Händel : Il trionfo del tempo e del disinganno Opéra de Lille 21.1.2017

  • Händel : Il trionfo del tempo e del disinganno Opéra de Lille 21.1.2017

    1.TEil

    Il Trionfo del Tempo e del Disinganno
    [Le Triomphe du Temps et de la Désillusion]
    Oratorio en deux parties de Georg Friedrich Haendel (1685- 1759)
    Livret du cardinal Benedetto Pamphili
    Créé en 1707 à Rome

    Direction musicale Emmanuelle Haïm
    Mise en scène Krzysztof Warlikowski
    Assistante à la mise en scène Marielle Kahn
    Décors et costumes Malgorzata Szczeniak
    Dramaturge Christian Longchamp
    Lumières Felice Ross
    Chorégraphie Claude Bardouil
    Vidéo Denis Guéguin


    Avec
    Bellezza Ying Fang
    Piacere Franco Fagioli
    Disinganno Sara Mingardo
    Tempo Michael Spyres

    Le Concert d’Astrée
    en résidence à l’Opéra de Lille

    Ich hatte gestern Abend das grosse Glück diese Aufführung zu erleben. Es handelt sich dabei um ein sehr selten gespieltes Werk, obwohl es musikalisch ein Riesenwurf des 22Jährigen ist und später noch zweimal überarbeitet wurde, mit 52 und 72 Jahren, also offenbar wichtig für Händel war. Emmanuelle Haïm, bekennende Händelianerin und eine der grossen Spezialistinnen unserer Zeit, hat sich bereits zu Beginn ihrer Karriere des Werkes angenommen und lobt überhaupt Handels Jugendwerk im italienischen Stil in höchsten Tönen- Gottseidank kann ich nur sagen, denn so kam ich hier schon in den Hochgenuss der Resurrezione, diverser Kantaten, Delirio amoroso etc. Was für ein Schwung und Elan, was für herrliche Melodien. :sofa1: Alles aus einem Guss. Und dazu eine der berühmtesten und ergreifendsten Händelarien überhaupt "Lascia la spina" , eher bekannt als "Lascia ch'io pianga" recycelt für die Oper Rinaldo. Wobei ich zugegebenermaßen letztere Version vom Sopran gesungen vorziehe, aber die gestrige Counter-Version war trotzdem auch ein Highlight.
    Woran liegt es, dass dieses grandiose Werk nicht in den Händelolymp aufstieg? Weil er zuviele
    noch grandiosere Werke geschrieben hat? Oder liegt es am Libretto und am Mangel an Bühnenaktion?

