Gibt es alte Musik?

  • Das Argument sollte zeigen, wie Deiner Ansicht nach Musik definiert werden sollte; wie diese Definition die Probleme ausräumt, die der Ausgangspunkt der Debatte sind; warum diese Deine Definition das besser tut als eine andere; mit einem Wort: welchen praktischen Wert es hat, die Definition so zu fassen. Bisher habe ich hier nichts dergleichen vernommen.

    Ich maße mir nicht an, eine Definition von Musik geben zu können.

    Noch weniger maße ich mir an, andere geringzuschätzen, nur weil sie eine Definition von Musik verwenden, die aus meiner Sicht nicht die letztgültige sein kann.

    Ich finde es aber fragwürdig, unter dem Vorwand, erst diskutieren zu können, wenn man alles sauber definiert hat, jede Diskussion auf formalem Wege abzublocken. Denn: da viele kluge Leute in mehreren Jahrhunderten keine allgemein akzeptierte Definition von Musik gegeben haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass uns hier eine solche Definition gelingt, äußerst gering. Ich formuliere Proposition 1: Wir haben keine letztgültige Definition von Musik und werden auch bei größtem Bemühen keine formulieren können.

    Interessanterweise - und das würde ich eine Binsenweisheit nennen - ist es aber bei hinreichen gutem Willen aller Beteiligten möglich, über Musik zu sprechen, ohne eine letztgültige Definition zu haben - durch das Akzeptieren unvermeidbarer Unschärfen (die unter der Hypothese von Proposition 1 eben nunmal gegeben sind).

    Wer also eine Diskussion ablehnt, weil die verwendete Definition von Musik unscharf ist - der lehnt die Diskussion unter der Hypothese von Proposition 1 als solche ab. Er möge sich zurückhalten, anderen vorzuwerfen, sie würden die Diskussion sabotieren.

    Gruß
    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Ich will mal nicht so sein und mich in einer Definition von Musik versuchen.

    Ausgangspunkt: das physikalische Ereignis des Klangs ist nicht die Musik, sondern viel mehr unsere Interpretation des Klangs. Deshalb ist die Musik kein Phänomen sondern eine vom Phänomen abstrahierte Idee.

    Die Musik ist daher die Idee von der ästhetischen Wirkung von Klängen. Diese Wirkung unterliegt gewissen Grundsätzen, anhand derer sie der kreativen Einwirkung des Menschen offensteht.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Mich hätten noch ganz andere Dinge interessiert, z.B.: Wie steht es um das Verhältnis von Musik zum Theater? Welche Analogien gibt es und welche Unterschiede?

    Du hast recht. Also zurück zum Thema. Das ist ergiebiger.

    Tatsächlich scheint es so, als würde die Analogie zum Theater einige interessante Schlüsse erlauben. (Die zur Lyrik oder zur Malerei natürlich nicht, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit diesem Thema, weil sich das ja gerade mit einem Punkt beschäftigt, in dem zu diesen beiden Künsten keine Analogsetzung möglich ist.)

    Da Musik und Theater Künste sind, deren Werke sich in der Zeit entfalten, und beide auch Werke produzieren, die flüchtig sind, sogar im Moment der Produktion vergehen, und zwar nicht etwa, weil sie aus Materialien gefertigt sind, die mit der Zeit verfallen, wie etwa Skulpturen oder Bauwerke, scheint sich ein Vergleich anzubieten.

    Dabei ist die Sache für das Theater ziemlich gut untersucht und weitgehend geklärt. Wie weit die Musikwissenschaft in diesem Punkt vorangekommen ist, ist mir nicht so klar, aber wir können ja mal sehen, was sich finden lässt.

