Gibt es alte Musik?

  • Selbst wenn man die Partitur als "Werk" betrachtet, welches mit dem letzten Ton "abgeschlossen" ist: Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, dass sie (wie Du geschrieben hast) keine Musik ist.

    dann ist es eben keine Musik, was der Komponist (und ein erfahrener und klangphantasiebegabter Partiturleser) in seinem inneren Ohr vernimmt. Vielleicht: "potentielle Musik"?
    Zumindest hat es schon irgendwie mit Musik zu tun, also z.B. u.A. mit zeitlichen Verläufen akustischer Ereignisse, auch wenn die dann nur vorgestellt sind - es braucht dieselbe Zeit, sie innerlich "ablaufen" zu lassen, wie es halt lang ist. (u.A. deswegen ist eben auch Komposition eine recht zeitintensive Beschäftigung, auch wenn manches neben dem Alltag im Kopf passieren kann.)
    Gerade hier gibt es den Punkt, den ich gerne einräume: der Komponist täuscht sich oft über im realen Aufführungsgeschehen funktionierende Tempi. Aber er kennt das Stück halt auch schon länger und vergisst u.U., in welchem Maße das, was er als "Gestalt" hört, zur Entfaltung Zeit braucht, um auch in anderen Ohren vernehmbare und deutliche Gestalt zu werden.

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    daß Alles für Freuden erwacht

  • aber wenn man statt dessen Beethovens eigene Kadenzen nimmt, ist der Unterschied zur Improvisation kaum noch erkennbar.

    Das ist aber nur eine Frage der Wahrnehmung. Auch die Kadenzen sind ja notierte Musik und insofern für einen Interpreten reproduzierbar, wie das Konzert selber. Sie klingen wie improvisiert, sind es aber nicht.
    Jazzmusik ist ja ihrem Charakter nach immer improvisiert, obwohl es hier natürlich auch eine Menge Standards gibt, die im Konzert durchaus ähnlich klingen und leicht wiedererkannt werden können. Aber die Musiker (wenn es gute sind) versuchen immer ein neues musikalisches Gewand dafür zu finden. Ein gutes Beispiel ist Keith Jarret, der sowohl eine große Zahl von Standards (im Trio mit Jack De Johnette und Gary Peacock) eingespielt hat, und ausserdem freie Improvisationen auf dem Klavier. Es handelt sich in beiden Fällen um improvisierte Musik, aber der Charakter ist vollkommen anders.
    Und jemand der häufig Jazz hört, merkt sofort den Unterschied zwischen der Musik von Kapustin und improvisiertem Jazz, weswegen viele Puristen von dessen Musik nicht allzuviel halten.

    Peter

    "Sie haben mich gerade beleidigt. Nehmen Sie das eventuell zurück?" "Nein" "Na gut, dann ist der Fall für mich erledigt" (Groucho Marx)

  • muss ich, um die ungeklärte Existenzweise einer Komposition bis zur Aufführung nicht aus den Augen/Ohren zu verlieren, ihr gleich den Werkcharakter absprechen?

    Hier verstehe ich zwei Sachen nicht. Zum einen das Verb »muss«. Wer hat denn gesagt, dass Du irgendetwas musst? Tu es oder lass es sein, wie es Dir gefällt. Aber wenn Du findest, dass es nicht sinnvoll ist, begründe, warum es nicht sinnvoll ist, und setze Dich nicht stattdessen gegen einen Zwang zu Wehr, den es gar nicht gibt.


    Ich finde, man kann hier die Abgeschlossenheit und eben in Bezug aufs reale Erklingen Unabgeschlossenheit gut nebeneinander stehen lassen.

    Das hört sich nun so an, als wäre die Frage, die hier gestellt ist, schon abschließend geklärt, so dass also klar ist, was da abgeschlossen ist oder nicht, und wovon überhaupt die Rede ist. Mir ist dieser wichtige Schritt anscheinend entgangen. Wann ist der gemacht worden?


    dann ist es eben keine Musik, was der Komponist (und ein erfahrener und klangphantasiebegabter Partiturleser) in seinem inneren Ohr vernimmt. Vielleicht: "potentielle Musik"?

    Das verstehe ich nicht. Ich würde sagen, ein Phänomen kann nur entweder existieren oder nicht. Eine »potenzielle Existenz« scheint mir ein Oxymoron, auch die Vorstellung von etwas, das nur zum Teil existiert, ist m. E. unsinnig, weil das, was da existiert, eben ganz existiert. Nehmen wir als Beispiel ein Hausfundament: Es exiostiert nicht zum Teil, sondern ganz, wenn es fertig ist. Auch vorher existiert es nicht teilweise, sondern seine verschiedenen Ausbaustufen existieren jeweils ganz. Und das Haus existiert nicht zum Teil, wenn das Fundament da ist, sondern es entsteht nach und nach. Wenn es dann fertig ist, ist es fertig. Vorher waren es andere Phänomene, die eben nicht das Haus sind (denn wären sie es, wäre das Haus ja fertig, und man könnte auf dem Fundament wohnen. Ein »potenziell existierendes« Haus wäre eines, das zwar nicht existiert, aber doch existiert. Und eine Musik, die »potenziell« existiert, wäre ein Klangereignis, das zwar stattfindet, aber ohne Klang. Sozusagen ein Wasser, dass nicht nass macht, oder eine Nacht, in der die Sonne scheint, ein saures Getränk, das nicht sauer ist usw. Was der Komponist mit dem inneren Auge hört, ist ein Ereignis im inneren Ohr, also kein Klangereignis. Wäre das Musik, müssten wir uns eine Definition des Begriffs Musik ausdenken, der darauf verzichtet, sie als klingendes Phänomen zu beschreiben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das sinnvoll oder auch nur möglich ist. (Und noch einmal: Wäre das, was im Bewusstsein des Komponisten abläuft, die Musik, müsste die Partitur nicht mehr aufgeschrieben und das Stück nicht mehr gespielt werden, die Musik müsste nicht mehr in die Existenz treten, weil sie ja schon existiert, Konzerte wären also sinnlos. Ich fürchte, mit der »potenziellen Musik« kommt man nicht weit.)

