Sibelius: Luonnotar op. 70

  • Sibelius: Luonnotar op. 70

    Zur Entstehung

    Kurz vor dem Weihnachtsfest 1910 bekam Sibelius Post von einer Diva. Sie war nicht bester Stimmung gegen ihn: „Bester Herr Sibelius, ich bin es nicht gewohnt, daß man Spott mit mir treibt… und Sie wären ehrlicher gewesen, wenn Sie mir gleich gesagt hätten, daß Ihnen die Sibelius Konzerte im Ausland nicht zusagen. Damit hätten Sie mir viel Mühe erspart…“. (Brief von Aino Ackté an Jean Sibelius, 13.12.1910. Zit. n. Tawaststjerna 2005, S. 165)

    Die gefeierte Sopranistin Aino Ackté, die sich hier deutlich als „not amused“ geriert, hatte Sibelius schon seit längerem bekniet, etwas für sie zu komponieren. Im Sommer des Jahres hatte sie versucht, Sibelius zu einer Konzerttournee durch Deutschland zu überreden, der sich dann im November sogar an die Konzeption eines Liedes für sie machte. Als Textvorlage wählte er Edgar Allan Poes Ballade „Der Rabe“. Begeistert davon, gab Ackté ein Interview, in dem sie voller Begeisterung über sich selbst postulierte: „Ich nehme Sibelius mit.“ Doch Sibelius entschied sich gegen die Deutschland-Tournee und sagte ab. Die Arbeit an „Der Rabe“ blieb zugunsten der Vierten Symphonie, die „ihn völlig gefangen [nahm]“ (Ringbom, S. 136), liegen und wurde nie wiederaufgenommen.

    Im Mai­­­ 1913 brachte Aino Ackté erneut den Wunsch vor, Sibelius möge doch etwas für Sie komponieren, am besten eine große Nummer mit Orchester, die sie bei einem Konzert in Manchester als Gegengewicht zum Schlussmonolog aus Richard Strauss‘ Oper „Salome“ zu Gehör bringen können. Im Juli machte sich Sibelius an die Arbeit. Mittlerweile hieß der Aufführungsort nicht mehr Manchester, sondern Gloucester, das in diesem Jahr der Gastgeber des altehrwürdigen „Three Chois Festival“ sein würde. Als Thema für die Komposition wählte Sibelius den Schöpfungsmythos des „Kalevala“, speziell die Geschichte der Luonnotar (oder auch Ilmatar), jenes Luftgeistes, der laut des Mythos die Urmutter der Welt war.

    Dieser Stoff hatte Sibelius schon seit geraumer Zeit beschäftigt. Erstmalig taucht Luonnotar bereits in einem Opernentwurf aus den Jahren 1893/94 auf („Veenen luominen“ – „Der Bootsbau“) auf. Im Jahre 1902 arbeitete er an einem „Zauberspruch“ für Sopran und Orchester, der sich mit der Figur beschäftigt.In den Jahren 1905/06 tauchte „Luonnotar“ als Arbeitstitel jenes großen Orchesterwerkes auf, das später als „Pohjolas Tochter“ berühmt werden sollte. Schließlich plante der Komponist gemäß einem Tagebucheintrag vom 02.03.1912 sogar eine ganze „Luonnotar-Symphonie“. (vgl. Virtanen, III). Nichts davon nahm Gestalt an. Dafür ging Sibelius nun die Komposition schnell von der Hand. Am 24.08.1913 war die Partitur der „Luonnotar“ fertiggestellt. Das Werk trägt die Opuszahl 70. Sibelius hatte bereits vor der endgültigen Fertigstellung der Partitur eine Fassung für Singstimme und Klavier an Aino Ackté geschickt, die das Werk „brillant und großartig“, aber auch „wahnsinnig schwierig“ (Zit. n. Virtanen II) fand.

    Seine Uraufführung erlebte „Luonnotar“ am 10.09.1913 im Rahmen eines „Secular Concert“ in der Shire Hall in Gloucester. Die Leitung hatte Herbert Brewer, ein guter Freund Sir Edward Elgars. Ob Elgar, der während dieses Festivals u.a. den „Gerontius“ dirigierte, bei diesem Konzert zugegen war, konnte ich leider nicht ermitteln.


