Janáček: Streichquartett Nr. 1 "nach Leo Tolstois 'Kreutzersonate'"

  • Janáček: Streichquartett Nr. 1 "nach Leo Tolstois 'Kreutzersonate'"

    Liebe Capricciosi!

    Weil ich gerade in der richtigen Stimmung bin, lege ich heute noch einen Janácek-Thread nach. Auf Anregung des Böhmischen Streichquartetts komponierte Janácek 1923 im Alter von 69 Jahren sein erstes und bereits meisterhaftes Streichquartett. Inspiration war dabei, wie der Titel deutlich sagt, die "Kreutzersonate" von Leo Tolstoi. (Ich halte das für eine herrliche Inspirationskette: Tolstoi wird von Beethovens Kreutzersonate inspiriert, der russophile Janácek von Tolstois von Beethoven inspirierter Erzählung...) Einer möglichen Deutung zufolge stehen die vier Sätze für verschiedene Abschnitte der Handlung der "Kreutzersonate" - so soll der zweite Satz die Verführung darstellen - doch hat Janácek selbst sich nie dazu geäußert.

    Janácek schreibt zwar, wie gesagt, vier Sätze, die sich aber nicht auf die "klassischen" vier Sätze der Streichquartetttradition zurückführen lassen. Das zeigt sich schon am Tempo: In allen vier Sätzen dominiert die Tempovorschrift "Con moto". Auch löst er sich völlig von der Sonatenhauptsatzform, stellt manchmal Themen blockweise gegenüber, manchmal verarbeitet er Melodien polyphon und variiert sie. Dass Janáceks leidenschaftliche Musik auch von sublimierten Elementen der mährischen Folklore geprägt ist, brauche ich nicht eigens zu erwähnen.

    Ich halte dieses Quartett für eines der wesentlichen Werke der Gattung. Für mein Empfinden macht Janácek mit diesem genialen Stück dort weiter, wo Schubert mit seinem G-Dur Quartett (Nr. 15) aufgehört hat - im "Neuland". (Ja, der entsprechende Thread war Anstoß zu diesem...) Was ist eure Meinung?

    Liebe Grüße,
    Areios

    P.S.: Ich sollte wohl auch eine CD-Empfehlung abgeben: Nun denn, ich habe nur eine einzige Aufnahme, mit der ich gleichwohl sehr zufrieden bin und die das Werk (wie wohl die meisten CDs) mit Janáceks zweiten, mindestens ebenso großartigen Streichquartett koppelt und die mittlerweile auch sehr günstig zu haben ist (ich habe noch die alte Vollpreis-Ausgabe):

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Ja, ein grandioses Werk, eine echte tour de force! Ich kenne wenig Musik, die so emotional unverstellt "rüberkommt" - die Katastrophe des vierten Satzes gehört zu den Momenten, in denen Musik völlig außer sich gerät. Und der dritte Satz, in dem die zaghaften lyrischen Ansätze immer wieder radikal zerschnitten werden! Ich meine mich übrigens zu erinnern, dass es durchaus ein von Janacek preisgegebenes bzw. auf ihn zurückgehendes Programm gibt, das den vier Sätzen klar bestimmte Inhalte des Eifersuchtsdramas zuordnet - beide Janacek-Quartette stehen ja in einer spezifisch programmusikalischen Kammermusiktradition, die auf Smetanas erstes Quartett zurückgeht.

    Ganz ist die klassische Streichquartettform nicht aufgegeben - die Mittelsätze lassen sich ja als Scherzo/Intermezzo und langsamer Satz identifizieren. Bemerkenswert ist die annähernde Monothematik, durch das Wiederaufgreifen des Anfangsthemas im Finale entsteht auch eine Bogenform.

    Ich verweise mal auf folgende, sehr verdienstvolle Website:

    "http://www.leos-janacek.org/lex/1s3.htm"

    Hier kann man sehen, dass es ca. 60 verschiedene Aufnahmen der beiden Janacek-Quartette gibt. Eine solche Einspielungsdichte dürfte es von keinem anderen Kammermusikwerk des 20. Jahrhunderts geben, selbst nicht von den Bartók-Quartetten.


