Brahms: Schicksalslied op. 54
Zur Entstehung
In seinen „Erinnerungen an Johannes Brahms“ berichtet Albert Dietrich die folgende Begebenheit: „Im Sommer kam Brahms noch einmal um mit Reinthaler’s und uns einige Parthien in die Umgegend zu machen. Eines Morgens fuhren wir zusammen nach Wilhelmshaven. […] Unterwegs war der sonst so muntere Freund still und ernst. Er erzählte, er habe am Morgen […] im Bücherschrank Hölderlin’s Gedichte gefunden und sei von dem Schicksalslied auf das Tiefste ergriffen. Als wir später […] am Meer saßen, entdeckten wir bald Brahms in weiter Entfernung, einsam am Strand sitzend und schreibend. Es waren die ersten Skizzen […]. Er eilte nach Hamburg zurück, um sich der Arbeit hinzugeben.“ (A. Dietrich: Erinnerungen an Johannes Brahms in Briefen. Leipzig 1899. S. 65. Zit. n. Boss, Rainer: Vorwort zu Johannes Brahms Schicksalslied. Stuttgart 2014. S. 2)
Tatsächlich ist diese Darstellung des Beginns der Entstehung von Johannes Brahms „Schicksalslied“ selten in Zweifel gezogen worden. Doch mag man sich schon die Frage stellen, ob der Gang der Ereignisse so war, wie beschrieben, und zwar nicht nur, weil die Darstellung durch Dietrich stark romantisiereden, ja fast toposhafte Züge aufweist (der erschütterte Künstler, der einsame Künstler am Ozean, die Geburt des Kunstwerkes im Angesicht der erhabenen Natur). Annette Kreutziger-Herr weist zudem noch in ihrem Aufsatz zu Brahms‘ „Schicksalslied“ darauf hin, dass der Bericht „eine gewisse Zufälligkeit und gleichsam analog einer ‚Sternstunde der Menschheit‘ den Bücherfund als Kompositionsanlaß [suggeriert].“ (Kreutzinger-Herr, S. 352) Darüber hinaus weist sie darauf hin, dass Brahms schon in den fünfziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts über Schumann mit den Dichtungen Hölderlins bekannt gemacht worden war und dass laut Nachlassverzeichnis Brahms im Besitz der 1846 bei Cotta in Stuttgart/Tübingen erschienenen zweibändigen Ausgabe der Werke war, die er auch für die Komposition des Werkes genutzt hat. (vgl. Kreutzinger-Herr, S. 353). Wann Brahms in den Besitz dieser Ausgabe kam, ist allerdings unklar. Aber dennoch mag man sich die Frage stellen, ob dereinst in Wilhelmshaven tatsächlich der erste Kontakt zu Hölderlins Gedicht stattgefunden hat oder ob es sich um eine neuerliche Begegnung mit dem Text handelte, die „als eine späte Nachwirkung der Schumannschen Anregung“ (Kreutzinger-Herr, S. 354) in die Komposition des „Schicksalsliedes“ mündete.
Wie dem auch sei: Die Arbeit an der Komposition faszinierte Brahms zwar – er legte dafür die Arbeit an seinem „Triumphlied“ zur Seite –, sie ging ihm aber offensichtlich nicht leicht von der Hand. Erst am 18. Oktober 1871 wurde das Werk in Karlsruhe uraufgeführt.