    Zur Aufnahme

    Sechsmal sei Sie nach der Aufführung aufs Podium geholt worden, telegrafierte Aino Ackté am darauffolgenden Tag an Sibelius (vgl. Bullock, S. 177). Tatsächlich scheint die Aufführung tatsächlich ein Erfolg gewesen zu sein. Die Londoner „Times“ jedenfalls notierte in ihrem Bericht über das Gloucester Festival:

    „Sibelius‘ Tondichtung ‚Luonnotar‘ ist wahrscheinlich sein neuestes Werk. Schließlich gab er dem Festival Komitee, als dieses vor vierzehn Tagen um die Partitur und die Orchesterstimmen bat, zur Antwort, es sei ‚alles noch in seinem Kopf‘. Das Stück wurde speziell für Mdm. Ackté geschrieben und passt so hervorragend zu ihrem Stimmumfang und zu ihren außergewöhnlichen Gestaltungsmöglichkeiten, dass es wahrscheinlich bis auf Weiteres ihr ganz spezieller Besitz bleiben wird. Ein englisches Publikum ist natürlich ein Nachtteil, denn dieses konnte der obskuren finnischen Legende der Tochter der Luft, die zur Mutter des Wassers, des ‚leichten Bogens der Welt‘ und auch der Sterne wird, nur mit Hilfe einer groben englischsprachigen Version folgen und so den poetischen Gehalt des Werkes nur vage erahnen. Dennoch konnte jedermann erkennen (oder hätte dazu in der Lage sein sollen), dass es sich um den musikalischen Wurf eines enorm kreativen Geistes handelt, der an vollkommen einzigartigen Versen arbeitet. Die Singstimme ist rhythmisch frei und gründet sich zweifellos auf dem Volkslied, wobei Sibelius‘ Andeutungen des Volksliedes sich gänzlich von der Nutzung durch andere Komponisten unterscheidet, da diese es wesentlich bewusster als er verwenden. Während sie es mit Hilfe von Einschränkungen umzäunen, befreit er es eben von jenen Einschränkungen und zeigt es in seiner ursprünglichen Form. Jene, die seine wunderbare Orchesterarbeit in der Symphonie in a-Moll bewundert haben, werden sich an der Atmosphäre erfreuen, mit der das Orchester hier die Singstimme umgibt.“ (Bullock, S. 179)

    Für die Rezeption in der Gegenwart gilt, obwohl es mittlerweile eine ganze Menge Aufnahmen des Werkes gibt, noch das, was Robert Layton 1978 geschrieben hat: „‘Luonnotar‘ ist eines jeder Werke, die häufiger gerühmt als aufgeführt wird.“ (Layton, S. 75)


    Luonnotar – Inhalt

    „Luonnotar“ erzählt den einen Gutteil des ersten Gesanges des finnischen Epos „Kalevala“ nach, das 1849 von Elias Lönnrot herausgegeben wurde. Ich habe HIER etwas ausführlicher zum Entstehungshintergrund des „Kalevala“ geschrieben.

    Luonnotar, die jungfräuliche Tochter der Lüfte, schwebt seit Ewigkeiten in den öden Luftgefilden des Nichts. Sie ist dem allerdings überdrüssig und fühlt sich einsam. Sie senkt sich herab in die Wellen des Urozeans und wird von einem Windhauch geschwängert. 700 Jahre währt die Schwangerschaft, doch eine Geburt ist nicht in Sicht. Die Wehen quälen sie. Sie bereut nun, sich mit dem Ozean vereinigt zu haben und nicht mehr in den Lüften zu weilen. Darum ruft sie Ukko, den Herrn der Höhen, an. Er soll sie von ihrer Pein erlösen. Nach kurzer Zeit erscheint eine verzweifelte Taucherente (so zumindest übersetzen es Lore und Hans Fromm), die im Ozean vergeblich einen Ort sucht, an dem sie sicher nisten kann. Daraufhin hebt Luonnotar ihr Knie aus dem Ozean, auf dem die Tauchente landet und sogleich zu brüten beginnt. Plötzlich wird Luonnotar von einer großen inneren und äußeren Hitze gequält. Sie erzittert und schüttelt ihre Glieder. Die Eier fallen von ihrem Knie und zerbrechen. Aus ihren Schalen entstehen die Erde und das Himmelsgewölbe, aus dem Eigelb wird die Sonne und aus dem Eiweiß der Mond, aus dem Gesprenkelten der Eier bilden sich die Sterne, aus allem Dunklen die Wolken. Damit schließt die Vertonung.

