Zu den Libretti in der Opern-/Musikgeschichte – Beispiel: Goethe

  • Wenn man sich mit dem Wert von Opernlibretti befaßt, ganz besonders in bezug auf das Zeitalter Goethes, kommt man nicht umhin, Ignaz von Mosels Versuch einer Aestethik des dramatischen Tonsatzes (1813) zu Rate zu ziehen, der bereits auf dem Frontispiz Goethe zitiert. Dort findet man 20 Seiten Ueber die dramatisch-lyrische Poesie, aus denen sich ganz gut Kriterien gewinnen lassen können. ;)

    Alles, wie immer, IMHO.

  • kommt man nicht umhin, Ignaz von Mosels Versuch einer Aestethik des dramatischen Tonsatzes (1813) zu Rate zu ziehen,

    online hier:

    http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/…9107_00001.html

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    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Das scheint mir ein guter Tipp - ich hoffe, er ist auch gut gemeint. Jedenfalls danke Euch beiden! Ich hoffe, ich kann bei Zeiten mal reinschauen.

    Das besagte Goethe-Zitat scheint mir auch mal wieder das Spiel von Gegensätzen wiederzugeben. Goethe selbst hat übrigens zur Beurteilung von Opern gesagt:

    Zitat

    Der Text einer Oper gehört unter die Dichtungsarten, welche sehr schwer zu beurtheilen sind [...]. Man hat sie in Bezug auf Musik, den Componisten, die Bühne, das Publikum zu betrachten, ja sogar auf kurz vorher gegebene und andere bekannte Opern Rücksicht zu nehmen.


    Teilweise sind ja gar nicht mehr alle Opern des 18. Jahrhunderts für uns rekonstruierbar, und wer von uns kennt schon beispielsweise alle Schikaneder Opern (also nicht nur vom Namen her)? Dennoch darf man vielleicht trotzdem, auch ohne den Versuch von Ignaz von Mosel zu kennen, die künstlerischen Stärken von Opernlibretti würdigen und darauf hinweisen, dass Opernlibretti im Allgemeinen (aus meiner Sicht :) :) :) ) unterschätzt sind, was sich auch in der Bedeutung für die "Faust"-Dichtung zeigt.

  • Und natürlich wird Libretti (wie ich es formuliert habe, ganz häufig) ein literarischer Wert abgesprochen - dazu muss man nur mal einen Blick in die Sekundärliteratur werfen.

    erstens: was bedeutet "ganz häufig"? In Deinem Eröffungsbeitrag schreibst Du "ja fast schon in der Regel". Dann möchte ich wissen, von wem. Du erwähnst die Sekundärliteratur. Die Sekundärliteratur über Opern wird in der Regel nicht von Literaturwissenschaftlern verfaßt. Zum Beispiel: Musikwissenschaftler haben regelmäßig den literarischen Wert der Werke Wilhelm Müllers angezweifelt. In letzter Zeit haben sich mehr Literaturwissenschaftler damit beschäftigt und kommen auf viel differenziertere Schlüsse.

    Du sprichst von Libretti im allgemeinen. Wenn man sich nur auf Mozarts Zeit und nur auf komische Opern beschränken möchte, fände man einen Gottlieb Stephanie und einen Carlo Goldoni, der im Pantheon der italienischen Dichter einen Platz beanspruchen kann. Wenn man den Zeithorizont erweitert und andere Teile der Opernliteratur betrachtet, wird das Spektrum unüberschaubar.

    Keiner, ich sage keiner, wird Goldoni, Maeterlink, d'Annunzio (Parisina), Čapek, Quinault, Cocteau (le pauvre matelot, la voix humaine) ... ihren literarischen Wert streitig machen.

    Dann kommt wieder die Frage nach den Kriterien. Wie wird der literarische Wert eines Opernlibrettos anerkannt? Wie gesagt, darüber sollen sich Literaturwisschenschaftler äußern.
    Nehmen wir ein anderes Beispiel: Geschichte. Geschichte ist lange als literarische Kategorie betrachtet worden. Der literarische Wert eines Michelets, eines Mommsens (immerhin Literaturnobelpreisträger), eines Stefan Zweigs, eines André Maurois ist unangefochten. Von den Geschichtswissenschaftlern werden sie nicht immer so positiv geschätzt.

    Opernlibretti als selbst hat man (womöglich mit der Ausnahme Italiens) nicht als literarische Kategorie betrachtet. Könnte wohl heißen, daß man denen keine oder eine geringe literarische Bedeutung beigemessen hat, nicht daß man ihren Wert nicht anerkannt hat (s. z.B. Quinault und Goldoni).

    Und wie gesagt, kann man bei Goethe betrachten, wie er seine Überlegungen über Opernlibretti praktisch umgesetzt hat: Ran an Claudine von Villa Bella!

    Alles, wie immer, IMHO.

  • ohne den Versuch von Ignaz von Mosel zu kennen

    Vielleicht ist es nötig zu bemerken, daß bei Mosel das Wort "Versuch" in dieser Akzeptanz die Übersetzung des französischen Essai ist.
    Mosels Werk ist in modernem Deutsch ein Essay.
    Und ja, der Tip ist gut gemeint. Laut Wikipedia

    Zitat

    Mosel war eine der einflussreichsten Persönlichkeiten im Musikleben des vormärzlichen Wien.