  • Wann ist der gemacht worden?

    in dem Moment, wo der Komponist mit seinem Teils des Werkes fertig ist, also das Gefühl hat, "es ist gut jetzt".
    Ist manchmal eine Täuschung, und nach Aufführungen (oder während Proben) werden noch Details verändert, manchmal auch ganze Konzeptionen umgestoßen.
    Alle Werke, die so gespielt werden (oder zumindest die meisten) sind irgendwann von Komponistenseite für fertig (oder aufführungsreif) erachtet worden.

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  • Meine Frage bezog sich auf diese Debatte, deren Ausgangsfrage Du als beantwortet annimmst, weshalb ich fragte, wann diese Antwort gegeben worden ist.

    (Was das Ende des Werkentstehungsprozesses betrifft, von dem Du wohl zu sprechen scheinst, lass mich – obwohl das hier gar nicht hergehört – kurz erwähnen, dass auch musikalische und andere künstlerische Werke demselben Schicksal unterliegen wie alle Phänomene in der Welt: Es gibt keine Konstanz, alles ohne Ausnahme ist im ständiger Veränderung begriffen. Das ist eigentlich eine sehr alte philosophische Binsenweisheit, die schon in vielen Philosophen der Antike aber auch schon etwas vorher dem Buddha als selbstverständlich galt: Es gibt kein Sein, es gibt nur Werden.)

  • Was der Komponist mit dem inneren Auge hört, ist ein Ereignis im inneren Ohr, also kein Klangereignis. Wäre das Musik,

    ... und wäre das keine Musik, so wären die Komponisten nur insoweit als "Musiker" zu bezeichnen, als sie u.U. auch "ausübenden Musiker" waren.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Was der Komponist mit dem inneren Auge hört, ist ein Ereignis im inneren Ohr, also kein Klangereignis. Wäre das Musik, müssten wir uns eine Definition des Begriffs Musik ausdenken, der darauf verzichtet, sie als klingendes Phänomen zu beschreiben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das sinnvoll oder auch nur möglich ist.

    ob sinnvoll oder nicht: man muss es als Komponist tun und hat dabei das Gefühl, sich mit Musik zu beschäftigen.

    Mal ganz unabhängig von solchen eher theoretischen und begrifflichen Erwägungen würde ich schon sagen, daß es sowas wie "alte Musik" gibt. Es fühlt sich jedenfalls anders an, ein Stück zu spielen, das in wesentlichen Punkten festgelegt ist, als zu improvisieren, auch wenn dabei durchaus keine wirklich "neuen" Melodien entstehen. da gibt es sicher Unschärfen und Übergänge (z.B. Kadenzen im Konzert oder Improvisation über bekannte Stücke, aber es fühlt sich, ich kann das nur so wiederholen, anders an, wenn ich mitten im Stück den Stil ändern kann, die Richtung spontan wechseln etc. Das könnte sich mancher Interpret in der Klassik vielleicht auch erlauben, aber meistens tut er es eben nicht, weil die Abmachung schon irgendwie ist, daß, wenn Intermezzo soundso von Brahms auf dem Zettel steht, der Pianist nicht mit Bossanova-Figuren ind er linken Hand experimentieren wird.
    Das ändert an der von Dir vertretenen Gegenwärtigkeit nichts, relativiert sie aber ein bißchen. Gegenwärtiger fühlt es sich an, wenn plötzlich ALLES möglich ist. Und danach kann ach ein klassisches Stück plötzlich eine ganz neue Gegenwärtigkeit gewinnen. Für mich. Ich habe keine Zweifel daran, daß es anderen Interpreten möglich ist, dieselbe Intensität von Beginn an auch mit Musik, die nach (alten?) Noten gespielt wird, zu erreichen.

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  • ... und wäre das keine Musik, so wären die Komponisten nur insoweit als "Musiker" zu bezeichnen, als sie u.U. auch "ausübenden Musiker" waren.

    Du redest vom "Musiker", bevor Du definiert hast, was "Musik" ist. Das scheint mir die falsche Reihenfolge zu sein. Sie führt zu einer Definition von "Musik", die kein Klangereignis ist, worin ich keinen Sinn erkennen kann. Dagegen habe ich kein Problem damit, z.B. einen Dirigenten unter den Oberbegriff "Musiker" zu fassen, auch wenn der nur stumme Bewegungen vollführt, die ebensowenig "Musik" sind wie die Partitur des Komponisten.