    Der vollständige Text und eine Übertragung in Deutsche findet sich hier: http://www.lieder.net/lieder/get_text.html?TextId=17009


    Luonnotar – Die Form

    „Luonnotar“ wird als eine von Sibelius diversen Tondichtungen betrachtet. Sibelius selbst nennt das Werk so. Darum habe ich mich auch dazu entschlossen, das Werk trotz des Einsatzes einer Singstimme hier in der Kategorie „Orchesterwerke“ unterzubringen. Bisweilen ist der Versuch unternommen worden, genauer zu differenzieren und das Werk als Orchesterlied, „Szene für Sopran und Orchester“ oder gar als „Kantate für Sopran und Orchester“ zu etikettieren.

    Das Werk ist wie folgt besetzt:

    2 Flöten (Piccolo), 2 Oboen, 2 Klarinetten, Bassklarinette, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken (2 Spieler), 2 Harfen, Streicher, Singstimme.

    Eine typische Aufführung dauert um die 9 Minuten.

    Die Form des Werkes wird unterschiedlich gedeutet.

    David Hurwitz erkennt eine „strikte Sonatenform ohne Durchführung oder ABAB, ohne Coda“ (Hurwitz 147), andere differenzieren hier deutlicher und sehen einen A-B-A’-C-B (vgl. Caleb Hugo: "http://calebhugo.com/academic-writi…alytical-guide/), eine Sichtweise, die sich wiederum an James Hepokoskis Theorie von „rotierenden Zyklen“ innerhalb von „Luonnotar“ orientiert.

  • Benutzte Literatur

    Brügge, Joachim: Jean Sibelius. Symphonien und symphonische Dichtungen. Ein musikalischer Werkführer. München 2009.

    Bullock, Philip Ross (Hrsg.): The Correspondence of Jean Sibelius and Rosa Newmarch 19906 – 1939. Martlesham 2011.

    Hugo, Caleb: Analytical Guide Jean Sibelius, Luonnotar (Op. 70). "http://calebhugo.com/academic-writi…alytical-guide/ Eingesehen: 20.10.2017.

    Hurwitz, David: Sibelius. The Orchestral Works. An Owner’s Manual. New York 2007.

    Kalevala. Das finnische Epos des Elias Lönnrot. Aus dem finnischen Urtext übertragen von Lore und Hans Fromm. Nachwort und Kommentar von Hans Fromm. München 1979.

    Layton, Robert: Sibelius. London 1978.

    Ringbom, Nils-Eric: Jean Sibelius. Olten1950.

    Sibelius, Jean: Luonnotar für Singstimme und Orchester. Hg. v. Timo Virtanen. Wiesbaden 2005.

    Tawaststjerna, Erik: Jean Sibelius. Salzburg 2005.


    Aufnahmen

    Mir liegt die folgende Reihe von Aufnahmen der „Luonnotar“ vor, wobei ich mir keine speziell wegen des Werkes angeschafft habe. Es ist aufgrund der kurzen Spielzeit schlicht ein gern genommener Lückenfüller oder einfach im Rahmen einer Teil- oder Gesamtaufnahme der Tondichtungen mit dabei.