    Dazu war er (1772-1844) ein Zeitgenosse Goethes.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • Tja.. mhmm... ich sammle zu Hause leider keine Anti-Libretti-Fraktion-Zitate aus denen ich zitieren könnte, aber Forschungsüberblicke zeigen mir (hier wäre auch nochmal Gier interessant), dass das Libretto einen schlechten Stand hat.

    - Arthur Groos "Libretto-bashing has a distinguished tradition in the blood sport of opera"
    - Arthur Groos sieht in der Trennung von Dichter und Librettist eine "Ghettoisierung der Librettisten" durch die Romantisierungsbewegung verbunden mit der Intention die Musik aufzuwerten
    - Carl Dahlhaus "Der Librettist ist der Sündenbock der Operngeschichte"
    - Attila Csampai "Während beim "Freischütz", beim "Troubadour" (man könnte auch Verdis "Die Macht des Schicksals" hinzuzählen) sich die meisten Kritiker inzwischen einig geworden sind, dass die Libretti literarisch wie dramaturgisch gewisse Mängel nicht verleugnen können, jedoch die musikalische Qualität dieser Opern es (allein) rechtfertige, dass sie weiterhin aufgeführt werden, verläuft die Beurteilung des "Zauberflöten"-Textbuches von Anfang an kontrovers und ist bis heute nicht entschieden."

    Auch das Desinteresse der Literaturwissenschaft an Libretti leitet sich (unter anderem) auch über eine weit verbreitete Geringschätzung her.
    Die Trennung von "Dichter und Librettist" oder auch das "literarische Werte" vom Libretto nicht angestrebt werden würden, ist ja auch hier in Kommentaren eine Position und kann man an einigen Stellen auch bei Dir so lesen.

    Zitat von Philbert

    Deshalb wird ein literarischer Wert gar nicht erst angestrebt.


    Naja, und bezüglich dem hier:

    Zitat von Philbert

    Und wie gesagt, kann man bei Goethe betrachten, wie er seine Überlegungen über Opernlibretti praktisch umgesetzt hat: Ran an Claudine von Villa Bella

    Hier finde ich die "Zauberflöte II" von Goethe ein schönes Beispiel und sehr anregend – ich war sehr begeistert von der Symbolik, die ja auch sehr in der Operntradition steht und in diesem Medium vielleicht sogar noch besser Wirken kann als im gesprochenen Drama.

  • Daß ein literarischer Wert nicht angestrebt wird, heißt lange noch nicht, daß er nicht vorhanden ist.
    Siehe z.B. Buffons Histoire naturelle oder Delacroix' Tagebuch.

    Goethes Fortsetzung der Zauberflöte ist Fragment geblieben. Neben Claudine von Villa Bella gibt es ein weiteres interessantes Stück, eben Die Zauberflöte, aber diesmal in der sogenannten Weimarer Version. Zwar wurde der Text hauptsächlich von Christian August Vulpius revidiert, Goethe selber hatte als Regisseur einen gewaltigen Anteil ab der Bearbeitung.

    Alles, wie immer, IMHO.

  • - Carl Dahlhaus "Der Librettist ist der Sündenbock der Operngeschichte"

    Ich weiß nicht, wo und in welchem Zusammenhang dieser Satz bei Dahlhaus steht, aber meinst du nicht, dass er genau das Gegenteil von dem meint, was du ihm hier in den Mund legst? "Der Sündenbock der Operngeschichte", das klingt doch eher nach dem, auf den man alle Schuld und alle Probleme abwälzt, obwohl er das eigentlich gar nicht verdient hat...

    Auch das Desinteresse der Literaturwissenschaft an Libretti leitet sich (unter anderem) auch über eine weit verbreitete Geringschätzung her.

    Ich glaube, da hast du ein etwas zu negatives Bild von der Literaturwissenschaft. Inzwischen kannst du zwischen einer ganzen Reihe von Monographien und Sammelbänden wählen, die Libretti aus literaturwissenschaftlicher Sicht behandeln und Wikipedia weiß sogar: "
    Die Librettologie ist eine relativ junge literaturwissenschaftliche Forschungsdisziplin. Sie beschäftigt sich mit dem Libretto nicht aus musikwissenschaftlicher, sondern aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Der Text (sofern es nicht ein vertonter kanonischer Text beispielsweise der Liturgie ist) wird dabei nicht mehr als reiner Träger von Musik und Handlung gesehen, als „der Musik gehorsame Tochter“, wie Mozart es nannte, sondern als eigene literarische Gattung im Spannungsfeld zwischen literarischen, dramaturgischen und musikalischen Anforderungen.
    Da Fragen der Intermedialität eine wichtige Rolle für die Librettologie spielen, ist diese - im System der Wissenschaften der Komparatistik - der vergleichenden Literaturwissenschaft zuzurechnen". Auch ein Grund für die späte Entstehung einer literaturwissenschaftlichen Librettologie wird angegeben: "Da das Libretto als funktionale Gattung an der Schnittstelle zwischen Literatur und Musik angesiedelt ist, fühlten sich lange Zeit weder die Musik- noch die Literaturwissenschaft so recht zuständig. Dies änderte sich seit Mitte der 1980er Jahre, als sich eine literaturwissenschaftlich begründete Librettologie zu entwickeln begann".