    Für das Theater jedenfalls steht zweifelsfrei fest, dass es sich bei den Kunstwerken, die es produziert, immer um gegenwärtige und nicht beständige handelt. Es steht auch fest, dass das Theaterkunstwerk nicht die Darstellung, Reproduktion, Vollendung und was dergleichen mehr ist, eines bereits vorhandenen Werkes ist, weil das bedeuten würde, dass es ohne ein solches Werk kein Theater geben kann, was eine offensichtlich unsinnige Aussage ist. (Tatsächlich dürfte der bei weitem überwiegende Teil theatralischer Ereignisse ganz unabhängig von irgendwelchen vorgegebenen Werken sein.) Wenn man also im Theater von einem Kunstwerk, das dort präsentiert wird, sprechen will (wobei vorläufig die Frage offen bleiben kann, ob ein Kunstwerk nicht etwas Dauerhaftes sein muss), kann dies nur das Theaterereignis selbst sein. Man nennt dies in der Regel die »Aufführung«, ich ziehe den Begriff »Spektakel« vor, weil das Wort »Aufführung« im allgemeinen Sprachgebrauch allzu eng mit der Idee der Darbietung eines vorgegebenen Werkes verbunden ist. Ein weiterer Vorzug dieses Begriffs ist, dass er das Gewicht auf das Sichtbare legt und so zum entscheidenden Punkt des Theaterkunstwerks hinlenkt: zum Sichtbaren, nämlich zu dem, was auf der Bühne stattfindet, zur Bewegung der Körper der Darsteller, die sichtbar ist.

    Wenn man nun den Spezialfall des Theaterkunstwerks, das sich eines vorgegebenen Werkes bedient, ins Auge fasst, wird schnell deutlich, dass der Unterschied zu dem, das sich eines solchen Werkes nicht bedient, nicht sehr groß ist. Dass es nicht zu den definitorisch entscheidenden Eigenschaften gehört, dass das Theater ein fremdes Werk »aufführt«, habe ich schon gezeigt. Es ist auch nicht weiter schwer, dass es nicht die Verwirklichung oder die Reproduktion dieses Werkes sein kann: Was wir von Shakespeare oder Büchner, Kalidasa oder Tschechow, Wagner oder Monteverdi überliefert bekommen, sind dramatische Dichtungen oder musikalische Kompositionen (im Falle der Oper eine Komposition aus beiden). Sie sind nicht Theater. Denn Theater ist per definitionem etwas, das auf einer Bühne vor einem Publikum stattfindet. Eine Reproduktion von irgendetwas muss aber von derselben Art sein, sonst ist es logischerweise keine Reproduktion. Die Reproduktion einer Dichtung ist also eine Dichtung, kein Theater. Theater kann keine Reproduktion einer Dichtung sein, weil es Theater ist. (Für die Komposition und de Kombination beider gilt das analog.)

    Ohne weiter in die Details zu gehen, liegt auf der Hand: Das Theaterkunstwerk ist immer ein gegenwärtiges, weil es in dem Moment, in dem es stattfindet, entsteht und vergeht. Es gibt kein altes Theater und kann auch keins geben. (Die Erinnerung an eine Theateraufführung ist die Erinnerung ein Spektakel ist die Erinnerung an dieses Spektakel und natürlich nicht das Spektakel selbst, die Aufzeichnung eines Spektakels auf DVD, ist die Aufzeichnung des Ereignisses und nicht das Ereignis selbst.)

    Wenn man nun versucht, eine ähnliche Betrachtung für die Musik (um nicht wieder etwas unterstellt zu bekommen, was nicht gemeint ist: Musik im allerweitesten Sinne, also nicht etwa notierte abendländische oder gar tonale usw.) anzustellen, scheint sich mir zu ergeben, dass die Liebhaber eines statischen Werkbegriffs im Theater noch auf vergleichsweise paradiesische Zustände treffen. Denn wenn auch das Theaterkunstwerk nicht die Ausführung oder Verwirklichung des Werkes eines verehrten genialen Meisters ist, ist es doch immerhin so, dass das Theaterkunstwerk andere Kunstwerke anderer Gattungen und Genres in sich aufnehmen kann (der Fettdruck ist kein Fehler, denn das Theater ist auf diese keineswegs angewiesen), von denen zumindest einige eine im Vergleich zum Theaterkunstwerk eine deutlich größere Beständigkeit aufzuweisen scheinen. Das Drama, insofern es ein literarisches Werk ist, verschwindet nicht mit dem Ende des Spektakels, das Bühnenbild, das in gewissem Maße zur Bildenden Kunst gehört, ebenfalls nicht usw. Es bleibt also immerhin etwas übrig. (Wenngleich der Gedanke nicht fern liegt, dass der Text als Theatertext – das Wort schließt hier auch die musikalische Komposition ein – also als Bestandteil des theatralischen Kunstwerks ebenfalls mit diesem vergeht. Aber immerhin: Goethes »Faust« scheint relativ stabil, wenn auch keineswegs unveränderlich zu sein.