    Ich kenne nur einige wenige Aufnahmen - aber wenn man die härtere, im Sinne eines "modernen" Klangs profiliertere Lesart mag, muss ich wieder mal auf das Hagen-Quartett verweisen - atemberaubend! Leider scheint diese Einspielung z.Zt. nur sehr schwer erhältlich zu sein (die DG spinnt), man kann sich's allerdings bei Amazon runterladen:



    Sehr gut ist die neuere (!) Einspielung des Talich-Quartetts. Eine Aufnahme, die der des Talich-Quartetts m.E. gleichrangig und zudem relativ preiswert ist, hat das Panocha-Quartett vorgelegt. Wie bei den Talichs wird auch hier eine Synthese zwischen einem verbindlicheren, wärmeren Tonfall und bei Bedarf extremer, das Hässliche nicht scheuender Zuspitzung angestrebt und erreicht:



    Viele Grüße

    Bernd

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  • Ich kenne nur einige wenige Aufnahmen - aber wenn man die härtere, im Sinne eines "modernen" Klangs profiliertere Lesart mag, muss ich wieder mal auf das Hagen-Quartett verweisen - atemberaubend! Leider scheint diese Einspielung z.Zt. nur sehr schwer erhältlich zu sein (die DG spinnt), man kann sich's allerdings bei Amazon runterladen:

    Lieber Bernd,

    immerhin ist diese CD auch bei dem offiziellen DG-Download-Shop herunterladbar. Allerdings etwas teurer, aber dafür in besserer Qualität. Darüberhinaus kann man dort die CD für 99 Cents 7 Tage lang streamen.

    Die Platte (und überhaupt die Janacek-Streichquartette) habe ich schon ewig nicht mehr gehört, aber in sehr guter Erinnerung - da ist ein Wiederhören fällig. Danke für die Anregung.

    Viele Grüße,

    Melanie

    With music I know happiness (Kurtág)

  • im ersten satz: takt siebzig und einundsiebzig: eine schlagende idee in der ersten violine. monokulturell stößt die anfängliche idee alles neue ab, was hinzukommen wollte. so vielleicht auch in takt hundert zweiundsechzig bis takt hundert vierundsechzig. und (natürlich) die ersten beiden takte. eine art unruhiger schlaf in diesem drängend (hübsch) hinzukommenden neu. (die einzig mir bekannte aufnahme ist die in beitrag zwei erwähnte des hagen-quartetts, sollte es die selbe wie in beitrag vier sein, kenne ich auch jene: würde also beide(?) vorbehaltlos empfehlen. partitur: bärenreiter.)

  • Gibt es zu diesem aufregenden Werk neuere Empfehlungen? Neuer Einspielungen gibt es eine ganze Menge, und zwar von Quartetten, die ich unter "CDs kannste blind kaufen" einsortiert habe:

    - mit dem Pavel Haas Quartett, gekoppelt mit Streichquartetten ihres Namensgebers:

     

    - mit dem Mandelring-Quartett (das zweite Quartett "Intime Briefe" sogar in der Version mit Viola d'amore):

    - mit dem Doric String Quartet:

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Mit neuere Empfehlungen kann ich nicht dienen. Aber vielleicht mit einem Tip . Ich habe die 2.Einspielung des Quartetts von 1963 mit dem Janacek Quartett ( die 1. aus 1953 suche ich noch)

    und ebenfalls die 2.( von mind.5 ) des Smetana Quartetts.

    Aber mein Favorit ist die 1979 eingespielte und '81 als LP auf EMI erschienene Aufnahme des Medici Quartets . Sie ist nicht mit der etwa 10 Jahre später für Nimbus entstandenen zu verwechseln , die auch einen guten Ruf hat. Auf der EMI LP ist ein noch junges, 'hungriges ' Quartett zu hören, was dem Werk in meinen Ohren sehr gerecht wird . (Es gibt noch eine andere Vinyl-Ausgabe der Aufnahme mit einem Portrait von Janacek auf dem Cover in der HMV Virtuoso Series ,die bei CDandLP.com zu sehen ist).

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    Good taste is timeless "Ach, ewig währt so lang " "But I am good. What the hell has gone wrong?" A thing of beauty is a joy forever.

  • Margriet de Moor: Kreutzersonate (Übersetzung: Hanser, 2002)

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    Hier wird übrigens der Stoff auf 140 Seiten noch einmal weitergesponnen, meiner Erinnerung nach eher auf der Meta-Ebene. Ich bin mir aber nicht mehr sicher. Wer den Roman bzw. die Novelle lesen möchte: Schnelle Sache!

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

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