    In Bayreuth gibt es darüber hinaus ein rühriges Institut für Musiktheaterforschung, das sich Opern interdisziplinär auch aus theater- und aus literaturwissenschaftlicher Sicht widmet.

    Und wenn du über "Die Zauberflöte" diskutieren möchtest, kannst du ja vielleicht mal in diesen alten Thread gucken und ihn bei Gelegenheit wiederbeleben: MOZART: Die Zauberflöte – Lauter Unsympathen? :wink:

    Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß andre Menschen hören, was man sagt. - Oscar Wilde

  • Ja, mein Dahlhaus-Zitat soll sagen, dass Dahlhaus der Ansicht ist, dass der Librettist einen schlechten Stand hatte in der Operngeschichte...
    Also unter den Opernliebhabern gibt es viele Verfechter der "Prima la musica" und vielen Literaturfreunden ist es noch nicht in den Sinn gekommen ein Opernlibretti zu lesen. Dabei finde ich statt "Faust II" kann man genauso gut die "Zauberflöte" oder Goethes "Zauberflöte II" lesen (da man hier besser Angriffen zuvor kommt sage ich schon mal: damit meine ich nicht, dass es literarische so tiefgründig oder sprachlich ausgefeilt ist, aber es ist beides vor allem ideell sehr verwandt – ähnliche Motive, Symbole, Vorstellungswelt; Und man kann das eine durch das andere vielleicht noch besser verstehen).
    Diese kritischen, negativen Positionen zu Libretti gibt es auf jeden Fall auch in der Musikwissenschaft und Literaturwissenschaft, und erfreuen sich einer langen Tradition.
    Also ich war mir nicht sicher wie interessant Libretti in diesem Musik-orientierten Forum sind, und teilweise gab es ja auch sehr forsche und sogar aggressive Positionen – das Thema polarisiert schon, auch hier.
    Aber es gab ja auch viele offene und positive Antworten; und ihr beiden scheint ja auch eher offen zu sein – finde ich ja nur gut... ;)

  • Zitat von Philbert

    Zwar wurde der Text hauptsächlich von Christian August Vulpius revidiert, Goethe selber hatte als Regisseur einen gewaltigen Anteil ab der Bearbeitung.

    Das habe ich doch glatt überlesen, weil mich der vorangestellte Punkte irgendwie nicht so ansprach :P

    Weißt Du, ob Goethe an Vulpius' Text einen "gewaltigen Anteil" hatte? Ich habe es mal gelesen (glaube in der Herausgabe von Werner Wunderlich) und da habe ich es nicht so klar in Erinnerung (also gibt ja auch eine Heranführung durch den Herausgeber). Ich finde die Änderungen sehr irritierend. Vulpius' war übrigens ein Schikaneder/Zauberflöten-Basher und meinte, dass Originalstück habe gar keinen Plan. Der aufklärerische Ansatz, die Allegorien, die Symbole sind eigentlich nicht mehr wiederzuerkennen - vielleicht hatte es auch politische Gründe (Französische Revolution, Weimar). Von daher für mich ein zweifelhaftes Beispiel für eine direkte Betrachtung von Goethes Vorstellungen (egal ob Libretto oder "Zauberflöte"). Aber vielleicht gibt es ja Aussagen/Beweise, die ich nicht kenne.....


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    Der darauf folgende Beitrag sowie acht weitere Postings, die sich off-topic mit Rechtschreibfehlern hier im Thread und in Kulturforen allgemein befassten, wurden in den Splitter-Thread verschoben.
    Amaryllis, für die Moderation

  • Cherubino hat nicht unrecht, daß spezifische Zauberflötereien in dem von ihm genannten Thread besser aufgehoben wären. Daher nur kurz, weil Du, lieber Somni, meine Argumentation angesprochen hast. Vorsicht beim Übertragen heutiger Werturteile auf das 18.Jahrhundert! Da hatte Frauenausschluß beim Freimaurertum, um bei dem Beispiel zu bleiben, noch keine so eindeutig negative Färbung wie gegenwärtig. Auch die Sklavereidiskussion entwickelte noch nicht jene krasse Schärfe wie etwas später. Wir dürfen Sarastro nicht mit unserer demokratischen Moral messen. Er ist immerhin noch Alleinherrscher, aufgeklärt zwar, aber doch. Die Emanzipation der Frau gibt zwar im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert deutliche Lebenszeichen, doch in der Folge führt dieses Pflänzchen weiterhin eher ein Schattendasein (von einzelnen Ausnahmen abgesehen), und es dauert lange, bis sich die moderne Auffassung von Gleichberechtigung, oder wie immer man das nennen will, realiter niederschlägt. Sie ist vielfach noch heute nicht umgesetzt, wenngleich in manchen Aspekten unter Umständen sogar vielleicht überzogen.
    Das aber jetzt nur in Parenthese, denn die Diskussion im Thread bewegt sich ja inzwischen auf einer anderen Ebene.

    ______________________

    Homo sum, ergo inscius.