    Es fühlt sich jedenfalls anders an, ein Stück zu spielen, das in wesentlichen Punkten festgelegt ist, als zu improvisieren

    Meine These ist ja auch nicht, dass es gar keinen Unterschied gibt, sondern dass dieser nicht prinzipiell ist. Überschneidungen gibt es ja nicht nur bei den genannten Kadenzen, sondern z.B. auch bei Verzierungen, aleatorischen Stücken oder Elementen usw..

    Christian

  • Meine These ist ja auch nicht, dass es gar keinen Unterschied gibt, sondern dass dieser nicht prinzipiell ist.

    Da würde ich Dir einerseits zustimmen: Musik ist, wenn jemand musiziert. Und wenn es gelingt, hat auch die Improvisation etwas "wie in Stein gemeißeltes", wo man das Gefühl hat, das könnte durch eine komponierte Ausarbeitung nicht wesentlich gewinnen, und die Aufführung eines "alten" "Werkes" klingt, als entstünde es in diesem Moment.
    Das ist sozusagen ein Ziel, das man haben kann - das ich auch habe - daß der Unterschied nicht mehr wirklich spürbar ist.

    Du redest vom "Musiker", bevor Du definiert hast, was "Musik" ist. Das scheint mir die falsche Reihenfolge zu sein. Sie führt zu einer Definition von "Musik", die kein Klangereignis ist, worin ich keinen Sinn erkennen kann.

    wenn das, was in meinem (und vermutlich auch in manchen anderen - auch Deinem?) Kopf spazieren geht, nach Deiner Definition keine Musik ist, soll mir das Recht sein. es sind jedenfalls keine Fussballspiele, auch keine Gedichte, sondern musikalische Ideen mit dem Potential, Musik zu werden. Und man kann schon - für Dich begrifflich falsch - sagen, daß einem "Musik durch den Kopf geht", oder daß man sich "Musik ausdenkt" bzw einem z.B. eine "Melodie einfällt" oder ein Bassverlauf dazu. Oder ist es auch erst eine "Melodie", wenn sie gespielt wird? ist ein Kontrapunkt erst ein Kontrapunkt, wenn Punkt und Kontra real gespielt erklingen?
    ich wäre da - bei allem Respekt vor der notwendigen Betonung des real Erklingenden - mit den Begriffen nicht zu streng.

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  • Aber mal wieder zurück zum Thema "gibt es alte Musik?"

    ich finde schon, daß den Kompositionen immer auch viel von ihrer Entstehungszeit anhaftet - ist mir erst kürzlich beim "Schicksalslied" aufgefallen, das hier Thema war. Die Welt der Götter mit so viel verminderten und sonstwie chromatischen Zwischendominanten zu zeichnen, ist halt schon typisch (deutsche) Spätromantik.
    Oder gerade Barockmusik: für manche ist da die Assoziation "höfisch" kaum wegzukriegen, gerade in den stilisierten Tänzen, die ja nun mal einen großen Teil barocker Instrumentalmusik ausmachen. Man hört da gern - wenn man mit den stilistischen Feinheiten und Unterschieden nicht so vertraut ist - daß alles irgendwie "gleich" klingt, aus der (zeitlichen) Ferne. Und das hat schon damit zu tun, daß die Musik in gewisser Weise doch recht "alt" ist.
    Spätere Musik klingt schon näher, die Symphonien etc, die es seit der Entwicklung eines bürgerlichen Konzertwesens gibt, klingen schon ´kaum jemandem mehr "höfisch".
    Natürlich ist es Aufgabe des Musikers, irgendwie eine Nähe oder Unmittelbarkeit zu erzeugen - bei manchen Stücken geht es fast von selbst, bei manchen ist mehr Einsatz, gestalterischer vor Allem, gefragt.
    Daß es nicht selbstverständlich ist, zeigt sich bei jedem, der meint, man müsse ja nur "die Noten spielen".

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  • ich finde schon, daß den Kompositionen immer auch viel von ihrer Entstehungszeit anhaftet

    Sicherlich, aber schon die Entscheidung, eine alte Komposition zu nehmen und Klang werden zu lassen, ist ja eine gegenwärtige, die Durchführung wie gesagt sowieso. Dass sich Musik auf Vergangenes beziehen, es zum Thema haben kann, ist doch unbestritten. Sie findet aber dennoch in der Gegenwart statt.

    wenn das, was in meinem (und vermutlich auch in manchen anderen - auch Deinem?) Kopf spazieren geht, nach Deiner Definition keine Musik ist, soll mir das Recht sein.

    Es ist auch nach Deiner Definition keine Musik:

    Musik ist, wenn jemand musiziert.

    Christian

  • ... und wäre das keine Musik, so wären die Komponisten nur insoweit als "Musiker" zu bezeichnen, als sie u.U. auch "ausübenden Musiker" waren.