    Das Thema ist eine typisch barocke Allegorie wie wir sie auch von Lully und Monteverdi kennen. Die Schönheit (Sopran), tut sich mit der Lust (Counter) zusammen, um das Leben und insbesondere die Jugend in vollen Zügen zu geniessen. Als Spassbremsen treten die Zeit (Barytonaler Tenor) und die Desillusionierung (im Sinne von Erkenntnis der Wirklichkeit des Lebens, Contralto) auf, die auch als ElternFiguren in einem Generationenkonflikt durchgehen können. Da ein römischer Kardinal das Libretto geschrieben hat, bekehrt sich am Ende die Schönheit zur Wahrheit und gibt der Lust den Laufpass, um im Schoss der heiligen Kirche ihr Glück zu finden. Dieses teilweise unerträgliche Moralgetriefe lässt sich heute natürlich nur gebrochen vermitteln und auch wenn die Musik phantastisch ist, muss unbedingt ein talentierter Regisseur her (oder man belässt es gleich bei der CD).
    Der polnische Regisseur Warlikowski und sein Team haben in Aix en Provence und Lille eine sehr eigenwillige Lösung gefunden, die überrascht aber funktioniert, auch wenn ich Einiges zu Fragen bzw zu kritisieren habe.
    Die Bühne ist ein Kinosaal mit grauen Plüschsesseln, in der Mitte getrennt von einem mehrfach gebrochenen langezogenen Glaskasten in dem die Figuren ein und ausgehen können. Am Anfang sehen wir ein Video, in dem die Sänger bereits mitmischen. Bellezza ist eine blutjunge sehr attraktive Chinesin, die man in einem Nachtclub tanzen und Drogen nehmen sieht ,per Kussaustausch von Mund zu Mund mit der Lust und einem wichtigen Statisten, junger Apoll bzw Michelangelo-David und Liebhaber der Bellezza- die Sänger zeigen hier bereits ihr Schauspieltalent und ihre Hingabe an das Regiekonzept. Ein Überdosis Drogen führt zum Tod des Lovers und zur Krankenhauseinweisung von Bellezza, man sieht dann schon die Eltern, Tempo und Disinganno, im kleinbürgerlichen Bürokratenlook besorgt Betten schieben. Das alles ist sehr suggestiv und könnte heute Abend in Berlin oder Paris oder sonstwo passieren.
    Bellezza ist zwar während der gesamten Aufführung sichtbar ein gesundheitliches Wrack mit Riesenringen unter den Augen, regelmässigem Erbrechen, Ansatz zu Magersucht etc, aber ihr rebellischer Geist lässt sich nur schwer und eigentlich gar nicht, brechen. Ihrer Schönheit tut all das keinen Abbruch und das Casting der chinesischen Sopranistin Ying Fang ist ein seltener Glücksfall. Nicht nur dass sie eine Stimme wie ein warmer heller Sonnenstrahl hat und alle virtuosen Hürden der Partie perfekt beherrscht, sie verkörpert auch die dunkle fragile Schönheit der Verzweiflung ganz realistisch und macht auch noch im winzigen Slip eine Topfigur. Chapeau ist da viel zu wenig gesagt, sie war die Entdeckung des Abends für mich :verbeugung1: :verbeugung1: :verbeugung1:
    Die Lust ist ein halsbrecherischer Counter mit etwas schmierigem Mafia-Flair, der mit allen Mitteln versucht, die Schönheit an sich zu binden und die unglaublichsten Koloraturen singt und das von der Sopran bis zur Basstessitura. Franco Fagioli in einer Traumrolle, auch hier ideales Casting; zu Handels Zeiten wahrscheinlich eine renommierte Kastratenpartie. Die Zeit ist ein nicht viel weniger virtuoser, eher tiefer Tenor und als Rolle cholerisch unsympathisch, da totale Spassbremse und dazu noch ziemlich gemein. Er beschreibt in leuchtenden Farben die Verwesung aller Schönheit und fragt Bellezza, was von ihren Ahnen in den Urnen übriggeblieben sei. Die Zeit fühlt sich als Alleinherrscher und Patriarch und führt sich auch so auf. Michael Spyres lässt keine Wünsche offen, er füllt die Rolle mit vokaler und leiblicher Fülle aufs Beste aus.
    Was die Enthüllung der Wahrheit (disinganno) angeht: ich habe Sara Mingardo überhaupt nicht wiedererkannt so gut war sie verkleidet und mit ihrer ebenfalls sehr unsympathischen Rolle identifiziert. Ihr Alt hat an Volumen gewonnen und nun eine samtene Fülle, eine umwerfend schöne Stimme, die leider nicht so viel zu tun hatte, wie die drei Anderen, ich könnte ihr stundenlang zuhören. :rolleyes: <3
    Sehr schöne Arien ohne viel Brimborium, die die Stimme in ihrer ganzen Pracht zeigen. sie versucht mit Sarkasmus und sanftem Sadismus Bellezza zum Umkehren zu bewegen und betont immer wieder, dass Jugend und Schönheit angesichts der Ewigkeit wertlos seien und das Heil in der (göttlichen sprich katholischen) Wahrheit liege. Dabei sitzt sie im 50iger Jahren Tippsenlook an einer Schreibmaschine, während Zeit offenbar ihr Bürochef ist. Immer wieder sehen diesem Spektakel diverse Frauen aller Kuturen und in Partygewandung zu, Statistinnen jeder Hautfarbe, junge schöne Frauen die auf den Kinositzen Platz nehmen, eine Weile bleiben und wieder gehen. Auch der eigentlich tote David-Apoll taucht mehrfach wieder tanzend im Glaskasten auf, einmal in angedeuteter Christuspose. Bellezza wechselt sogar die Kleider mit ihm und statt im Partkleid ist sie eine Weile in Jeans und Shirt auf der Bühne, um später wieder ins Partykleid zu schlüpfen,während er nur noch mir einem Slip bekleidet als Augenweide weitertanzt.
    Während der gesamten Aufführung steht ein Krankenhausbett auf der Bühne und eine Krankenschwester schiebt es ab und an mit Bellezza oder dem David (am Ende splitternackt und dann mit Totenlaken ganz bedeckt) hinaus und hinein. die Schönheit und die Lust sind ständig vom dekadenten Tode bedroht, während sich Zeit und Wahrheit bester spiessiger Gesundheit erfreuen.
    Vor der Pause gibt es einen Einschub, den ich nicht verstehe: ein Interview mit Jacques Derrida, bei dem er gefragt wird "Glauben Sie an Geister?" Und er sinngemäss antwortet, dass das Kino eine Geisterbeschwörung sei und er daher an Geister glaube. Was das in dieser Aufführung soll ,ist mir nicht klargeworden, auch wenn die Kinometapher durch das Bühnenbild und die Statisten präsent war.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • 2.Teil