  • Das aber jetzt nur in Parenthese, denn die Diskussion im Thread bewegt sich ja inzwischen auf einer anderen Ebene.

    haha - da wäre mir Deine Ebene aber viel lieber. Aber kann den Verweis auf den anderen Thread nachvollziehen. Möchte auch nicht weiter darauf eingehen, aber vielleiht ist ein Gedanken erlaubt "Bewahret euch vor der Weibertücken, dies ist des Bundes erste Pflicht" "Ein Weib tut wenig plaudert viel" (beides frei zitiert) passt halt überhaupt nicht zu den wahren Handlungen der Frauen in der "Zauberflöte" - Tamino wird von drei Damen gerettet, und von Pamina auf dem Prüfungsweg geführt - - - also darf man doch als clevere Kritik verstehen - muss man aber nicht :)

  • Die Qualitätsdebatte hatten wir schon mal...

    Natürlich hat Argonaut recht, wenn er die Forderung aufstellt, daß man, um Qualität beurteilen zu können, erst einmal Kriterien benötigt, anhand derer man die Qualität überhaupt erst beurteilen kann. Ansonsten ist es tatsächlich nur "Gefühl und Wellenschlag". Ob es sich dabei um Obst im Supermarkt, Schraubenzieher, wissenschaftliche Daten oder um Opernlibretti handelt, ist dabei völlig unerheblich. Wir brauchen einen Maßstab, wenn wir uns über ihre Beschaffenheit vergleichend austauschen wollen. Beim Obst wären das z.B. Aroma, Geschmack, Frische und Aussehen, evtl auch Verarbeitbarkeit... Wenn sich diese Kriterien einer quantitativen Beschreibung entziehen, dann ist immer noch eine kategorische möglich. Das Problem dabei ist allerdings zunächst einmal die Definition von Qualität, die ja per se ein wertfreier Begriff ist (auch wenn das viele fälschlicherweise anders halten). Am brauchbarsten ist dabei noch: "Qualität ist der Grad der Tauglichkeit zum vorgesehenen Zweck".

    Geht man nun von der Position aus, daß Kunst grundsätzlich zweckfrei ist (zumindest aus heutiger Sicht), dann wird hiermit folglich jeder Qualitätsbegriff hinfällig. Kunst definiert sich durch (und zumindest hier und heute nur durch) Konvention, und diese Konvention ist, wie bereits mehrfach erwähnt, über Zeit und Ort variabel. Nach welchen Kriterien wäre denn z.B. eines der zahlreichen "untitled blue"s von Ives Klein Kunst? Worin unterscheidet es sich von trivialen blauen Flächen, wie z.B. Hauswänden? Ist es nach den "white", "black" und "red painings" von Robert Rauschenberg überhaupt eine eigenständige künstlerische Leistung? Nach welchen Kriterien wäre es demnach höher zu bewerten, als ein Blatt Papier, das ein Schüler im Kunstunterricht blau anmalt? Und würde ein Betrachter um 1800 überhaupt in der Lage sein, es als Kunst wahrzunehmen? Also: wenn wir das heute als Kunst betrachten, dann beruht das auf der Konvention, es als Kunst zu betrachten. Kriterien dafür gibt es keine. (Eine Kunsthistorikerin hat mir mal gesagt: "Kunst ist, was der Kunstmarkt dafür hält")

    Nun geht es hier aber nicht um Kunst im Allgemeinen, sondern um Opernlibretti im Besonderen. Und die sind nun kein Genre sui generis, sondern dienen tatsächlich einem Zweck: als zu vertonender Text einer Oper. Und hierfür lassen sich selbstverständlich Kriterien liefern, nach denen sich die Güte von Libretti bewerten lassen:
    Wie interessant ist der Plot bzw. wie interessant ist er gestaltet, wie gut sind die Figuren charakterisiert, gibt es Brüche in der Handlung oder der Charakterisierung der Figuren, handeln die Figuren nachvollziehbar, ist das Ganze in einer Form, die (zeitgemäß) zur Vertonung taugt, ist es frei von Inplausibilitäten, inwieweit eignet es sich zur Bühnenrealisierung usw. (Aufzählung lässt sich sicher noch fortsetzen). Zeittypische Kategorien kommen da gar nicht vor.

    Inwieweit so ein Libretto darüberhinaus auch noch literarisch wertvoll ist, war für die Vergangenheit offensichtlich von untergeordneter Rolle, wenn man sich gängige Libretti zu Gemüte führt. Die Literaturoper (auf der Basis eines dramatischen Textes ohne Adaption für die Vertonung) ist im wesentlichen eine Erfindung des 20. Jhs. Da ist die Vorlage aber bereits unabhängig von der späteren Oper existent und nicht speziell dafür geschaffen.

    Zum Vergleich ein (in meinen Augen) gutes und ein schlechtes Libretto - der besseren Vergleichbarkeit halber aus der gleichen Zeit vom selben Komponisten (Händel): Theodora (ok: offiziell "Oratorium", aber eigentlich verkappte Oper; wird auch zunehmend szenisch aufgeführt) von Thomas Morell und Ricardo primo von Paolo Antonio Rolli:

    Bei Theodora haben wir eine konsistente Charakterisierung der Figuren und eine nachvollziehbare Entwicklung der beiden Protagonisten Theodora und Didymus und die Geschichte (das Martyrium Theodoras) wird so überzeugend dargestellt, daß (wenn es gut gemacht wird), das Publikum am Ende durchaus ergriffen sein kann. Bei Ricardo primo, wäre der Plot durchaus geeignet eine spannende Geschichte daraus zu machen - nur die Figuren sind so farblos und schablonenhaft und so lebensfremd in ihren Handlungen, daß die Oper allenfalls wegen des Klamauks (der großen Schlachenszene) und der sehr virtuosen Arien für die Stars Senesino, Bordoni und Cuzzoni einige Aufmerksamkeit erhielt. Nichtsdestoweniger: Der Text für Theodora ist nichts Besonderes: Die erste Arie (Valens, Nr.3) besteht (zeittypisch) kurz aus dem Dreizeiler