    Wenn man päpstlicher sein will als der Papst, wäre das vielleicht so. Aber dazu zwingt einen ja keiner. Und da es hier um eine Berufsbezeichnung geht, deren deren Wort nicht unbedingt nach wissenschaftlichen Maßstäben gebaut sein muss, kann man da tolerant sein.


    ob sinnvoll oder nicht: man muss es als Komponist tun und hat dabei das Gefühl, sich mit Musik zu beschäftigen.

    Den Satz verstehe ich nicht. Ich verstehe ihn inhaltlich nicht, bin auch nicht sicher, was hier eigentlich das Satzobjekt ist, und verstehe deshalb auch nicht, wie er in diesen Zusammenhang gehört.

    Mal ganz unabhängig von solchen eher theoretischen und begrifflichen Erwägungen würde ich schon sagen, daß es sowas wie "alte Musik" gibt.

    Du verwirrst mich immer mehr. Wie kann man die Erörterung eines theoretischen Problems unabhängig von theoretischen und begrifflichen Erwägungen führen und die Frage auch gleich beantworten? Deine Aussage wäre doch in diesem Zusammenhang nur dann sinnvoll, wenn die Frage lauten würde: »Glaubst du, dass es so etwas wie alte Musik gibt?« Aber so lautet sie nicht.

    Das ändert an der von Dir vertretenen Gegenwärtigkeit nichts, relativiert sie aber ein bißchen.

    Das geht nicht. Etwas ist entweder gegenwärtig oder nicht. Ein bisschen Gegenwart geht nicht. Ein Ereignis findet entweder in der Gegenwart oder in der Vergangenheit oder in der Zukunft statt. (Genau genommen kann in den Gegenwart kein Ereignis stattfinden, weil sie nichts ist als der Punkt, wo Vergangenheit und Zukunft zusammenstoßen, aber wir wollen es da nicht übergenau nehmen.) Da ist kein Raum für Relativierung. Entweder findet das musikalische Ereignis jetzt (im etwas erweiterten Sinne) statt, oder es hat schon stattgefunden, oder es wird stattfinden. Dass irgendetwas ein bisschen jetzt stattfindet, ist ausgeschlossen.


    Und man kann schon - für Dich begrifflich falsch - sagen, daß einem "Musik durch den Kopf geht", oder daß man sich "Musik ausdenkt" bzw einem z.B. eine "Melodie einfällt" oder ein Bassverlauf dazu.

    Gewiss kann man das. Man kann auch sagen, dass einem die Haare zu Berge stehen, obwohl sie sich nur aufrichten und kein Berg in der Nähe ist. Oder man kann sagen, dass einem der kalte Schweiß ausbricht, obwohl der auf jeden Fall im Moment des Ausbruchs 36°C warm ist. Man kann auch sagen, dass man einen Wolfshunger hat. Und vieles andere kann man sagen. Das sind Metaphern, Redewendungen, die gewisse Dinge ausdrücken und nicht den Anspruch erheben, diese Dinge theoretisch sauber zu beschreiben. Aber eben darum besagen solche Redewendungen in einer theoretischen Diskussion gar nichts, es sei denn, die Diskussion dreht sich darum, wie weit das Gefühl, das man mit einem Vorgang verbindet, von dem entfernt sein kann, was tatsächlich der Fall ist. (Um das Beispiel des Kunstwerks zu nehmen: Das Gefühl der meisten Rezipienten dürfte sei, dass die Beethoven-Sonate, die sie gerade hören, heute genau so ist wie bei ihrer Fertigstellung, und das auch noch in den kommenden Jahrhunderten sein wird. Das ist aber ein Ding der Unmöglichkeit, was wiederum eine Feststellung ist, der nicht wirkungsvoll widersprochen ist, wenn ich mitteile, dass es aber viele so empfinden. – Wir alle empfinden, dass die Erde feststeht, und die Sonne sich bewegt. Das besagt aber gar nichts über die tatsächlichen Verhältnisse.)

    Fest steht jedenfalls, dass ein Gedanke keine Musik ist. Und umgekehrt. Ich denke, das müssen wir nicht diskutieren.


    Durch diese Diskussion habe ich immerhin gelernt, dass Beethoven und Smetana nach ihrer Ertaubung keine Musiker mehr waren.

    Es kann nicht sein, dass Du das durch diese Diskussion gelernt hast. Und wenn es Dir so vorkommt, kann die Ursache nur sein, dass Du nicht gut aufgepasst und etwas verstanden hast, was nicht gesagt worden ist, jedenfalls nicht als Lehre, die man getrost nach Hause tragen kann. (Eine solche kam bisher sowieso nicht vor und ist eigentlich auch nicht intendiert.)


    Sicherlich, aber schon die Entscheidung, eine alte Komposition zu nehmen und Klang werden zu lassen, ist ja eine gegenwärtige, die Durchführung wie gesagt sowieso. Dass sich Musik auf Vergangenes beziehen, es zum Thema haben kann, ist doch unbestritten. Sie findet aber dennoch in der Gegenwart statt.