    Wenn nun die naheliegende Analogie zum musikalischen Ereignis gezogen wird, scheint sich zu ergeben, dass das Werk, das in dessen Verlauf produziert wird, eben dieses Ereignis selbst ist, so dass nach Ablauf des Ereignisses gar nichts mehr übrig bleibt. (Nicht vergessen: Die Partitur ist eine Partitur, keine Musik!)

    Nun gut, Christian. Du hast es nicht anders gewollt. Ich habe Deinen Anregung aufgenommen und mal geschaut, wie es sich auf dem Weg, nach dem Du gefragt hast, so geht. Er ist etwas holprig und es gibt da auch einige nebligen Passagen, aber immerhin. Ich habe nun vorläufig das Meinige getan... ;)

  • Nö, angesichts der Vorgänge hier, ist mir der Spaß vergangen. Aber Ihr habt Euch ja schon darauf geeinigt, Musik als "Phänomen" zu verstehen. Da ich das - pardon! - für blanken Unsinn halte, aber akzeptiere, dass Ihr unter dieser Prämisse weiterdiskutieren wollt, will ich nicht weiter im Wege stehen.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Ich habe nun vorläufig das Meinige getan...

    Herzlichen Dank! Das sind viele schöne und anregende Gedanken, die mich einige Zeit beschäftigen werden. Wie ich gleich zu Anfang geschrieben habe, ist bei mir der Ursprung der Überlegungen zur "Gegenwärtigkeit" von Musik das Erleben als Zuhörer: Ich empfinde die Ungeheuerlichkeit einer großen musikalischen Darbietung, die im Moment meines Zuhörens entsteht und vergeht, immer stärker. Allein schon die Unmittelbarkeit des Beginns, der plötzlich da ist, wo vorher nur Stille war, lässt mich sozusagen die Gegenwart des künstlerischen Ereignisses erleben. Und für mich als "Interpret" hat ein solches Musikverständnis natürlich weitreichende Folgen, deren Ausführung hier aber den Rahmen sprengen würde. Die Analogie zum Theater habe ich immer schon irgendwie geahnt, konnte das aber nie wirklich durchdenken, weil ich davon zu wenig verstehe.

    Herzliche Grüße,

    Christian

  • Und für mich als "Interpret" hat ein solches Musikverständnis natürlich weitreichende Folgen, deren Ausführung hier aber den Rahmen sprengen würde.

    Hm, genau das würde mich ungemein interessieren. Wenn ich Argonaut richtig verstanden habe, dann ist die Titelfrage gar nicht das Entscheidende für diesen Thread gewesen, sondern die Konsequenzen, die sich aus ihrer Beantwortung ergeben können. Wäre es nicht zumindest in aller Kürze möglich, die angesprochenen "Folgen", die sich speziell für deine Tätigkeit als Pianist ergeben, zu skizzieren?

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Ich empfinde die Ungeheuerlichkeit einer großen musikalischen Darbietung, die im Moment meines Zuhörens entsteht und vergeht, immer stärker.


    Was mir an dieser Betrachtungsweise vor allem zusagt, ist, dass sie das Einmalige, Unwiederholbare des Ereignisses betont. Und natürlich, dass die Schnapsidee einer »richtigen« und für immer »gültigen« Darbietung damit restlos erledigt ist. Und natürlich auch die ebenso witzige Schnapsidee, dass man das Werk so darbieten muss, wie sein Urheber es gemacht hätte.

    Wobei es nicht so zwingend nötig wäre, diese Ideen zu erledigen, wenn sie nicht so hinderlich wären und nicht so viel unnötige Verwirrung stiften würden. Und sie tun das, weil sie an der Sache selbst vorbeigehen, die eben nichts weniger hat als »Ewigkeitswerte« oder »überdauernde Wahrheiten«, auf die man sich in Diskussionen darüber ob die eine oder die andere Interpretation »richtig« oder auch »dem Wesen des Werkes« entsprechend ist, so gern beruft.

