Sibelius: Luonnotar op. 70
Zur Entstehung
Kurz vor dem Weihnachtsfest 1910 bekam Sibelius Post von einer Diva. Sie war nicht bester Stimmung gegen ihn: „Bester Herr Sibelius, ich bin es nicht gewohnt, daß man Spott mit mir treibt… und Sie wären ehrlicher gewesen, wenn Sie mir gleich gesagt hätten, daß Ihnen die Sibelius Konzerte im Ausland nicht zusagen. Damit hätten Sie mir viel Mühe erspart…“. (Brief von Aino Ackté an Jean Sibelius, 13.12.1910. Zit. n. Tawaststjerna 2005, S. 165)
Die gefeierte Sopranistin Aino Ackté, die sich hier deutlich als „not amused“ geriert, hatte Sibelius schon seit längerem bekniet, etwas für sie zu komponieren. Im Sommer des Jahres hatte sie versucht, Sibelius zu einer Konzerttournee durch Deutschland zu überreden, der sich dann im November sogar an die Konzeption eines Liedes für sie machte. Als Textvorlage wählte er Edgar Allan Poes Ballade „Der Rabe“. Begeistert davon, gab Ackté ein Interview, in dem sie voller Begeisterung über sich selbst postulierte: „Ich nehme Sibelius mit.“ Doch Sibelius entschied sich gegen die Deutschland-Tournee und sagte ab. Die Arbeit an „Der Rabe“ blieb zugunsten der Vierten Symphonie, die „ihn völlig gefangen [nahm]“ (Ringbom, S. 136), liegen und wurde nie wiederaufgenommen.
Im Mai 1913 brachte Aino Ackté erneut den Wunsch vor, Sibelius möge doch etwas für Sie komponieren, am besten eine große Nummer mit Orchester, die sie bei einem Konzert in Manchester als Gegengewicht zum Schlussmonolog aus Richard Strauss‘ Oper „Salome“ zu Gehör bringen können. Im Juli machte sich Sibelius an die Arbeit. Mittlerweile hieß der Aufführungsort nicht mehr Manchester, sondern Gloucester, das in diesem Jahr der Gastgeber des altehrwürdigen „Three Chois Festival“ sein würde. Als Thema für die Komposition wählte Sibelius den Schöpfungsmythos des „Kalevala“, speziell die Geschichte der Luonnotar (oder auch Ilmatar), jenes Luftgeistes, der laut des Mythos die Urmutter der Welt war.
Dieser Stoff hatte Sibelius schon seit geraumer Zeit beschäftigt. Erstmalig taucht Luonnotar bereits in einem Opernentwurf aus den Jahren 1893/94 auf („Veenen luominen“ – „Der Bootsbau“) auf. Im Jahre 1902 arbeitete er an einem „Zauberspruch“ für Sopran und Orchester, der sich mit der Figur beschäftigt.In den Jahren 1905/06 tauchte „Luonnotar“ als Arbeitstitel jenes großen Orchesterwerkes auf, das später als „Pohjolas Tochter“ berühmt werden sollte. Schließlich plante der Komponist gemäß einem Tagebucheintrag vom 02.03.1912 sogar eine ganze „Luonnotar-Symphonie“. (vgl. Virtanen, III). Nichts davon nahm Gestalt an. Dafür ging Sibelius nun die Komposition schnell von der Hand. Am 24.08.1913 war die Partitur der „Luonnotar“ fertiggestellt. Das Werk trägt die Opuszahl 70. Sibelius hatte bereits vor der endgültigen Fertigstellung der Partitur eine Fassung für Singstimme und Klavier an Aino Ackté geschickt, die das Werk „brillant und großartig“, aber auch „wahnsinnig schwierig“ (Zit. n. Virtanen II) fand.
Seine Uraufführung erlebte „Luonnotar“ am 10.09.1913 im Rahmen eines „Secular Concert“ in der Shire Hall in Gloucester. Die Leitung hatte Herbert Brewer, ein guter Freund Sir Edward Elgars. Ob Elgar, der während dieses Festivals u.a. den „Gerontius“ dirigierte, bei diesem Konzert zugegen war, konnte ich leider nicht ermitteln.
