicht so richtig als "Romantik" einordnet.

    Damit fallen für mich letztendlich beispielsweise Wagner und Mahler als mögliche "Vollender" der Romantik aus.

    Die nach der Romantik folgenden "klassischen" Kompositionstechniken und Musikrichtungen bieten zwar interessante Neuerungen, nur haben die wirklich zu vom Laien wahrgenommenen immergrünen Werken ("die man von den Dächern pfeifen kann") geführt?

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  • Die nach der Romantik folgenden "klassischen" Kompositionstechniken und Musikrichtungen bieten zwar interessante Neuerungen, nur haben die wirklich zu vom Laien wahrgenommenen immergrünen Werken ("die man von den Dächern pfeifen kann") geführt?

    Also, ich bin ein Laie und vieles von Bartók wird für mich immer grün bleiben, auch wenn man´s nicht von den Dächern pfeiffen kann. Ich weiß auch nicht, ob man legendäre Jazz-Alben wie "Kind of Blue" nachpfeiffen kann. Ich kann´s jedenfalls nicht.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • denke ich: Man hört schon aus welcher Zeit diese Musik stammt, aber dennoch klingt sie so frisch als wenn sie gerade eben entstanden ist. Ich weiss, das ist ein Wiederspruch, aber ich empfinde es einfach so.

    das ist jetzt aber eine Frage Deiner Musiksozialisierung und weniger eine der Musik an sich bzw. deren Komponisten. Es gibt wohl nicht wenige Menschen, die damit überhaupt nichts anfangen können - mindestens fehlt des Schagzeug und der rumpelnde Bass... ;)

    Ich bin mir auch nicht sicher, ob "Genialität" nicht ohnehin eine überwiegend im deutschen Kulturkreis vorkommende Kategorie und dort ein Relikt der Romantik ist.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Lt. Wikipedia

    Somit gäbe es nach Deiner Definition keine Genies z.B. in der Renaissancemusik (mit der Neuen Musik gäbe es auch einige Probleme).

    Insbesondere was die Vor-Bach-Musik betrifft gibt es hier in der Tat eine Unschärfe,

    allerdings kann man noch sagen:

    Bach hat vollendet...

    (Abgesehen davon: Was gibt es nicht für herrliche Sachen von Thomas Thallis, Claudio Monteverdi, Orlando Di Lasso ...)

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  • das ist jetzt aber eine Frage Deiner Musiksozialisierung und weniger eine der Musik an sich bzw. deren Komponisten. Es gibt wohl nicht wenige Menschen, die damit überhaupt nichts anfangen können - mindestens fehlt des Schagzeug und der rumpelnde Bass... ;)

    Ich bin mir auch nicht sicher, ob "Genialität" nicht ohnehin eine überwiegend im deutschen Kulturkreis vorkommende Kategorie und dort ein Relikt der Romantik ist.

    selbige Klangeffekte dürfen aber, wenn es passt, aber durchaus vorhanden sein :jaja1:

    Dennoch: Bei den "populären" Sachen bevorzuge ich in der Regel mehr balladeske Sachen. Und die haben auch eine andere Art von "groove". :)

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  • Also mal Butter bei die Fisch: Bach ist Deiner Meinung nach ein Genie, aber Monteverdi nicht?

    Zugegeben: Mit dem bisschen Musik, was ich von CM kenne kann ich die 3 Kriterien nicht konsequent durchexerzieren.

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  • Ich bin mir auch nicht sicher, ob "Genialität" nicht ohnehin eine überwiegend im deutschen Kulturkreis vorkommende Kategorie und dort ein Relikt der Romantik ist.

    Das scheint mir auch so. Zumindest gehört zu meinem Verständnis von Genialität ein Vermögen des Komponisten (um mich auf die Musik zu beschränken wie hier vorgegeben), das über gewöhnliche Hochbegabung weit hinausreicht. Komponisten, die Hervorragendes hervorgebracht haben, hat es zu allen Zeiten gegeben, in denen es Kompositionen gab unbd gibt (Musik gibt es natürlich schon weit länger), das müssen aber nicht alle Genies sein.

    Genies wären demnach Komponisten, deren Kunst in Sphären reicht oder sogar aus ihnen stammt, die dem gewöhnlichen Verstand nicht zugänglich wäre. Wieweit man diese Sphären religiös konnotiert, ist dabei offen, vielleicht geht es auch um eine philosophisch bestimmbare welt der Transzendenz.

    Wenn man die Existenz solcher Sphären bestreitet, betrifft das natürlich auch die Existenz von Genialität und Genies. Diese wären dann doch eben nichts weiter als herausragende Künstler, aber das ist immerhin auch nicht wenig.

    Ich wüßte nicht, wie man diesen Geniebegriff, der im 19. Jahrhundert wohl seinen Höhepunkt hatte, sonst in die Gegenwart übertragen sollte. Ohne Religion oder Metaphysik geht's nicht. Mit dem Aufstellen von Kriterienkatalogen kommt man da m. E. nicht weiter.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

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