    Und natürlich scheint mir, dass sich gegen diese Betrachtung kaum etwas einwenden lässt, weil sie nicht von irgendwelchen akzidenziellen Prämissen ausgeht, sondern lediglich von den fundamentalen Eigenschaften dessen, was tatsächlich stattfindet.

    (Kleines Anwendungsbeispiel: Es wird aus diesem Gesichtswinkel unmöglich, die Frage nach HIP oder nicht HIP oder Cembalo oder Klavier usw. in Kategorien von richtig und falsch zu diskutieren. Es ist sicherlich so, dass sich heute die meisten schieflachen werden, wenn sie eine Orchestersuite von Bach unter Furtwänglers Leitung hören würden. Aber damals war das weder komisch noch falsch, es entsprach der Zeit. Und in noch einmal 50 Jahren wird man sich möglicherweise über die Darbietungen schieflachen, die heute den meisten als beispielhaft gelten, weil sich die Zeiten eben ändern. Wenn man die Ideen vom dauerhaften Wesen, von einer Essenz und von ewigen Wahrheiten erst mal entfernt hat, lässt sich das alles viel leichter erklären – und verkraften. Ob sich das mit einer Musikdefinition, die auf die klingende Realität der Musik verzichtet, auch machen ließe, bezweifle ich...)

  • Wäre es nicht zumindest in aller Kürze möglich, die angesprochenen "Folgen", die sich speziell für deine Tätigkeit als Pianist ergeben, zu skizzieren?

    Wenn man sich von der Vorstellung einer einzigen idealen, "richtigen" Darstellung, der man möglichst nahe zu kommen versucht, verabschiedet, kann man sich mehr fallen lassen, das Unerwartete zulassen, spontan gestalten und weiterführen. Ich habe das z.B. extrem erlebt, als ich vor ein paar Jahren mit einem befreundeten Geiger die drei Brahms-Sonaten in ein paar Konzerten gespielt habe: Nach einer Probenphase, die zwar intensiv aber nur mit ganz wenigen "Festlegungen" stattfand, haben wir dann im Konzert ohne es vorher abgesprochen zu haben eine völlig andere, viel freiere Version entstehen lassen. Die Proben dienten dem Kennenlernen des Materials bis in die letzten Feinheiten sowie der Absicherung, dass wir uns aufeinander verlassen konnten. Beides war aber nur die Voraussetzung, auf der Bühne so frei zu sein, dass die Musik entstehen konnte. Das war für mich ein unglaubliches Glücksgefühl, und es war auch bei jedem Konzert wieder neu.
    Mein persönlicher Theater-Hausgott Gert Voss hat einmal beschrieben, wie er eine neue Rolle lernt, und hat das mit einer Eisfläche verglichen: Am Beginn ist diese noch dünn und zerbrechlich, man bewegt sich entsprechend vorsichtig tastend vorwärts und enfternt sich nicht zu weit vom rettenden Ufer. Je dicker die Eisfläche wird, desto sicherer kann man aber auftreten, desto mutiger sich auch in ihre Mitte bewegen. Am Ende ist sie so stabil, dass man (mit den Worten von Gert Voss) "darauf tanzen" kann. Dieses Bild gefällt mir außerordentlich gut, weil es sowohl die Bedeutung einer minutiösen Vorbereitung als auch deren Ziel gut beschreibt. Man spricht ja nicht umsonst vom Klavier-"Spielen". Das Spielerische, Unwiederholbare, scheinbar Leichte bekommt einen ganz anderen Stellenwert, wenn man zulässt, dass es neu entsteht, statt sich (wieder mit den Worten von Gert Voss) "hinter abgesicherter Handwerklichkeit zu verstecken".

    Was mir an dieser Betrachtungsweise vor allem zusagt, ist, dass sie das Einmalige, Unwiederholbare des Ereignisses betont. Und natürlich, dass die Schnapsidee einer »richtigen« und für immer »gültigen« Darbietung damit restlos erledigt ist. Und natürlich auch die ebenso witzige Schnapsidee, dass man das Werk so darbieten muss, wie sein Urheber es gemacht hätte.

    So kurz und klar kann man es natürlich auch ausdrücken :) .