    01. Schnéevoigt (1934) – Helmi Liukkonen, Helsinki Philharmonic Orchestra [08:48]

    02. Hannikainen (1955) – Elisabeth Schwarzkopf, Helsinki Philharmonic Orchestra [08:54]

    03. Bernstein (1964) – Phyllis Curtin, New York Philharmonic [08:08]

    04. Dorati (1969) – Gwyneth Jones, London Symphony Orchestra [9:26]

    05. Berglund (1976) – Taru Valjakka, Bournemouth Symphony Orchestra [9:53]

    06. Gibson (1977) – Phyllis Bryn-Julson, Royal Scottish National Orchestra [09:13]

    07. Ashkenazy (1980) – Elisabeth Söderström, Philharmonia Orchestra [09:12]

    08. Järvi, N. (1992) – Soile Isokoski, Gothenburh Symphony Orchestra [08:29]

    09. Järvi, P. (1996) – Solveig Kringelborn, Royal Stockholm Philharmonic Orchestra [09:18]

    10. Davis, C. (2003) – Ute Selbig, Staatskapelle Dresden [09:49]

    11. Segerstam (2005) – Solie Isokoski, Helsinki Philharmonic Orchestra [08:49]

    Fast keine der mir bekannten Aufnahmen finde ich überdurchschnittlich misslungen. Tatsächlich bin ich der Meinung, dass der Großteil der genannten Produktionen gut anzuhören ist, wenngleich es innerhalb dieses Korpus’ natürlich Einspielungen gibt, die mich mehr berühren als andere. Ich kann und will nicht alle Titel ausführlich besprechen, sondern möchte bei Gelegenheit aus dieser Auswahl meine(n) Favoriten kurz vorstellen.

    Besonders freuen würde ich mich natürlich – wie immer – über ergänzende Beiträge aus fremder Feder.

    Zur Musik des Werkes in den nächsten Tagen ein paar persönliche Eindrücke.

    ***

    :wink: Agravain

  • Vielen Dank an Agravain für diesen sehr guten Beitrag über Luonnotar.

    Bei mir hatte es einige Zeit gedauert, bis der "musikalische Groschen" gefallen ist, d. h. es war eher eine "Liebe auf den zweiten Blick." Das Spröde, der Verzicht auf irgendwelche spätromantische Schwelgerei, sei es im Gesang oder im Orchester, hatte mich damals, als ich das Werk kennenlernte, etwas ratlos gemacht. Das hat sich inzwischen längst geändert und Luonnotar gehört für mich jetzt zu den liebsten Werken von Sibelius. Ich finde es generell spannend, wenn sich mir Werke nicht gleich von Anfang an erschließen, sondern ich mir sie erarbeiten muss, was manchmal ein paar Jahre dauern kann aber hinterher finde ich solche Werke erst richtig packend.

    Zu diesem "Erarbeitungsprozess" gehörte dann, dass ich mir einige Aufnahmen von Luonnotar zulegte. Die meisten davon finden sich in Agravains Auflistung und ich teile seine Einschätzung, dass keine misslungene Aufnahme dabei ist. Es gibt drei Aufnahmen, die mir besonders gut gefallen, die ich meistens auch immer höre:

    bzw. auch darin ehthalten:
    (AD: Mai 1984, Gothenburg Concert Hall); Spieldauer: 09:00 Minuten
    Mari Anne Häggander, Sopran / Gothenurg Symphony Orchestra / Jorma Panula

    Mari Anne Häggander hat ein eher dunkles Timbre und das passt für mich sehr gut zu diesem Werk. Die Expressivität des Werkes wird hier nahezu optimal dargestellt. Der Orchesterpart ist hier sehr kraftvoll und zupackend gestaltet und die Kraft der Natur, der Schöpfungsprozess, wird spürbar.

    Einen etwas anderen Interpretationsansatz hört man in dieser Aufnahme:


    (AD: September/Oktober 2011, Sibelius Hall, Lahti); Spieldauer: 09:09 Minuten
    Anu Komsi, Sopran / Lahti Symphony Orchestra / Sakari Oramo

    Anu Komsi, die sich immer wieder sehr für zeitgenössische Musik einsetzt und über eine sehr variabele Stimme mit vielen Farbpaletten und Ausdrucksnuancen verfügt, fühlt sich in Luonnotar bestens aufgehoben. Das Werk wird hier als moderne Musik verstanden wo irgendwelche Anflüge von Romantik o. ä. überhaupt keinen Platz mehr hat. Dieser vielleicht nüchterne Ansatz verleiht dem Werk einen herben Reiz, der mir sehr gut gefällt. Der Orchesterpart ist hier kammermusikalisch ausgeleuchtet und ich habe hier einige Details gehört, die in der ein oder anderen Aufnahme nicht so zum Tragen kamen. Eine Interpretation quasi wie unter dem Mikroskop.

    Dann greife ich auch immer zu der von Sibelius im Jahr 1915 erstellten Bearbeitung für Sopran und Klavier, die aber vor der Orchesterfassung im Druck erschien:


    (AD: April/September 2008, Kuusankosi Concert Hall, Finnland); Spieldauer: 08:48 Minuten
    Helena Juntunen, Sopran / Folke Gräsbeck, Klavier

    Juntunen hat einen hellen, lyrisch gefärbten Sopran und in dieser intimeren Version mit Klavier entsteht eine Stimmung, die dem Werk einen impressionistischen Glanz verleiht. Die Dramatik und der expressive Charakter kommen in dieser Fassung aber auch zur vollen Geltung. Das ist eine wie ich finde mehr als interessante Ergänzung des Aufnahmekatalogs.