    Go, my faithful soldier, go:
    Let the fragrant incense rise,
    To Jove, great ruler of the skies.

    gefolgt vom Chor der Heiden

    And draw a blessing down,
    On his imperial crown,
    Who rules the world below.

    nach einem kurzen Wortwechsel (Rezitativ Valens - Didymus) folgt nochmals Valens mit

    Racks, gibbets, sword and fire,
    Shall speak my vengeful ire,
    Against the stubborn knee.
    Nor gushing tears,
    Nor ardent pray'rs,
    Shall shake our firm decree.

    Also: Literarisch sicher nichts anspruchsvolles. Wenn man das als Text sprechen würde, wär's Schmierentheater - nichtsdestoweniger ist das ein hochwirksames Libretto.

    Vielleicht ist das der Grund, warum Libretti bislang so wenig als literarische Gattung wahrgenommen wurden: Da herrschen andere Notwendigkeiten, als in üblichen literarischen Texten, da gibt die Musik die Form und die Grenzen vor.


    Noch ein kurzes OT zur "Temperatur" (nein, ich kann mir's nicht verkneifen...) ;)
    Der Ausgangspunkt war, daß der Schmelzpunkt von Quecksilber tiefer liegt, als der von Wasser.

    Da bist Du im Irrtum. Darin wird man nur dort übereinstimmen, wo man eine Skala verwendet, die von senkrecht (und nicht etwa waagerecht) verläuft und die Temperaturen, die wir »niedrig« nennen, unten einträgt und nicht etwa oben (bzw. links oder rechts). Das ist aber eine willkürliche Entscheidung, die auch ganz anders getroffen werden kann. Es sind durchaus Kulturen denkbar (es muss sie gegeben haben und gibt vielleicht auch noch welche), die die Temperatur überhaupt nicht messen, sondern ganz anders bezeichnen, wo also die Bezeichnung »höher« vollkommen sinnlos wäre

    Ich glaube, ich weiß, woher das Verständigungsproblem kommt...

    zunächst einmal gibt es die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten warm und kalt, mit durchaus handgreiflichen Konsequenzen, daher auf der ganzen Welt universell verständlich: Liege ich bei 36°C in der Badewanne, empfinde ich das als angenehm. Lange ich in siedendes Wasser, verbrühe ich mir sehr schmerzhaft die Pfoten, Und wenn ich in das Polarmeer falle, werde ich in etwa einer Viertelstunde an Unterkühlung gestorben sein. Wenn ich Eisen schmelzen will, muß ich stärker einheizen, als wenn ich Zinn schmelzen möchte, und wenn mein eben erlegtes Mammut im Winter einfriert, wird es länger haltbar sein, als im Sommer, wenn die Sonne darauf knallt. In gleicher Weise ist es deutlich kälter, wenn Quecksilber erstarrt, als wenn Wasser zu Eis gefriert. Wohlgemerkt: auf der Stufe des sinnlich Wahrnehmbaren. Temperatur muß ich dazu nicht kennen. Um solche Phänomene systematisch erfassen zu können, wurde ein Skalar definiert - eben die Temperatur, deren Unterschiede wir seit etwa 150 Jahren auch physikalisch erklären können. Das ist tatsächlich eine Kulturleistung, wobei ich nicht weiß, inwieweit kategorische Temperaturbegriffe (im Gegensatz zu unserem variablen) nicht auch bereits auf bereits relativ niedrigen Kulturstufen Verwendung fanden und finden (z.B. Mammut hart - Mammut stinkt...). So etwas beschreiben zu können, war ja auch bereits früher wichtig. Daß dabei heute kälter mit "niedrigerer" und wärmer mit "höherer" Temperatur assoziiert sind, ist nun keineswegs willkürlich, sondern eine unmittelbare Folge der historischen Messmethoden, und zwar unabhängig davon, ob die direkt über Ausdehnung (Flüssigkeitsthermometer) oder über die damit verbundene Dichteänderung (Galilei) efolgt. In beiden Fällen ist warm "oben" abzulesen, und kalt "unten". Das hat sich die letzten 4 Jahrhunderte auch sprachlich so eingebürgert und wird synonym benutzt. Wenn also etwas kälter ist, als etwas anderes, ist auch seine Temperatur tiefer Hätten die Physiker des 17. und 18. Jhs. andere Messmethoden gekannt als die genannten - per Leitfähigkeit etwa - dann würden wir das heute sicher anders benennen, keine Frage. Es gibt aber keinen Sinn und keinen Grund, Alltagssprache mit oberflächlicher Semantik und mit Berufung auf potentiell existierende Naturvölker, denen unser Temperaturbegriff möglicherweise unbekannt ist, in Frage zu stellen. Ich denke, jeder hier weiß, was niedrige und hohe Temperatur bedeutet. Das ist Sinn der Sprache. Wir verständigen uns hier nicht auf Papua.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Niemand hat bestritten, dass jeder bei uns weiß, was es heißt, wenn jemand sagt, dass das Wasser eine niedrigere Temperatur hat als der Tee der daneben steht. Nur ist das eine Redeweise, die auf Vereinbarung beruht, nicht auf der Natur von irgendwas. Es könnte auch anders sein, insofern ist diese Wortwahl selbstverständlich (wie jeder Wortwahl) willkürlich. Wenn nicht, kommen wir zu einer seltsamen Sprachmystik, bei die Dinge ihre Namen in sich tragen und können nicht mehr erklären, warum diese Namen, die den Dingen genetisch angehören, in verschiedenen Ländern verschieden sind. Die Bezeichnungen sind also willkürlich. Sie haben sich ebenso eingebürgert wie alle anderen Bezeichnungen einschließlich der Grammatik usw. Dass wir uns nun nicht ständig erklären müssen, was wir meinen, wenn wir sagen, dass es warm ist, liegt daran, dass wir uns halbwegs darauf verlassen können, dass alle ungefährt dasselbe denken, wenn man das sagt, also dasselbe Kriterium anwenden, mit dessen Hilfe man entscheiden kann, ob das Badewasser heiß, warm, lauwarm oder kalt ist.