    Man muss da noch weiter gehen, denke ich: Auch der Bezug auf die Vergangenheit, den die Musik enthalten mag, ist, wenn sie erklingt, ein gegenwärtiger und nicht ein vergangener. Etwas Vergangenes kann schlicht und einfach nicht erklingen, also ist es auch nicht sinnvoll, es als solches zu betrachten. Indem ein Mensch der Gegenwart sich vornimmt, aus den Aufzeichnungen, die vom Komponisten überliefert sind, ein musikalisches Ereignis zu machen, ist das, was er zu Hand nimmt, logischerweise das, was er zu Hand nimmt, also ein gegenwärtiges Phänomen, kein vergangenes. Vielleicht ein altes, aber doch ein gegenwärtiges, denn was vergangen ist, kann man nicht mehr zur Hand nehmen. Das heißt zwangsläufig, dass der Inhalt des Musizierten (»Inhalt« im weitesten Sinne, also nich auf »Botschaft« begrenzt) der ist, den der Mensch der Gegenwart in ihm findet. So dass der logischerweise nicht alt sein kann.

    Ohne Zweifel hat eine Beethoven-Sonate ein gewisses Alter und eine Geschichte (letztere Tatsache ist übrigens der beste Belege dafür, dass sie nicht unveränderlich ist), aber diese Geschichte und dieses Alter ist immer nur in Bezug auf die Gegenwart wahrzunehmen, weil sie von einem Menschen der Gegenwart wahrgenommen wird (wie auch sonst?). Da nun noch die Tatsache hinzukommt, dass Musik eine Kunst ist, die sich in der Zeit entfaltet, und deren Werke anscheinend (darin den Theaterkunstwerken ähnlich) nur für die Zeit der Produktion, die mit der Zeit der Rezeption und der der Komsumtion zusammenfällt, vorhanden sind, gilt das noch mehr und gründlicher als es ohnehin für jedes Phänomen geltend gemacht werden kann. (Wobei letzterer Punkt nicht strittig sein dürfte. Niemand wird bestreiten, dass die Straßenbahn, in die ich gerade steige, gegenwärtig ist. Unerwünscht ist diese Tatsache lediglich beim Kunstwerk, das irgenwie etwas anderes als alles andere sein soll.)


  • Ohne Zweifel hat eine Beethoven-Sonate ein gewisses Alter und eine Geschichte (letztere Tatsache ist übrigens der beste Belege dafür, dass sie nicht unveränderlich ist), aber diese Geschichte und dieses Alter ist immer nur in Bezug auf die Gegenwart wahrzunehmen, weil sie von einem Menschen der Gegenwart wahrgenommen wird (wie auch sonst?). Da nun noch die Tatsache hinzukommt, dass Musik eine Kunst ist, die sich in der Zeit entfaltet, und deren Werke anscheinend (darin den Theaterkunstwerken ähnlich) nur für die Zeit der Produktion, die mit der Zeit der Rezeption und der der Komsumtion zusammenfällt, vorhanden sind, gilt das noch mehr und gründlicher als es ohnehin für jedes Phänomen geltend gemacht werden kann. (Wobei letzterer Punkt nicht strittig sein dürfte. Niemand wird bestreiten, dass die Straßenbahn, in die ich gerade steige, gegenwärtig ist. Unerwünscht ist diese Tatsache lediglich beim Kunstwerk, das irgenwie etwas anderes als alles andere sein soll.)

    Ich verstehe nicht, warum diese Gegenwärtigkeit, in welcher Kunstdarstellung grundsätzlich geschieht, unerwünscht sein soll.
    Ich verstehe des Weiteren nicht, inwiefern Alter und Geschichte eines Werks bei den "Zeitkünsten" irgendwie "gründlicher" in der Gegenwart wahrgenommen werden. Du beziehst dich wahrscheinlich auf die Flüchtigkeit der jeweiligen Produktion, oder? Nur: Wenn ich vor einem Bild stehe - ist dann die Gegenwärtigkeit der Wahrnehmung (der Geschichte) nicht die gleiche wie bei einem Musikstück? Verändert die relative Verfügbarkeit des Anblicks daran etwas?

    ...schreibt Christoph :wink:


  • Du redest vom "Musiker", bevor Du definiert hast, was "Musik" ist. Das scheint mir die falsche Reihenfolge zu sein. Sie führt zu einer Definition von "Musik", die kein Klangereignis ist, worin ich keinen Sinn erkennen kann. Dagegen habe ich kein Problem damit, z.B. einen Dirigenten unter den Oberbegriff "Musiker" zu fassen, auch wenn der nur stumme Bewegungen vollführt, die ebensowenig "Musik" sind wie die Partitur des Komponisten.


    nee, die Reihenfolge ist schon so richtig und beabsichtigt. Ich ziehe eine Schlußfolgerung aus einer aufgestellten These und schaue, ob diese Folgerung plausibel ist. Falls nein, wird mit der These etwas nicht stimmen. Dieses legitime Verfahren wird leider oft mit dem Unterschieben nicht getaner oder verfälschter Aussagen verwechselt, ist aber etwas völlig anderes.



    Wenn man päpstlicher sein will als der Papst, wäre das vielleicht so. Aber dazu zwingt einen ja keiner. Und da es hier um eine Berufsbezeichnung geht, deren deren Wort nicht unbedingt nach wissenschaftlichen Maßstäben gebaut sein muss, kann man da tolerant sein.

    ein Musikbegriff, bei dem man die Komponisten nur unter Anwendung generöser Toleranz beim Sprachgebrauch als "Musiker" bezeichnen kann, kommt für mich nicht in Frage.