    Christian

  • Was Gert Voss da beschreibt, und was Du im Zusammenhang mit den Brahms-Sonaten berichtest, trifft das, was ich meine sehr genau. Ich habe meinen Studenten immer zu vermitteln versucht (ob mit Erfolg oder nicht, ist eine andere Frage), dass ich nicht etwa darum auf einer rigorosen und das kleinste Detail genau berücksichtigenden Analyse des Stücks (des Textes, der Musik, des dramaturgischen Aufbaus, des Rhythmus, der Vorgänge usw. usf.) bestehe und sie damit gelegentlich bis zur Weißglut nerve, damit am Ende eine »werktreue« Inszenierung herauskommt, die die »Intentionen des Autors« getreulich wiedergibt, sondern dass exakt das Gegenteil beabsichtigt ist: Die genaue Kenntnis des Materials, aus dem das Theaterkunstwerk gebaut werden muss, führt zur vollständigen Freiheit. Je genauer man es kennt, desto besser kann man damit spielen, und wenn es wirklich klappt, dass man sich die Sache vollständig aneignet (der Nebensinn, den man hier hören mag, ist durchaus beabsichtig: »sich aneignet«, also sich zu Eigen macht, also die dem Autor wegnimmt), ist man auch vollkommen frei und kann im Prinzip machen, was man will, weil man in jeder Sekunde weiß, was mit dem Material möglich ist und was nicht. Und wenn man ein gutes Material hat, sind die Möglichkeiten fast unbegrenzt. Das ist meine praktische Erfahrung: Wenn man so arbeitet, ähnelt, was dann stattfindet wirklich einem Tanz, und es kann eine beglückende Erfahrung sein, die man keinesfalls haben wird, wenn man die Ketten trägt, die einem irgendeine Idee von Werktreue und was dergleichen mehr ist, angehängt haben. Und diese Ketten streift man am besten gleich zu Anfang dadurch ab, dass man die Idee der Wiedergabe oder Wiederholung oder auch nur »Interpretation« eines schon Vorhandenen durch das Bewusstsein ersetzt, dass eine Neuschöpfung stattfindet. Und zwar an jedem Abend immer wieder, wozu die Konzeptionsfindung und die Probenarbeit die unabdingbaren Voraussetzungen liefern.

  • Vielen Dank, Christian.

    Ich möchte hier ein m.E. passendes und schönes Zitat Brendels loswerden, welches die Offenheit, welche er bei aller intellektuellen Auseinandersetzung mit einer Komposition gerade in emotionaler Hinsicht zulässt, unterstreicht:

    "Musik kann nicht für sich selbst sprechen. Der Gedanke, ein Interpret könne seine privaten Gefühle einfach abschalten und an ihrer statt die Eingebungen des Komponisten sozusagen von oben empfangen – dieser Gedanke gehört ins Reich der Fabel. Was der Komponist mit seiner Niederschrift gemeint haben mag, kann der Interpret nur mit Hilfe des eigenen lebendigen Gefühls, der eigenen Sinne und der eigenen Ohren entscheiden." (zitiert nach: 'http://www.koelnklavier.de/texte/interpreten/brendel.html')

    Was mir noch nicht so klar ist: Welche Bedeutung und welchen Raum die Frage beansprucht, was der Komponist "gemeint haben mag". Dies könnte man sicherlich auch auf den Bereich des Musiktheaters beziehen.

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Und diese Ketten streift man am besten gleich zu Anfang dadurch ab, dass man die Idee der Wiedergabe oder Wiederholung oder auch nur »Interpretation« eines schon Vorhandenen durch das Bewusstsein ersetzt, dass eine Neuschöpfung stattfindet.

    wenn es um "Neuschöpfung" geht - wieso gibt man sich dann überhaupt mit einer schon existierenden "Vorlage" (oder wie immer da eine treffende Bezeichnung lauten würde) ab?

    Warum setzt man dann doch eine "Beethovensonate" aufs Programm? Die notwendige Verknüpfung mit Vergangenheit ist sowieso immer gegeben, die braucht man nicht auch noch durch "alte Noten" zu sichern. Ich meine, wer eine solche Theorie vertritt wie hier uns dargeboten, sollte auch dazu stehen, sich ans Klavier setzen und improvisieren. Dann wird niemand die "Neuschöpfung" bezweifeln.