    Warlikowski erlaubt sich ein Ende gegen die Musik und gegen das Libretto und das ist nur gut so. Bellezza bekehrt sich schließlich scheinbar zur Wahrheit und entsagt der Lust (ihr David ist eh tot....und man sieht nur noch kurz seine prachtvolle Nacktheit ehe er mit Leichentuch bedeckt hinausgeschoben wird). Sie legt ihr Miniminipartykleid ab, und bekommt ein weisses braves Puppenkleid angezogen, dem auf der Brust in Gold das katholische Monstranzzeichen prangt, dazu eine weisse Blütenkrone und einen Rosenkranz. Bellezza cattolica , weiterhin mit dunkelrotem Lippenstift und den schwarzen Augenringen. Aus Trotz steckt sie sich eine Zigarette an und schließlich schneidet sie sich die Pulsadern auf, oder wird stigmatisiert, mir war das nicht ganz klar, aber ich habe schließlich verstanden, dass sie Resistance-Suizid begeht. All die anderen StatistenFrauen sind dann am Ende mit dieser Märtyrerin der Anti-Bekehrung auf einem Video zu sehen. Wieder sehr suggestiv und wie aus den Abendnachrichten .
    Der Regisseur hat sich im Interview sehr kritisch zur Unterdrückung der Frau in der katholischen Kirche geäussert und auch zur Zwangseinweisung von Mädchen in Klöster sowie der Verteufelung von weiblicher Schönheit und Sexualität, all das spielt mit Sicherheit in seine Interpretation hinein.
    Angesichts eines moralinsauren Librettos hat er eine m.E. weitgehend überzeugende und sehr suggestive Interpretation geliefert, die dank eines hervorragenden Casting 100% funktioniert hat. Die Kinogeschichte hätte er gar nicht gebraucht aber was soll's..... Ich persönlich fand die Allegorien sehr zeitgemäss umgesetzt und habe mir dann Gedanken gemacht was Schönheit plus Wahrheit aber ohne Güte/Liebe überhaupt sein können. Das Libretto lässt diese dritte und entscheidende Komponente leider total aus- sie wäre die Lösung allen Übels gewesen, an die ein Kardinal Pamphili aber anscheinend nicht gedacht hat......
    Ein bisschen Mitgefühl und Agape hätten die Wahrheit so entschärft und versüsst, dass die Schönheit nicht den Tod vorgezogen hätte. Weshalb nur zwei der antiken Kardinaltugenden hier vorkommen, die 3. und eigentlich Urchristliche aber nicht, ist rätselhaft und dann auch wieder nicht. Verteufelung und Dualisierung konnten nur ohne Güte funktionieren.
    Was die Musik angeht, kann ich mich nur in Lobeshymnen ergehen. Ich hätte nie gedacht, dass es sich um ein Jugendwerk handelt. Gespielt wurde die allererste Version von 1707. Der Kardinal war wohl ein grosser Fan von Händel und das evtl nicht nur ganz keusch. Die Lobeshymne, die er im Libretto integriert und die der Counter als Lob des Musikers tiriliert, enthält sogar Orgelsoli- einfach klasse! (Und megafetzig @ Amfortas) Zum Concert d'Astrée und seiner temperamentvollen Chefin, einer reiferen Bellezza, schreibe ich hier im Forum ja regelmäßig und weiss nicht, was es da noch mehr zu sagen gäbe, als dass sie einfach für diese Musik geschaffen wurden und sich dessen immer wieder würdig zeigen. Keine Ahnung, ob es schon irgendwo Ausschnitte zu sehen gibt, wenn ja, bildet euch bitte selbst ein Urteil.
    Ich bin jedenfalls enchantée und habe einen sensationellen Händelabend erlebt.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Liebe Maria,

    Vielen Dank, dass Du uns an Deinen Erlebnissen hast teilhaben lassen.

    das klingt nach einer etwas rätselhaften szenischen Aneignung, aber einem tollen musikalischen Erlebnis. Ich finde die römische Version auch außerordentlich gelungen, das überbordend-musikalische Sprudeln großartiger Musik ist toll. Schön, dass das Stück so gelungen aufgeführt wurde. Wann traut sich in München mal wieder an szenischen Händel?

    LG Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)

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