    Das Problem ist, dass schon diesem Punkt die Übereinstimmung keineswegs gesichert ist, dass man aber von ihr gar nicht mehr ausgehen kann, wenn es um ästhetische Urteile geht. Dann muss man seine Kriterien offenlegen, weil sonst nicht klar ist, was gemeint ist. Wenn also jemand erklärt, das Libretto der »Zauberflöte« stünde auf derselben Stufe wie der »Faust«, kann man diese Aussage ebenso wenig einfach ablehnen, wie man ihr einfach zustimmen kann, sondern man muss erst einmal herausbekommen, in welcher Hinsicht da eine Gleichheit behauptet wird. Heißt es dann, im Hinblick auf die Beherrschung der sprachlichen Mittel (Verskunst z.B.) oder auch im Hinblick auf die Klarheit und Tiefe der philosophischen Aussagen, kann man es kurz machen, weil das Unsinn ist, wenn man als Maßstab für die sprachliche Qualität Dichtungen Goethes nimmt und als Maß für die Klarheit Tiefe der philosophischen Gedanken den Standard der philosophischen Sprache der Zeit nimmt. Aber auch wenn das geklärt ist, ist noch keineswegs sicher, dass die Aussage unsinnig ist, denn es sind ja andere Kriterien denkbar, bei denen das stimmt. Wenn man zum Beispiel die Verständlichkeit des Stücks für Kinder von 12 Jahren zum Maßstab erhebt, ist die »Zauberflöte« dem »Faust« haushoch überlegen. (Es bleibt dann zu klären, in welchem Zusammenhang das ein sinnvolles Kriterium sein kann, aber für ein Kindertheater ist das natürlich ein Argument.)

    Andererseits kann jemand erklären, dass Piaves »Rigoletto«-Libretto wegen der kläglichen Verse schlecht sei. Dann hat er sein Kriterium benannt: Er meint, damit ein Libretto gut ist, müsse es gute Verse enthalten. Nun steht fest, dass Verdi das anders gesehen hat (sonst hätte er das Libretto nicht vertont und nicht immer wieder mit Piave gearbeitet). Das bedeutet aber noch nichts. Die wichtigere Frage ist, ob das wirklich ein Kriterium ist, das geeignet ist, die Qualität eines Librettos zu messen. Wenn man dieser Meinung ist, muss man das begründen. Wenn man der Meinung ist, dass diese Verse nicht schlecht seien, muss man das begründen. Man könnte zum Beispiel sagen, dass es unangemessen sei, ihre Qualität mit der von Versen anderer Dichter der Zeit zu vergleichen, weil diese Verse eine völlig andere Funktion haben und darum ganz andere Anforderungen an sie gestellt werden. Dann hat man ein anderes Kriterium definiert, mit dem man zu anderen Bewertungen kommen wird. Wenn man aber die Kriterien nicht klärt, kommt man zu gar nichts als leeren Behauptungen. Und auf gar keinen Fall erreicht man sein Ziel, nämlich dass Schikaneders Verse eine mit denen Goethes oder Piaves eine mit denen Leopardis vergleichbare Qualität haben. (Das ist aber vermutlich auch gar nicht nötig. Denn wie man leicht sehen kann, ist der »Faust« als Dichtung der »Zauberflöte« weit überlegen. Wenn man beide Stücke aber als Libretti miteinander vergleicht, siegt unumstritten die »Zauberflöte«. – Mozart hätte sich mit Sicherheit für den ehrenvollen Auftrag bedankt, zu diesen Versen Musik zu machen...)

  • Denn wie man leicht sehen kann, ist der »Faust« als Dichtung der »Zauberflöte« weit überlegen.

    Welches Kriterium wurde da verwendet? Länge?

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Welches Kriterium wurde da verwendet? Länge?


    Und doch wünschte sich Goethe für seine "Faust"-Dichtung, sie möge nur so sein wie die "Zauberflöte" - als Antwort auf Eckermanns "...die Behandlung ist bei so großem Stoff nur andeutend und macht sehr große Ansprüche an den Leser."