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • dass man sich die Sache vollständig aneignet (der Nebensinn, den man hier hören mag, ist durchaus beabsichtig: »sich aneignet«, also sich zu Eigen macht, also die dem Autor wegnimmt),

    was eignet man sich an, was nimmt man dem Autor weg? - Musik soll es ja nicht sein.

    (ich spreche von "Musik", da ja die Situation in Theater und Musik anscheinend ziemlich gleich angesehen wird).

    ---
    Es wäre lächerlich anzunehmen, daß das, was alle, die die Sache kennen, daran sehen, von dem Künstler allein nicht gesehen worden wäre.
    (J. Chr. Lobe, Fliegende Blätter für Musik, 1855, Bd. 1, S. 24).


    Wenn du größer wirst, verkehre mehr mit Partituren als mit Virtuosen.
    (Schumann, Musikalische Haus- und Lebensregeln).

  • Welche Bedeutung und welchen Raum die Frage beansprucht, was der Komponist "gemeint haben mag". Dies könnte man sicherlich auch auf den Bereich des Musiktheaters beziehen.

    Was diese letzte, oft und meist kontrovers diskutierte Frage betrifft, hängt ihre Antwort davon ab, was man mit dem Wort »Komponist« meint.

    Bezeichnet man damit die Person, die vor langer oder kurzer Zeit mit gewissen Absichten ein Werk niedergeschrieben hat, ist die Antwort meiner Ansicht nach leicht: die Frage ist im Grunde ganz irrelevant. Zum einen, weil sie gar nicht beantwortet werden kann (man kann es schlicht und einfach nicht mit Sicherheit ermitteln); zum anderen, weil niemand jemals genau das macht, was er beabsichtigt, so dass die Frage nach den Absichten die nach einer Vorstufe des Realisierten ist; zum dritten, weil es gar keinen nachvollziehbaren Grund gibt, warum man das Stück so auffassen muss, wie der Autor es aufgefasst hat. Von Heiner Müller gibt es den Satz »Der Text ist immer klüger als sein Autor«, wobei »Autor« in diesem Falle im diesem ersten Sinne verstanden ist: er meint sich selbst. Er beschreibt damit eine Erfahrung, die er beim Inszenieren eigener älterer Stücke gemacht hat, in denen er Dinge fand, von denen er nichts gewusst hat. Das gilt für jeden Text (und jede Musik), und um so mehr, je älter er ist, weil ihm mit der Zeit Inhalte zuwachsen, von denen der Autor nichts gewusst haben kann, weil er schon tot war, als sie entstanden. Ein anderes Beispiel ist Wagners Erstaunen über Inhalte seines »Tannhäuser«-Librettos, die ihm erst bewusst wurden, als er es für die französische Version noch einmal genauestens durcharbeiten musste. Ein krasses Beispiel: Wagner kann nichts von Auschwitz gewusst, nicht einmal geahnt haben, aber es gehört nun zu seinen Stücken, vor allem zum »Parsifal« mit seinem rassistischen Hintergrund. Das ließe sich beliebig fortsetzen. Die Schlussfolgerung aus dieser Tatsache ist, dass es nicht geschickt wäre, sich an die Ansichten des Autors zu halten, weil er diese nicht realisiert hat, sondern an das, was uns vorliegt, das eben Dinge enthalten kann, von denen der Autor nichts wusste. Täte man es anders, wäre das Ergebnis weniger reich, als es sein könnte. (Praktische Nutzanwendung: Ich liebe es gar nicht, bei einem Publikumsgespräch zu erläutern, was wir mit dieser oder jener Sache »gemeint« haben, habe es aber sehr gern, wenn mir die Zuschauer sagen, was sie da verstanden haben, weil dabei oft ganz überraschenden Dinge zutage treten, von denen niemand etwas wusste, die aber doch da sein müssen.)