    Hier kann man sich die Klavierfassung mit Chieko Okabe, Sopran und Jouni Somero, Klavier anhören: Luonnotar - Klavierfassung. Diese Interpretation gefällt mir übrigens sehr gut. Ein weiteres Lied von Sibelius "Säv, säv, susa", op. 36, Nr. 4 (1900) nach einem Text von Gustaf Fröding in schwedischer Sprache mit Okabe/Somero gibt es hier. Leider ist diese Aufnahme z. Zt. nicht verfügbar.

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

  • Mir steht diese Aufnahme zur Verfügung.

    Leonard Bernstein
    Phyllis Curtin, Sopran
    New York Philharmonic Orchestra
    Aufnahme: 19.10.1965, Philharmonic Hall (nun Avery Fisher Hall), Lincoln Center, New York City (CD Sony SMK 61848).

    Ich finde das Dramatische, Rezitativische, gegen Ende hin auch Volksliedhafte, getragen von doch so wie ich es mit dieser Aufnahme höre einer hochromantischen naturhaften, aufgeladen angespannten Atmosphäre, sehr unmittelbar mitreißend und bewegend. Dank auch hier an Agravain für den Impuls, dieses Werk zu hören!

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Persönliches zur Musik

    David Hurwitz ist sich ziemlich sicher: „Die Geschichte ist so schräg und mittels Musik so schlecht zu beschreiben, dass sich Sibelius auch gar nicht erst mit bildlichen Details aufhält, von etwas Wind und Wellen in den Harfen einmal abgesehen.“(Hurwitz, S. 157)

    Ob es tatsächlich an dem ist, wage ich an dieser Stelle einmal zu bezweifeln. Ich mag natürlich vollkommen falsch liegen und zu viel in die Musik Sibelius‘ hineindichten, aber es scheint mir doch schon so zu sein, dass sich Sibelius bei seiner Vertonung streckenweise recht genau am Text und der von diesem heraufbeschworenen Atmosphäre orientiert hat.

    Schon der Streicher-Beginn in fis-Moll (piano) "malt" jenen leeren, vorweltlichen Raum, durch den die Winde wehen, auf denen Luonnotar, die Tochter der Luft, umherschwebt. Wenn die Sopransolistin quasi-rezitativisch einsetzt und davon berichtet, dass Luonnotar sich in der riesenhaften Leere vereinsamt fühlt, schweigt fast das komplette Orchester, nur die Holzbläser schaffen im fernen Hintergrund mit lang ausgehaltenen Akkorden eine unwirtlich fahle Atmosphäre. Dann erneut das „Wind-Motiv“ in den Streichern. Erneut setzt die Sopranstimme ein und berichtet davon, wie sich Luonnotar ins Meer gesenkt hat, in dem sie fortan 700 Jahre lang umhertreibt, wieder unendlich einsam, immer auf der Suche nach einem Gegenüber. Plötzlich wühlt ein Windstoß das Meer auf, die Harfen rauschen. Die Sopranstimme wechselt die „Rolle“ und klagt (nun in b-Moll) als Luonnotar darüber, dass dieses Leben noch schlimmer sei, als das Leben als Geist der Luft. Dazu – konsequent – wieder kaum orchestrales Geschehen, stattdessen wieder nur düstere Halteakkorde in Harfen und tiefen Streichern. Faszinierend finde ich, wie eindringlich Sibelius die Klage der Luonnotar mit Hilfe von Seufzermotivik unterstreicht.