    Zitat

    Fest steht jedenfalls, dass ein Gedanke keine Musik ist. Und umgekehrt. Ich denke, das müssen wir nicht diskutieren.

    bei Schönberg spielt "der musikalische Gedanke" ein große Rolle, daran möchte ich erinnern.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Den Satz verstehe ich nicht. Ich verstehe ihn inhaltlich nicht, bin auch nicht sicher, was hier eigentlich das Satzobjekt ist, und verstehe deshalb auch nicht, wie er in diesen Zusammenhang gehört.

    ich fand das jetzt nicht sooo kompliziert: Du bist der Meinung (oder läßt den Schluß nacheliegend erscheinen), daß das, was der Komponist tut, wenn er im Kopf ein Musikstück entwickelt, nichts ist, was ihn zum Musiker macht, weil es ja keine Musik geben kann außerhalb der Gegenwart einer Aufführung.

    Zitat

    Gewiss kann man das. Man kann auch sagen, dass einem die Haare zu Berge stehen, obwohl sie sich nur aufrichten und kein Berg in der Nähe ist. Oder man kann sagen, dass einem der kalte Schweiß ausbricht, obwohl der auf jeden Fall im Moment des Ausbruchs 36°C warm ist. Man kann auch sagen, dass man einen Wolfshunger hat. Und vieles andere kann man sagen. Das sind Metaphern, Redewendungen, die gewisse Dinge ausdrücken und nicht den Anspruch erheben, diese Dinge theoretisch sauber zu beschreiben.

    "Theoretisch sauber" ist ja sehr schön, nur manchmal gibt es eben Dinge, die gerade in eine angestrebte begriffliche Schärfe nicht recht passen. Bei Deinen zitierten Redewendungen kann man ja sehr deutlich übersetzen in eine realistischere Sprache. Wäre denn eine Übersetzung der von mir zitierten Wendungen über die "imaginierte Musik" in eine für Dich begrifflich "sauberere Sprache" wirklich hilfreich, die Erscheinungsweise des Phänomens "Musik im Kopf" realistischer zu erfassen?
    Oder gerät bei dem Versuch, vor Allem "sauber" zu theoretisieren, das eigentlich Interessante am Phänomen aus dem Blick?

    Etwas Vergangenes kann schlicht und einfach nicht erklingen, also ist es auch nicht sinnvoll, es als solches zu betrachten. Indem ein Mensch der Gegenwart sich vornimmt, aus den Aufzeichnungen, die vom Komponisten überliefert sind, ein musikalisches Ereignis zu machen, ist das, was er zu Hand nimmt, logischerweise das, was er zu Hand nimmt, also ein gegenwärtiges Phänomen, kein vergangenes. Vielleicht ein altes, aber doch ein gegenwärtiges, denn was vergangen ist, kann man nicht mehr zur Hand nehmen. Das heißt zwangsläufig, dass der Inhalt des Musizierten (»Inhalt« im weitesten Sinne, also nich auf »Botschaft« begrenzt) der ist, den der Mensch der Gegenwart in ihm findet. So dass der logischerweise nicht alt sein kann.

    Bis auf den letzten Satz kann ich hier eine Klärung lesen: "vielleicht ein altes, aber doch ein gegenwärtiges", das triffts doch ganz gut. Wieso jetzt aber am Ende der "Inhalt des Musizierten ... logischerweise nicht alt sein kann" erschließt sich mir nicht. Durch das Musizieren in der Gegenwart können "alte" Inhalte gegenwärtig werden, nämlich alles, was vom Komponisten in die Komposition gebracht wurde, sowohl bewußtes als auch unbewußtes.
    Vielleicht hilft der Vergleich zu Emotionen und Empfindungen: die sind zwar subjektiv gegenwärtig und vielleicht sogar neu, trotzdem zum sehr großen Teil schon unzählig oft so oder ähnlich wahrgenommen worden und insofern "alt". Nicht im Sinne von "veraltet" oder "verbraucht", sondern im Sinne eines Resonanzraumes von Vergangenheit, der mitschwingt.
    Es ist doch dieser "Resonanzraum", der Interpretation und Rezeption beim "Spielen nach alten Noten" so komplex macht, und der mit sich bringt, daß man viele Facetten dessen, was beim Kunstwerk "Aufführung einer alten Komposition" passiert, nur mitkriegt, wenn man diesen Resonanzraum einigermaßen kennt - vulgo durch Bildung davon gehört hat.

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  • Durch das Musizieren in der Gegenwart können "alte" Inhalte gegenwärtig werden, nämlich alles, was vom Komponisten in die Komposition gebracht wurde, sowohl bewußtes als auch unbewußtes.

    bzw geraten auch Inhalte aus der Interpretationsgeschichte mit hinein, nicht ganz so alte. Aber auch noch ältere, aus der Geschichte, in die hinein die Komposition sich zu ihrer Zeit gestellt hat.

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  • Ich verstehe nicht, warum diese Gegenwärtigkeit, in welcher Kunstdarstellung grundsätzlich geschieht, unerwünscht sein soll.

