Hermann Scherchen- der "Wüstling"

  • Scherchen war ein Mythos. Es wurde eine zeitlang verbreitet, dass man Beethoven nicht anders spielen und auch hören dürfe als in den Interpretationen von Scherchen. Allerdings legte man sich nicht so ganz präzise fest, welche Interpretationen denn nun gemeint waren. Und beim näheren Hinsehen und Hinhören stellte sich heraus, dass Scherchen nicht nur sehr viel sondern auch öfters die gleichen Werke auf Tonträger dokumentiert hat - und es gibt selbst bei Beethoven die riesigen Unterschiede, die andere hier schon benannt haben. Vieles an Scherchens Beethoven überzeugt - auch bei ganz unterschiedlicher Herangehensweise. Aber es stimmt einfach nicht, dass er Beethoven stets exakt nach den Metronomangaben gespielt habe - es sei denn, er habe die Metronomangaben jedesmal anders interpretiert.

    Dass Beethoven nur à la Scherchen "richtig" sei wurde meiner Ansicht nach hauptsächlich aus einer einzigen Richtung vertreten, nämlich der, die in den beiden Musikkonzepte-Bänden zu Beethovens Tempi dominiert. Und als der erste von denen (Bd. 8, 1979, der zweite Bd. 76/77 ist anscheinend von 1992) herauskam, gab es praktisch nur Leibowitz und Scherchen unter Sinfonie-Aufnahmen, die sich (grosso modo) an den Metronomangaben orientierten. Man hat da sicher auch etwas polemisch übertrieben, nicht zuletzt weil die weitaus verbreitetere Ansicht gewesen sein dürfte, dass man Beethoven am besten wie Furtwängler (oder gar wie Karajan) spielen sollte und dass die Metronomangaben eh Blödsinn wären. (Abgesehen davon gibt es vermutlich kaum einen Text von H. K. Metzger, der nicht aggressiv oder polemisch bis zum Abwinken ist...). In der Praxis waren Scherchens Aufnahmen oft eher Geheimtips, weil die Westminster-Aufnahmen oft jahrelang gar nicht zu kaufen waren (bzw. sind).

    Zitat

    In Liveaufnahmen von unauffälligem traditionellem Repertoire kann man auch einen ungemein schlampigen Dirigenten hören: z.B. Mozart Serenaden und die A-Dur Sinfonie KV 201 aus Prag - diesmal mit einem hervorragenden Orchester, das er bei bei seinen Studioproduktionenin der Regel nicht zur Verfügung hatte. Die in vier Sätzen brutal gekürzte, im Adagietto aber extrem überdehnte Aufnahme von Mahlers Fünfter ist bereits genannt worden. Aber auch seine Studioaufnahmen der Concerti grossi von Händel sind schlicht unsäglich langweilig, ganz zu

    Alos die Händel-Concerti mag man eigenartig finden. Langweilig im Sinne von routiniert oder lustlos runtergespielt sind sie ganz sicher nicht. Etliche Tempi sind für heutige Verhältnisse seltsam (oft recht langsam), aber ich finde hier sehr viel faszinierend und sehr intensiv musiziert. Natürlich weder in Linie mit dem etwas später aufkommenden "spritzigen" Kammerstil der Art Marriners oder Leppards noch mit den HIP-Einspielungen ab den 1970ern.

    Die Studio-Mahler-5. ist komplett, relativ "zahm" und mit normalem Tempo im Adagio.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Scherchens Aufnahme von Beethovens Dritter aus dem Jahren 1958 ist so berühmt wie schwer erhältlich. Irgendwann hatte ich Glück und sie war mein (jemand hatte sie günstig gebraucht angeboten). Jetzt hatte ich Gelegenheit, diese Aufnahme in der HDTT-Fassung zu hören. Nach wenigen Takten bereits war ich verblüfft. Berserker, entfachter Sturm und ähnliches mehr waren auch in meinen die Westminster-Fassung gewohnten Ohren die richtigen Beschreibungen. Die HDTT-Fassung hingegen klingt (u. a.) deutlich weicher, viel weniger berserkerhaft. Lohnt sich, mal reinzuhören, wenn man die Gelegenheit hat. Hier ein link zu einer Rezension:
    https://classicalcandor.blogspot.de/2010/11/beetho…dcd-review.html

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!