    Ein anderes ist es, wenn man das Etikett »Autor« oder »Komponist« verwendet, um es der fiktiven Gestalt anzukleben, die man dadurch konstruiert, dass man sich vorstellt, dass es ein bewusstes Wesen gibt, dass das Werk so konstruiert hat, wie wir es verstehen. Das ist eine praktische Übereinkunft, und es ist nach meiner Erfahrung ziemlich nützlich, diese kleine Ungenauigkeit zuzulassen, weil es das Gespräch vereinfacht und auch ein anderes emotionales Verhältnis zur Sache schafft. Den Intentionen dieses – fiktiven und mit der historischen Person, der das Werk zugeschrieben wird, keineswegs indentischen, ihr möglicherweise nicht einmal ähnlichen – Autors sollte man allerdings seht genau nachspüren, wenn man wissen will, womit man es zu tun hat.

    (Übrigens ist das Wichtigste von allem, dass man sich vom Autor nicht einschüchtern lässt, auch von diesem fiktiven nicht. Man soll ihn lieben, wenn das möglich ist – das ist freilich nicht immer der Fall –, aber keineswegs anbeten, das nimmt er nämlich übel und wird dann sehr schweigsam. ;) )


    wenn es um "Neuschöpfung" geht - wieso gibt man sich dann überhaupt mit einer schon existierenden "Vorlage" (oder wie immer da eine treffende Bezeichnung lauten würde) ab?

    Ich bin inzwischen alt genug, um auf dieses Scheinproblem mehrere hundert Male eingegangen zu sein. Kurz vor der Rente stehend, erlaube ich mir, darauf nicht mehr zu antworten. Zumal Du die Antwort leicht finden kannst, wenn Du Dir die kleine Mühe machst, zu lesen, was Christian und ich geschrieben haben, statt es mit dem zu übermalen, was Du sowieso schon zu wissen glaubst.


    was eignet man sich an, was nimmt man dem Autor weg?

    Schrieb ich das nicht? Aber gewiss doch. Ich schrieb es: das Material, mit dem man dann arbeitet. Und natürlich die »Deutungshoheit« (wie man das neuerdings so schick nennt) über selbiges, die ihm von den Schlaumeiern zugesprochen wird.

  • Was diese letzte, oft und meist kontrovers diskutierte Frage betrifft, hängt ihre Antwort davon ab, was man mit dem Wort »Komponist« meint.

    Bezeichnet man damit die Person, die vor langer oder kurzer Zeit mit gewissen Absichten ein Werk niedergeschrieben hat, ist die Antwort meiner Ansicht nach leicht: die Frage ist im Grunde ganz irrelevant. Zum einen, weil sie gar nicht beantwortet werden kann (man kann es schlicht und einfach nicht mit Sicherheit ermitteln); zum anderen, weil niemand jemals genau das macht, was er beabsichtigt, so dass die Frage nach den Absichten die nach einer Vorstufe des Realisierten ist; zum dritten, weil es gar keinen nachvollziehbaren Grund gibt, warum man das Stück so auffassen muss, wie der Autor es aufgefasst hat. Von Heiner Müller gibt es den Satz »Der Text ist immer klüger als sein Autor«, wobei »Autor« in diesem Falle im diesem ersten Sinne verstanden ist: er meint sich selbst. Er beschreibt damit eine Erfahrung, die er beim Inszenieren eigener älterer Stücke gemacht hat, in denen er Dinge fand, von denen er nichts gewusst hat. Das gilt für jeden Text (und jede Musik), und um so mehr, je älter er ist, weil ihm mit der Zeit Inhalte zuwachsen, von denen der Autor nichts gewusst haben kann, weil er schon tot war, als sie entstanden. Ein anderes Beispiel ist Wagners Erstaunen über Inhalte seines »Tannhäuser«-Librettos, die ihm erst bewusst wurden, als er es für die französische Version noch einmal genauestens durcharbeiten musste. Ein krasses Beispiel: Wagner kann nichts von Auschwitz gewusst, nicht einmal geahnt haben, aber es gehört nun zu seinen Stücken, vor allem zum »Parsifal« mit seinem rassistischen Hintergrund. Das ließe sich beliebig fortsetzen. Die Schlussfolgerung aus dieser Tatsache ist, dass es nicht geschickt wäre, sich an die Ansichten des Autors zu halten, weil er diese nicht realisiert hat, sondern an das, was uns vorliegt, das eben Dinge enthalten kann, von denen der Autor nichts wusste. Täte man es anders, wäre das Ergebnis weniger reich, als es sein könnte. (Praktische Nutzanwendung: Ich liebe es gar nicht, bei einem Publikumsgespräch zu erläutern, was wir mit dieser oder jener Sache »gemeint« haben, habe es aber sehr gern, wenn mir die Zuschauer sagen, was sie da verstanden haben, weil dabei oft ganz überraschenden Dinge zutage treten, von denen niemand etwas wusste, die aber doch da sein müssen.)