    Ich auch nicht, aber wenn sie so vehement abgelehnt wird, muss es wohl so sein. Warum auch immer

    Ich verstehe des Weiteren nicht, inwiefern Alter und Geschichte eines Werks bei den "Zeitkünsten" irgendwie "gründlicher" in der Gegenwart wahrgenommen werden. Du beziehst dich wahrscheinlich auf die Flüchtigkeit der jeweiligen Produktion, oder? Nur: Wenn ich vor einem Bild stehe - ist dann die Gegenwärtigkeit der Wahrnehmung (der Geschichte) nicht die gleiche wie bei einem Musikstück? Verändert die relative Verfügbarkeit des Anblicks daran etwas?

    Der Unterschied ist erheblich. Das Bild ist zum Beispiel im Museum oder an der Wand meines Wohnzimmers vorhanden. Ich kann es ansehen, wann immer ich will. Das musikalische Ereignis ist nicht in diesem Sinne vorhanden, denn es entfaltet sich in der Zeit. Es wird zu selben Zeit produziert, zu der ich es wahrnehme. Das ist beim Bild nicht der Fall. Und es verschwindet im selben Augenblick, wenn es geschehen ist, ist es auch schon vorbei. Das trifft für das Bild ebenfalls nicht zu, es wird durch mein Anschauen nicht verbraucht. (Damit soll es dazu genug sein. Ich meine, die Bildende Kunst ist wieder ein anderes Thema, bei dem andere Fragen anstehen. Für die fühle ich mich nicht zuständig.) In dieser Entfaltung des Kunstwerks in der Zeit und seiner Flüchtigkeit scheint eine Gemeinsamkeit des musikalischen Kunstwerks mit dem Theaterkunstwerk zu liegen, die diese beiden Künste von den meisten anderen unterscheidet. Es lohnt sich zu prüfen, wie weit diese Gemeinsamkeit geht. Dazu aber später.


    ein Musikbegriff, bei dem man die Komponisten nur unter Anwendung generöser Toleranz beim Sprachgebrauch als "Musiker" bezeichnen kann, kommt für mich nicht in Frage.

    Du kannst den Komponisten nennen, wie Du willst. Tonsetzer, Notenbäcker, Humpty-Dumpty usw. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Das spielt überhaupt keine Rolle. »Namen sind Schall und Rauch«, wie es beim Dichterfürsten heißt. Kein Name änder etwas an der Tatsache, dass das, was uns ein Komponist liefert (die Partitur) keine Musik ist. Oder anders gesagt: Ein Musikbegriff, der bedrucktes oder beschriebenes Papier zu Musik erklärt, scheint mir allzu überdehnt, dann können wir auch gleich noch das Klavier in den Bereich des Begriffs aufnehmen, und eigentlich auch die Bäume, aus deren Holz Geigen hergestellt werden. Ich glaube nicht, dass das zu etwas führt. Wenn aber Musik ein Klangereignis ist, ist eine Partitur keine Musik, weil sie nicht klingt, und ein Gedanke auch nicht, weil er ebenfalls nicht klingt. Schließlich ist der Gedanke an einen Goldhamster auch kein Goldhamster.


    bei Schönberg spielt "der musikalische Gedanke" ein große Rolle, daran möchte ich erinnern.

    Danke für die Erinnerung. Mir war das bewusst. Übrigens auch, dass dieser »musikalische Gedanke« keineswegs nur bei Schönberg eine große Rolle spielt. Ich weiß nur leider nicht, was mir dieser Erinnerung hier soll.


    ich fand das jetzt nicht sooo kompliziert: Du bist der Meinung (oder läßt den Schluß nacheliegend erscheinen), daß das, was der Komponist tut, wenn er im Kopf ein Musikstück entwickelt, nichts ist, was ihn zum Musiker macht, weil es ja keine Musik geben kann außerhalb der Gegenwart einer Aufführung.

    Nein, dieser Meinung bin ich nicht. Diese Schlussfolgerung scheint mir ganz aus der Luft gegriffen. Ob ich jemanden als Musiker oder sonstwie bezeichne, ist eine rein konventionelle Entscheidung, die als Konvention zu akzeptieren ist. Sie hat (wie alle Bezeichnungen) nichts mit dem zu tun, was ein Phänomen »ist«. Also kann man einen Komponisten selbstverständlich als Musiker bezeichnen, man kann auch ein anderes Wort wählen oder eins erfinden (wenn man das für sinnvoll erachtet), da ist man vollkommen frei. Wäre es anders, wäre es falsch, den Menschen, den wir »Musiker« nennen, auch »musician« zu nennen, was aber offensichtlich nicht der Fall ist. Also nenne ihn, wie Du willst, was er uns liefert, wird dadurch keinen Deut mehr oder weniger Musik, es ist einfach keine, weil beschriebenes Papier keine Musik ist.

    "Theoretisch sauber" ist ja sehr schön, nur manchmal gibt es eben Dinge, die gerade in eine angestrebte begriffliche Schärfe nicht recht passen. Bei Deinen zitierten Redewendungen kann man ja sehr deutlich übersetzen in eine realistischere Sprache. Wäre denn eine Übersetzung der von mir zitierten Wendungen über die "imaginierte Musik" in eine für Dich begrifflich "sauberere Sprache" wirklich hilfreich, die Erscheinungsweise des Phänomens "Musik im Kopf" realistischer zu erfassen?Oder gerät bei dem Versuch, vor Allem "sauber" zu theoretisieren, das eigentlich Interessante am Phänomen aus dem Blick?