    Zitat

    »Es steckt ein ganzes Altertum darin«, sagte ich. – »Ja,« sagte Goethe, »die Philologen werden daran zu tun finden.« – »Für den antiken Teil«, sagte ich, »fürchte ich nicht, denn es ist da das große Detail, die gründlichste Entfaltung des einzelnen, wo jedes geradezu das sagt, was es sagen soll. Allein der moderne, romantische Teil ist sehr schwer, denn eine halbe Weltgeschichte steckt dahinter; die Behandlung ist bei so großem Stoff nur andeutend und macht sehr große Ansprüche an den Leser.« – »Aber doch«, sagte Goethe, »ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der ›Zauberflöte‹ und andern Dingen der Fall ist.«


    Das ist doch interessant, und mag den einen oder anderen Kritiker, der die "Zauberflöte" als "Dichtung" verschmäht, vielleicht nochmal überdenken. Vielleicht sind die Meinungen aber auch schon zu eingefahren. Naja, ich habe jedenfalls meine Antworten und bin es müde sie zu verteidigen - hier wurde ja mittlerweile auch einiges zensiert - vielleicht aus gutem Grunde, aber naja, daher nochmal: Also ich bin es müde mich zu verteidigen, ich habe mich hier vielleicht auch einwenig zu sehr in die Spirale der "Gewalt", der aggressiven Diskussionen hineinziehen lassen. Ich möchte da aber raus. Sorry an die Moderation, wenn meine Worte den Forenregeln nicht entsprechend waren. Vielleicht würde uns da ja auch allen einwenig der Geist der "Zauberflöte" und der "Faust"-Dichtung weiterhelfen, denn hier sehen wir die Verbindung von Gegensätzen zu einer Synthese, zu etwas Höherem (mag man natürlich auch gerne einen anderen Standpunkt einnehmen). Aber statt meine Sicht, die wohl die "reichlich groteske" ist nur anzugreifen (A "unpräzise" B "ja genau, und PAUSCHAL") mag man sie vielleicht mit seiner edlen, "kultivierten" Sicht verbinden, und vielleicht ergibt sich ja eine ~dritte Wahrheit~. Gelingt Ihnen diese Synthese des Edeln (Helene, Klassik/Antike, ihr?) mit dem Barbarischen (Faust, Romantik/Mittelalter, ich?) wie ich nicht zweifle, so wird auch der Schlüssel zu dem übrigen Teil des Ganzen gefunden sein (frei nach Schiller an Goethe über den "Helena"-Akt). So, hoffe, mein Beitrag kann so stehen gelassen werden - Danke für die Diskussion, bis bald! :clap:

  • Nur ist das eine Redeweise, die auf Vereinbarung beruht, nicht auf der Natur von irgendwas.

    ...das ist die Natur der Sprache.... ;)

    Dann muss man seine Kriterien offenlegen, weil sonst nicht klar ist, was gemeint ist. Wenn also jemand erklärt, das Libretto der »Zauberflöte« stünde auf derselben Stufe wie der »Faust«, kann man diese Aussage ebenso wenig einfach ablehnen, wie man ihr einfach zustimmen kann, sondern man muss erst einmal herausbekommen, in welcher Hinsicht da eine Gleichheit behauptet wird. Heißt es dann, im Hinblick auf die Beherrschung der sprachlichen Mittel (Verskunst z.B.) oder auch im Hinblick auf die Klarheit und Tiefe der philosophischen Aussagen, kann man es kurz machen, weil das Unsinn ist, wenn man als Maßstab für die sprachliche Qualität Dichtungen Goethes nimmt und als Maß für die Klarheit Tiefe der philosophischen Gedanken den Standard der philosophischen Sprache der Zeit nimmt. Aber auch wenn das geklärt ist, ist noch keineswegs sicher, dass die Aussage unsinnig ist, denn es sind ja andere Kriterien denkbar, bei denen das stimmt. Wenn man zum Beispiel die Verständlichkeit des Stücks für Kinder von 12 Jahren zum Maßstab erhebt, ist die »Zauberflöte« dem »Faust« haushoch überlegen. (Es bleibt dann zu klären, in welchem Zusammenhang das ein sinnvolles Kriterium sein kann, aber für ein Kindertheater ist das natürlich ein Argument.)

    Wenn Du mal Deine Beißreflexe für fünf Minuten ablegen könntest, oder wenigstens solange Du hier im Forum schreibst, hättest Du möglicherweise bemerken können, daß ich da ganz auf Deiner Linie bin....

    Andererseits kann jemand erklären, dass Piaves »Rigoletto«-Libretto wegen der kläglichen Verse schlecht sei. Dann hat er sein Kriterium benannt: Er meint, damit ein Libretto gut ist, müsse es gute Verse enthalten. Nun steht fest, dass Verdi das anders gesehen hat (sonst hätte er das Libretto nicht vertont und nicht immer wieder mit Piave gearbeitet). Das bedeutet aber noch nichts Die wichtigere Frage ist, ob das wirklich ein Kriterium ist, das geeignet ist, die Qualität eines Librettos zu messen. Wenn man dieser Meinung ist, muss man das begründen. Wenn man der Meinung ist, dass diese Verse nicht schlecht seien, muss man das begründen. Man könnte zum Beispiel sagen, dass es unangemessen sei, ihre Qualität mit der von Versen anderer Dichter der Zeit zu vergleichen, weil diese Verse eine völlig andere Funktion haben und darum ganz andere Anforderungen an sie gestellt werden. Dann hat man ein anderes Kriterium definiert, mit dem man zu anderen Bewertungen kommen wird. Wenn man aber die Kriterien nicht klärt, kommt man zu gar nichts als leeren Behauptungen. Und auf gar keinen Fall erreicht man sein Ziel, nämlich dass Schikaneders Verse eine mit denen Goethes oder Piaves eine mit denen Leopardis vergleichbare Qualität haben. (Das ist aber vermutlich auch gar nicht nötig. Denn wie man leicht sehen kann, ist der »Faust« als Dichtung der »Zauberflöte« weit überlegen.