Zur Aufnahme
Sechsmal sei Sie nach der Aufführung aufs Podium geholt worden, telegrafierte Aino Ackté am darauffolgenden Tag an Sibelius (vgl. Bullock, S. 177). Tatsächlich scheint die Aufführung tatsächlich ein Erfolg gewesen zu sein. Die Londoner „Times“ jedenfalls notierte in ihrem Bericht über das Gloucester Festival:
„Sibelius‘ Tondichtung ‚Luonnotar‘ ist wahrscheinlich sein neuestes Werk. Schließlich gab er dem Festival Komitee, als dieses vor vierzehn Tagen um die Partitur und die Orchesterstimmen bat, zur Antwort, es sei ‚alles noch in seinem Kopf‘. Das Stück wurde speziell für Mdm. Ackté geschrieben und passt so hervorragend zu ihrem Stimmumfang und zu ihren außergewöhnlichen Gestaltungsmöglichkeiten, dass es wahrscheinlich bis auf Weiteres ihr ganz spezieller Besitz bleiben wird. Ein englisches Publikum ist natürlich ein Nachtteil, denn dieses konnte der obskuren finnischen Legende der Tochter der Luft, die zur Mutter des Wassers, des ‚leichten Bogens der Welt‘ und auch der Sterne wird, nur mit Hilfe einer groben englischsprachigen Version folgen und so den poetischen Gehalt des Werkes nur vage erahnen. Dennoch konnte jedermann erkennen (oder hätte dazu in der Lage sein sollen), dass es sich um den musikalischen Wurf eines enorm kreativen Geistes handelt, der an vollkommen einzigartigen Versen arbeitet. Die Singstimme ist rhythmisch frei und gründet sich zweifellos auf dem Volkslied, wobei Sibelius‘ Andeutungen des Volksliedes sich gänzlich von der Nutzung durch andere Komponisten unterscheidet, da diese es wesentlich bewusster als er verwenden. Während sie es mit Hilfe von Einschränkungen umzäunen, befreit er es eben von jenen Einschränkungen und zeigt es in seiner ursprünglichen Form. Jene, die seine wunderbare Orchesterarbeit in der Symphonie in a-Moll bewundert haben, werden sich an der Atmosphäre erfreuen, mit der das Orchester hier die Singstimme umgibt.“ (Bullock, S. 179)
Für die Rezeption in der Gegenwart gilt, obwohl es mittlerweile eine ganze Menge Aufnahmen des Werkes gibt, noch das, was Robert Layton 1978 geschrieben hat: „‘Luonnotar‘ ist eines jeder Werke, die häufiger gerühmt als aufgeführt wird.“ (Layton, S. 75)
Luonnotar – Inhalt
„Luonnotar“ erzählt den einen Gutteil des ersten Gesanges des finnischen Epos „Kalevala“ nach, das 1849 von Elias Lönnrot herausgegeben wurde. Ich habe HIER etwas ausführlicher zum Entstehungshintergrund des „Kalevala“ geschrieben.
Luonnotar, die jungfräuliche Tochter der Lüfte, schwebt seit Ewigkeiten in den öden Luftgefilden des Nichts. Sie ist dem allerdings überdrüssig und fühlt sich einsam. Sie senkt sich herab in die Wellen des Urozeans und wird von einem Windhauch geschwängert. 700 Jahre währt die Schwangerschaft, doch eine Geburt ist nicht in Sicht. Die Wehen quälen sie. Sie bereut nun, sich mit dem Ozean vereinigt zu haben und nicht mehr in den Lüften zu weilen. Darum ruft sie Ukko, den Herrn der Höhen, an. Er soll sie von ihrer Pein erlösen. Nach kurzer Zeit erscheint eine verzweifelte Taucherente (so zumindest übersetzen es Lore und Hans Fromm), die im Ozean vergeblich einen Ort sucht, an dem sie sicher nisten kann. Daraufhin hebt Luonnotar ihr Knie aus dem Ozean, auf dem die Tauchente landet und sogleich zu brüten beginnt. Plötzlich wird Luonnotar von einer großen inneren und äußeren Hitze gequält. Sie erzittert und schüttelt ihre Glieder. Die Eier fallen von ihrem Knie und zerbrechen. Aus ihren Schalen entstehen die Erde und das Himmelsgewölbe, aus dem Eigelb wird die Sonne und aus dem Eiweiß der Mond, aus dem Gesprenkelten der Eier bilden sich die Sterne, aus allem Dunklen die Wolken. Damit schließt die Vertonung.
Der vollständige Text und eine Übertragung in Deutsche findet sich hier: http://www.lieder.net/lieder/get_text.html?TextId=17009
Luonnotar – Die Form
„Luonnotar“ wird als eine von Sibelius diversen Tondichtungen betrachtet. Sibelius selbst nennt das Werk so. Darum habe ich mich auch dazu entschlossen, das Werk trotz des Einsatzes einer Singstimme hier in der Kategorie „Orchesterwerke“ unterzubringen. Bisweilen ist der Versuch unternommen worden, genauer zu differenzieren und das Werk als Orchesterlied, „Szene für Sopran und Orchester“ oder gar als „Kantate für Sopran und Orchester“ zu etikettieren.
Das Werk ist wie folgt besetzt:
2 Flöten (Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken (2 Spieler), 2 Harfen, Streicher, Singstimme.
Eine typische Aufführung dauert um die 9 Minuten.
Die Form des Werkes wird unterschiedlich gedeutet.
David Hurwitz erkennt eine „strikte Sonatenform ohne Durchführung oder ABAB, ohne Coda“ (Hurwitz 147), andere differenzieren hier deutlicher und sehen einen A-B-A’-C-B (vgl. Caleb Hugo: "http://calebhugo.com/academic-writi…alytical-guide/), eine Sichtweise, die sich wiederum an James Hepokoskis Theorie von „rotierenden Zyklen“ innerhalb von „Luonnotar“ orientiert.