    Nachdem sie den höchsten Gott Ukko um Hilfe angerufen hat, kommt wieder Bewegung in die Partitur. Der Wind weht wieder über das unendliche Meer. Plötzlich erscheint eine absteigende, flatternde Sechzehntelbewegung in Flöten und Oboen. Der Sopran – nun wieder in der Erzählerrolle – berichtet, wie eine Tauchente umherfliegt, darauf hoffend in der unendlichen Weite einen Nistplatz zu finden. Dieses wohl dem Vogel zugehörige Motiv taucht dreimal auf. Es folgt der dreimalige Angstschrei („Ei!“ / „Nein!“) der Ente, in deren Rolle der Sopran nun schlüpft. Es ist für die Interpretinnen dieses Werkes die gefürchtetste Stelle, denn nachdem zunächst ein (unproblematisches) a‘‘ im poco forte und ein ces‘‘‘ ebenfalls im poco forte erreicht werden muss, schließt sich unmittelbar an letzteres ein ces‘‘‘ im pianissimo an, das nicht eben immer vortrefflich gelingt. Es folgt der verzweifelte Gesang der Ente, die befürchtet, dass ihr Nest von den Wellen zerstört werden wird. In der Darstellung der Zerstörungskraft von Wind und Wellen erreicht das Werk dann auch seinen dynamischen Höhepunkt.

    Danach nimmt die Sopransolistin erneut die Rolle der Erzählerin ein und berichtet gleichsam wie in Trance vor wieder enorm beklemmend wirkenden Halteakkorden davon, wie Luonnotar ihr Knie aus dem Wasser hebt, um dem Vogel einen Nistplatz zu bieten, sich aber dann schlussendlich bewegt, woraufhin das Nest zerstört wird und die Eier zerbrechen. Die Atmosphäre wird immer unwirklicher.Visonarico soll der Sopran davon berichten, wie sich aus den zerbrochenen Schalen der Eier Welt und Firmament bilden. Überraschend endet das Werk dann in Fis-Dur mit dem Blick in die neuerschaffenen Sterne.

    :wink: Agravain

  • Hannikainen (1955) – Elisabeth Schwarzkopf, Helsinki Philharmonic Orchestra [08:54]

    Ich war – das gebe ich frank und frei zu – nie ein besonderer Fan von Elisabeth Schwarzkopf. Dennoch war ich neugierig darauf, wie sie wohl dereinst auf dem Sibelius-Festival des Jahres 1955 in Helsinki die „Luonnotar“ gesungen hat. Immerhin soll sie nach der Aufführung mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Tauno Hannikainen gesagt haben, dass das das beste sei, was sie in ihrem Leben gemacht habe. So eine Aussage weckt natürlich Interesse.

    Und was soll ich sagen: Ich bin begeistert. Nicht so sehr von der Klangqualität, die ist bei diesem Live-Mitschnitt nicht besonders, aber doch immerhin erträglich. Begeistert bin ich – und es überrascht mich selbst – davon, mit welch ungeheurem Maß an Intensität sich die Schwarzkopf diesem Werk widmet. Vielleicht war es die Herausforderung, die dieses Stück bot, ein Stück das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl nicht eben häufig gespielt wurde und als in jeder Hinsicht höchst anspruchsvoll galt. Was auch immer der Grund für diese Ausnahmeaufführung gewesen sein mag: es bleibt eine Ausnahmeaufführung. Die Schwarzkopf, so wirkt es auf mich, singt die Luonnotar nicht, sie ist sie, sie ist die Tauchente, sie ist die visionäre Stimme des "Kalevala".

    Das ist rundherum schlicht hochexpressiv interpretiert, unerbittlich, mit einer eigentümlich dunklen Stimmfärbung und dennoch glasklar, hochgradig szenisch gedacht, bei jedem Ton aufs Intensivste involviert, jedoch ohne jegliches Anzeichen von interpretatorischer Überfrachtung. Da ist es auch vollkommen nebensächlich, dass ihr der dritte Schrei der Tauchente nicht einhundertprozentig gelingt, das hohe a nicht eben gut sitzt und das anschließende ces wahrscheinlich anders gedacht war, als es klingt. Dafür gelingt es keiner anderen mir bekannten Sängerin, beispielsweise die existenzielle Angst am Ende der Enten-Episode derart tief ins Fleisch des Hörers zu schneiden, wie der Schwarzkopf - von ihrem leuchtend-visionären Ton bei der Rückung in die Sternenwelt des Fis-Dur am Ende des Stückes einmal ganz abgesehen.

    Eine große Aufnahme.

