Ich stelle fest, daß auch ein Smartphone durchaus dazu in der Lage ist, aus dem Stehgreif Ausziehrungen vorzunehmen. Leider nicht besonders gute, da sie den Text nicht verständlicher machen und so das eigentliche Werk unterstützen.
Doch zurück zum Thema:
Die herausragendsten notierten freien Verzierungen (z.B. die Methodischen Sonaten von Telemann oder Corelli op.5 in der Fassung der eminent Masters) halte ich keineswegs für ein Abbild der Musizierpraxis. Vielmehr eben für lehrreiches Exempel, was möglich ist.
Meine Vermutung gründet sich auf die Beobachtung, daß die gegebenen Beispiele und Möglichkeiten (die einem Setzbaukasten gleichen) in den entsprechenden Instrumentallehrwerke der Barockzeit (am bekanntesten sicher Quants, Versuch einer Anleitung), wesentlich knapper und auch näher am ursprünglichen Notentext gehalten sind. Diese Elemente und Floskeln sind auch so ausformuliert, daß sie wirklich in Reihe letztbar sind und wie Repertoire an Möglichkeiten für den (kompositorisch) weniger begabten Instrumentalisten dienen können.
Die oben erwähnte Beispiele dagegen sind fast schon eher ambitionierte kompositorische Ausarbeitungen der zugrunde liegenden "einfachen" Melodie. Ich möchte damit nicht sagen, daß diese nicht aus dem Stegreif möglich wären, zumal ja damals ein Musiker nur in diesem Stil seiner Zeit unterwegs war. Ich würde aber behaupten wollen, daß sie nicht die Regel waren, noch nicht einmal allzeit verbreitet waren.
Vielleicht kann man die heutige Parallele bei Orgelimprovisationen sehen: auch da gibt es herausragend gute, wirklich freie Improvisationen, aber viel eher hört man doch Improvisationen, die sich an Stereotypen orientieren