Der Instrumentalschluss
Das Problem, das Brahms insbesondere umtrieb, war die Schlussgestaltung der Komposition. Nach Abschluss der Partitur scheint es zu Diskussionen mit Hermann Levi und Reinthaler gekommen zu sein. Grund dafür war, dass Brahms zum einen das Werk nicht mit der Darstellung des Menschenschicksals abgeschlossen hatte, sondern mit einem epilogartigen Instrumental-Adagio in C-Dur, ohne den Chor noch einmal mit einzubeziehen. Offenkundig hatte er lange und immer wieder darüber nachgedacht, den Chor doch einzusetzen, sei es auf „Ah“ vokalisierend sei es im Rückbezug auf die ersten Textzeilen: „In den Takten 390-395 und 402-406 skizziert Brahms mit Bleistift einige Chortakte in den bereits fertigen, mit Abschlussdatum versehenen Instrumentalschluß hinein, […]. Im Gegensatz zum Beginn des Werkes, in dem erst der Alt einsetzt, dem der Chor dann folgt, sah Brahms ab Takt 390 gleich einen vollen Choreinsatz vor. Die insgesamt elf Takte sind flüchtig geschrieben, mehr skizziert – man sieht förmlich das Nachdenken. Um so entschiedener die Ausstreichungen, die diesem Ausflug in eine Wiederaufnahme des Beginns des Stückes ein Ende setzen.“ (Kreutzinger-Herr, S. 356)
In einem Brief an Reinthaler vom 24.10.1871 setzte Brahms der Diskussion ein Ende: „Das Schicksalslied wird gedruckt, und der Chor schweigt im letzten Adagio. […] Ich war so weit herunter, daß ich dem Chor was hingeschrieben hatte; es geht ja nicht. Es mag so ein misslungenes Experiment sein, aber durch ein solches Aufkleben würde ein Unsinn herauskommen. Wie wir genug besprochen: ich sage ja eben etwas, was der Dichter nicht sagt, und freilich wäre es besser, wenn ihm das Fehlende die Hauptsache gewesen wäre.“ (Zit. n. Boss, S. 3)
Der Adagio-Epilog des Schicksalsliedes wird gern wie folgt beschrieben: „Nichts ist im ganzen Werk schöner als das allmählich wiederkehrende Licht im Orchesternachspiel – nicht, wie anfangs, in Es-Dur, sondern in einem leuchtenden C-Dur, das glänzt, als wäre es von einem Heiligenschein umgeben.“ (Chissell, S. VIII.) Dieser musikalische Heiligenschein, er wird im Allgemeinen als „die ganz persönliche Umdeutung des Schicksalsgedankens aus der Sicht des Komponisten: Götter- und Menschenwelt vereint in einem eindrucksvollen Adagio-Ausklang, der voller Hoffnung Brahms ‚Schicksalslied‘ beendet.“ (Boss, S. 3) Annette Kreutzinger-Herr warnt indes davor, ein allzu einfaches Schema à la These (Götterwelt) – Antithese (Menschenwelt) – Synthese (Vereinigung von Götter- und Menschenwelt) anzunehmen. Eine solch simplifizierende Sichtweise gebe die Struktur des Werkes nicht her. Vielmehr sei „hörbar und im Tonartenplan erkennbar, daß Brahms keine Synthese zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre erstrebt, keine Versöhnung, jedoch eine Entwicklung mit tröstlichem Ausgang, die aus der Nähe des Göttlichen zum Menschlichen erwächst. Keine Verhinderung der Aufnahme des Menschlichen in das Reich des Göttlichen wird auskomponiert, vielmehr Brahms‘ grundsätzliche philosophische Einstellung des Mitleids mit allem Lebenden.“ (Kreutzinger-Herr, S. 361)
Der Text
Friedrich Hölderlin: Hyperions Schicksalslied aus Hyperion (1799)
Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.
Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.
Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.
Die Form
I. Abschnitt: Langsam und sehnsuchtsvoll
Exposition (Takte 1-28)
Teil A (Takte 29-69, Es-Dur – B-Dur)
Teil A‘ (Takte 69-103, Es-Dur)
II. Abschnitt: Allegro
Teil B (Takte 104-379, c-Moll)
III. Abschnitt: Adagio
Orchestrale Coda (Takte 380-409, C-Dur)
Besetzung
2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streicher, vierstimmiger Chor
Benutzte Literatur
Brahms, Johannes: Schicksalslied op. 54. Vorwort von Joan Chissell. London 1979.
Brahms, Johannes: Schicksalslied op. 54. Hg. von Rainer Boss. Stuttgart 2014.
Kreutziger-Herr, Annette: Hölderlin, Brahms und das ‚Schicksalslied‘. In: Johannes Brahms: Quelle, Text, Rezeption, Interpretation. Internationaler Brahms-Kongreß Hamburg 1997. Hg. von Friedhelm Krummacher und Michael Struck in Verbindung mit Constantin Floros und Peter Petersen. München 1999. S. 343-373.
Ravizza, Victor: Schicksalslied für Chor und Orchester op. 54. In: Brahms Handbuch. Hg. von Wolfgang Sandberger. Kassel 2009.