    :wink: Agravain

  •  

    Gibson (1977) – Phyllis Bryn-Julson, Royal Scottish National Orchestra [09:13]

    Eine weitere Aufnahme, die ich hier kurz vorstellen möchte, entstand 1977 unter der Leistung des schottischen Sibelius-Spezialisten Sir Alexander Gibson. Es singt die amerikanische Sopranistin Phyllis Bryn-Julson. Und es ist m.E. eine herausragende Aufnahme – und zwar aus völlig anderen Gründen als die der Schwarzkopf. Fasziniert diese besonders aufgrund der Tatsache, dass die Solistin gleichsam als Naturgewalt auftritt und den Hörer dadurch unmittelbar überwältigt, so ergibt sich das Alleinstellungsmerkmal dieser EInspielung weniger aus der ungeheuren persönlichen Ausstrahlung der Solistin, sondern daraus, dass Gibson und Bryn-Julson eine Interpretation wie aus dem Lehrbuch vorlegen. Doch Obacht: Wir sprechen nicht von einem angestaubten Wälzer, sondern von einem der seltenen Fälle eines enorm mitreißenden Lehrbuches!

    Liest man beim Hören die Partitur mit, so offenbart sich wie eng sich Gibson und das hervorragend aufspielende Scottish National Orchestra an den Vortragsbezeichnungen Sibelius‘ orientieren und diese auf das Genaueste umsetzen. Und das klingt beim besten Willen nicht - wie man das vielleicht zunächst vermuten mag - nach Herunterbuchstabiererei. Im Gegenteil: Wie spannend gestaltet sich der musikalische Fluss, wenn besipielsweise pianissimo immer wieder klar gegen piano oder piano klar gegen mezzopiano abgestuft wird. Das ist natürlich eine Binsenweisheit und eine differenzierte Darstellung sollte natürlich selbstverständlich sein – aber nicht selten ist sie es, wie wir alle wissen, eben auch nicht. Hier indes wird’s erfreulicherweise allseits Ereignis.

    Ein besonders klares Beispiels sind auch die drei Rufe der Tauchente („Ei!“), die zweimal poco forte und dann im pianissimo erklingen sollen. In vielen Darstellungen ist das poco forte jedoch ein deutliches forte, bisweilen ist auch so laut, wie später das forte fortissimo (Takt 149 auf „viepi“). Nicht so bei Pyllis Bryn-Julson. Da kann man den dynamischen Unterschied ohne jegliche Anstrengung wahrnehmen. Überhaupt liefert sie eine durchweg glänzende Interpretation der Partie. Dabei skizziert sie einen ganz anderen „Luftgeist“ als die Schwarzkopf. Gibt jene eher eine Titanin, so zeichnet Bryn-Julson eine mädchen-, ja geradezu sylphidenhafte Luonnotar. Besonders gefällt mir ihr vollkommen lichtes Timbre, ihre ganz leicht geführte Stimme, der man beim ersten Hören schnell fälschlich mangelnde Durchschlagskraft unterstellen mag. Dass es indes nicht an jener mangelt, zeigt ihr kraftvolles Auftrumpfen vor dem von Gibson orchestral in keiner Weise zurückgenommenen Höhepunkt am Ende der Tauchentenpassage (Takte 141 ff.). Begeistert bin ich zudem ganz besonders von der Tatsache, wie konsequent sie sich bei ihrer Darstellung der Partie daran hält, dass lange Abschnitte eben als piano, pianissimo oder bisweilen (so zu Beginn der Klage der Luonnotar) sogar als misterioso piano markiert sind. Dies lange Verbleiben im dynamisch Verschatteten trägt enorm zur gelungenen Darstellung der durchweg mystischen Atmosphäre bei. Und ich möchte sagen: Das gelingt nicht vielen der mir bekannten Interpretinnen.

    Eine Aufnahme, die man nach meinem Dafürhalten gehört haben sollte.

    :wink: Agravain

  • Diese Neuaufnahme erscheint Anfang Juli 2021:
    wird dann auch als Stream verfügbar sein, z. B. hier
    (AD: 07. - 09. Mai 2018 [opp. 70, 46 & 16] & 16. - 19. Februar 2021 [opp. 14 & 112], Grieghallen, Bergen)

    Lise Davidsen, Sopran
    Bergen Philharmonic Orchestra
    Edward Gardner

    Weitere Infos gibt es hier.

    "Musik ist für mich ein schönes Mosaik, das Gott zusammengestellt hat. Er nimmt alle Stücke in die Hand, wirft sie auf die Welt, und wir müssen das Bild zusammensetzen." (Jean Sibelius)

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