    Auch wenn ich Dir inhaltlich zustimme: Mit dem letzten Satz wärst Du rein formal in Deiner eigenen Argumentation gefangen - nach welchen Kriterien...? ("Leicht sehen" ist keines...) Nur so nebenbei.

    Wenn man beide Stücke aber als Libretti miteinander vergleicht, siegt unumstritten die »Zauberflöte«

    Zweifellos. Aber auch da formal: Nach welchen Kriterien...? Also etwas vorsichtiger - nicht daß man dann sagen könnte: quod licet Iovi, non licet bovi... ;)

    Und doch wünschte sich Goethe für seine "Faust"-Dichtung, sie möge nur so sein wie die "Zauberflöte"

    Das ist die Frage, in welcher Hinsicht er sich das wünscht. Ich bin der festen Überzeugung, daß das Goethe kaum in sprachlicher Hinsicht gemeint hat. Daß er, der "Dichterfürst", Schikaneder literarisch haushoch überlegen war, wird er wohl gewußt haben. Er war ja in dieser Hinsicht auch sonst sehr selbstbewußt und wenig zimperlich. Man kann seine Ausführungen auch so lesen, daß er die Bühnenwirkung meint und nicht den literarischen output, und daß er den Plot an sich als anregend empfindet - und möglicherweise als durch Schikaneder nicht in völliger Tiefe ausgelotet sieht - deswegen wollte er ja auch eine Fortsetzung dazu schreiben.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Wenn Du mal Deine Beißreflexe für fünf Minuten ablegen könntest, oder wenigstens solange Du hier im Forum schreibst, hättest Du möglicherweise bemerken können, daß ich da ganz auf Deiner Linie bin....

    Wenn Du mal lesen würdest, was ich schreibe, würdest Du merken, dass Du mir eine Auffassung unterstellt hast, die nicht die meine ist. Wen das der Ausdruck dafür ist, dass Du ganz auf meiner Linie bist, ist die Welt vermutlich eine Scheibe.

    Auch wenn ich Dir inhaltlich zustimme: Mit dem letzten Satz wärst Du rein formal in Deiner eigenen Argumentation gefangen - nach welchen Kriterien...? ("Leicht sehen" ist keines...) Nur so nebenbei.

    Keineswegs. Das wäre nur dann so, wenn die Position, die Du mir unterstellt hast, tatsächlich meine wäre. Denn dann müsste man die Verabredungen über alle Kriterien in jedem Falle immer wieder neu treffen. Das ist aber nicht der Fall. Bei der Beurteilung einer Dichtung der klassischen Periode kann man sich ebenso darauf verlassen, dass die Kriterien einigermaßen allgemein bekannt sind, wie man sich darauf verlassen kann, dass jeder ungefähr weiß was ich meine, wenn ich sage, »das Wasser ist lauwarm« oder »die Suppe ist versalzen«. Wenn ich behaupte, Schikaneders Reimereien stünden mir Goethes Versen auf einer Stufe, ist klar, welche Kriterien gelten, nämlich jene, nach denen Goethes Dichtung zu den Gipfelwerken der Weltliteratur gehört und ein vollendetes Sprachkunstwerk ist. Mit diesen Kriterien gemessen, ist der Text der »Zauberflöte« so klein, dass er gar nicht mehr zu sehen ist. Das dürfte wohl klar sein. (Nur um nicht wieder irgendetwas unterstellt zu bekommen: Ich war es nicht, der den Vergleich gemacht hat, und ich bin auch nicht dafür, den Vergleich zu machen, um die Qualität des Librettos zu bestimmen. Ich bin vielmehr der Meinung, dass das Unsinn ist. Ich bin dafür, das jedes Phänomen mit den ihm angemessenen Kriterien bewertet wird. (Und ich bin allerdings, das gebe ich zu, sehr empfindlich gegen die postmoderne Demolierung aller Kriterien, die inzwischen tatsächlich dazu führt, dass die »Csárdásfürstin« aus derselben Höhe gesehen werden soll wie die »Matthäuspassion«. Wenn Du meinen Unwillen über dieses Niederreißen aller Dämme und die daraus resultierende Flut des Dilettantismus als Beißreflex bezeichnest, soll es meinetwegen so sein. Allerdings täuscht Du Dich in einem Punkt: das ist kein Reflex, sondern eine gründlich durchdachte Position.)

  • da würde ich jetzt geren darauf antworten. Ich habe nur leider jetzt und die nächsten Tage keine Zeit dazu. Vertagt

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Danke für die Diskussion, bis bald!

    Ich finde, dass alle, die mit Vehemenz darauf hingewiesen haben, dass ihr jeweiliger Gesprächspartner nicht satisfaktionsfähig war, sich nun als wahre Sieger fühlen können! :clap:

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

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