    Was soll denn das Außergewöhnliche daran sein, dass man sich Dinge vorstellen kann, die nicht vorhanden sind? Wir sind uns doch sicher einig, dass ein Löwe, den ich mir vorstelle, kein Löwe und auch nicht vorhanden, nicht einmal existent ist (was in gewisser Weise existiert ist meine Vorstellung eines Löwen). Aber natürlich kann ich ihn mir vorstellen. Ich kann mir auch Dinge vorstellen, die es gar nicht gibt. Drachen oder Feen zum Beispiel. Warum soll das ausgerechnet bei Musik anders sein?

    Bis auf den letzten Satz kann ich hier eine Klärung lesen: "vielleicht ein altes, aber doch ein gegenwärtiges", das triffts doch ganz gut. Wieso jetzt aber am Ende der "Inhalt des Musizierten ... logischerweise nicht alt sein kann" erschließt sich mir nicht.

    Weil es kein altes Klangereignis geben kann, sondern nur ein gegenwärtiges. Das scheint mir auf der Hand zu liegen. Und in der Gegenwart kann ich nur gegenwärtig denken und auch nur gegenwärtig Inhalte rezipieren. Wie soll es denn anders gehen?

    Durch das Musizieren in der Gegenwart können "alte" Inhalte gegenwärtig werden, nämlich alles, was vom Komponisten in die Komposition gebracht wurde, sowohl bewußtes als auch unbewußtes.

    Ich weiß nicht, wie Altes gegenwärtig werden kann. Ich denke, alles, was man hier meinen kann, ist entweder vergangen oder gegenwärtig (oder künftig aber das spielt hier keine Rolle). Wenn es vergangen ist, ist es nicht mehr da, wenn es da ist, ist es gegenwärtig. Was immer es in der Vergangenheit gewesen sein mag, jetzt ist es nur das, was es jetzt ist.

    Übrigens enthält ein Kunstwerk keineswegs nur, was der Urheber in es hineingebracht hat (bewusst oder unbewusst). Das würde bedeuten, dass Kunstwerke zu den unmöglichen Phänomenen dieser Welt gehören, die unveränderlich sind. Es gibt so etwas aber nicht. Das Kunstwerk nimmt also im Laufe der Zeit Inhalte auf, die der Komponist nicht hineingetan haben kann, weder bewusst noch unbewusst, weil sie zur Zeit der Komposition einfach noch gar nicht vorhanden waren. Dazu gehört zum Beispiel der von uns sehr stark empfundene altertümliche Charakter einer Messe von Josquin. Das Empfinden, etwas Altertümliches zu hören, hatten die Zeitgenossen des Komponisten nicht. Heute gehört das aber sehr wohl zum Erlebnis des Stücks, also zum »Inhalt« (immer im weitesten und unschärfsten Sinne verstanden). Ein Komponist des 18. Jahrhunderts hat ganz selbstverständlich tonal komponiert und konnte nicht voraussehen, dass es einmal atonale oder serielle Musik geben wird, von der sich seine Musik nun als tonale absetzt. Das verändert aber die Musik, die nun vor diesem Hintergrund oder im Kontrast zu dieser Musik als tonale gehört wird, was damals nicht in dieser Weise der Fall gewesen sein kann. Hinzu kommen historische, gesellschaftliche, politische Entwicklungen, die die Werke ändern. Ihre Aufführungsgeschichte geht in sie ein und wird zum Bestandteil usw. usf.

  • Das musikalische Ereignis ist nicht in diesem Sinne vorhanden, denn es entfaltet sich in der Zeit. Es wird zu selben Zeit produziert, zu der ich es wahrnehme.

    Eben, und bei einer Musik-Definition, die demgegenüber Partituren oder gar "musikalische Gedanken" einbezieht, ist Musik ein Phänomen, welches wahlweise in der Zeit ablaufen kann oder nicht, welches klingen kann oder nicht, welches in der Gegenwart enstehen und vergehen kann oder ein für allemal unveränderlich festgehalten wird, und so weiter.

    Auch der Bezug auf die Vergangenheit, den die Musik enthalten mag, ist, wenn sie erklingt, ein gegenwärtiger und nicht ein vergangener. Etwas Vergangenes kann schlicht und einfach nicht erklingen, also ist es auch nicht sinnvoll, es als solches zu betrachten. Indem ein Mensch der Gegenwart sich vornimmt, aus den Aufzeichnungen, die vom Komponisten überliefert sind, ein musikalisches Ereignis zu machen, ist das, was er zu Hand nimmt, logischerweise das, was er zu Hand nimmt, also ein gegenwärtiges Phänomen, kein vergangenes.

    Genau so sehe ich das auch.

    Christian

  • Schließlich ist der Gedanke an einen Goldhamster auch kein Goldhamster.

    mit dem Unterschied, daß musikalische Gedanken tatsächlich zu Musik führen können, also sowas wie eine Vorstufe oder Keimform zu Musik sind, während aus einem goldhamsterigen Gedanken nie und immer ein Goldhamster wird.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

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