    Ein anderes ist es, wenn man das Etikett »Autor« oder »Komponist« verwendet, um es der fiktiven Gestalt anzukleben, die man dadurch konstruiert, dass man sich vorstellt, dass es ein bewusstes Wesen gibt, dass das Werk so konstruiert hat, wie wir es verstehen. Das ist eine praktische Übereinkunft, und es ist nach meiner Erfahrung ziemlich nützlich, diese kleine Ungenauigkeit zuzulassen, weil es das Gespräch vereinfacht und auch ein anderes emotionales Verhältnis zur Sache schafft. Den Intentionen dieses – fiktiven und mit der historischen Person, der das Werk zugeschrieben wird, keineswegs indentischen, ihr möglicherweise nicht einmal ähnlichen – Autors sollte man allerdings seht genau nachspüren, wenn man wissen will, womit man es zu tun hat.

    (Übrigens ist das Wichtigste von allem, dass man sich vom Autor nicht einschüchtern lässt, auch von diesem fiktiven nicht. Man soll ihn lieben, wenn das möglich ist – das ist freilich nicht immer der Fall –, aber keineswegs anbeten, das nimmt er nämlich übel und wird dann sehr schweigsam. ;) )

    Das ist für mich sehr überzeugend, auch die pragmatische Zuhilfenahme der fiktiven Instanz, die meiner Vorstellung einer notwendigen hermeneutisch-dialogischen Auseinandersetzung mit dem "Material" entgegenkommt.
    Noch eine Bemerkung zum realen Urheber einer Komposition oder Librettos oder eines weiterreichenden (Gesamt-)Konzepts (wie z.B. Wagner): Meine Überlegung richtete sich überhaupt gar nicht auf die Frage, ob man sich an die Intention eines solchen Urhebers "halten" solle, wenn es beispielsweise an eine Inszenierung geht. Sie ist vielmehr: Gewinne ich durch ein umfassendes Informiertsein über die Entstehungshintergründe einer Komposition, zu denen auch entsprechende Äußerungen des realen Urhebers gehören würden, nicht auch Möglichkeiten, um meinen Prozess der Aneignung auf "stabilerem Eis" stattfinden zu lassen? Es geht mir nicht darum, ein verstecktes "Was wollte er uns damit sagen"-Ei zu finden - weil es das zwar gegeben haben mag, aber auch für mich aus von dir genannten Gründen irrelevant ist. Es geht mir um kontextuelles Wissen um Fakten, die mit der Komposition vorsichtig und sorgfältig in Verbindung gebracht werden können, um einen größeren - notwendigen? - Horizont für deren Implikationen zu gewinnen (etwas, das du ja hinsichtlich der Wirkungsgeschichte auch als kaum zu vernachlässigen dargestellt hast). Brendel geht wie selbstverständlich davon aus, dass es das "Meinen" des Komponisten gibt, dem jener sich mit seinen Mitteln auf die Spur begeben kann.

    ...schreibt Christoph :wink:

  • Die genaue Kenntnis des Materials, aus dem das Theaterkunstwerk gebaut werden muss, führt zur vollständigen Freiheit. Je genauer man es kennt, desto besser kann man damit spielen, und wenn es wirklich klappt, dass man sich die Sache vollständig aneignet (der Nebensinn, den man hier hören mag, ist durchaus beabsichtig: »sich aneignet«, also sich zu Eigen macht, also die dem Autor wegnimmt), ist man auch vollkommen frei und kann im Prinzip machen, was man will, weil man in jeder Sekunde weiß, was mit dem Material möglich ist und was nicht. Und wenn man ein gutes Material hat, sind die Möglichkeiten fast unbegrenzt. Das ist meine praktische Erfahrung: Wenn man so arbeitet, ähnelt, was dann stattfindet wirklich einem Tanz, und es kann eine beglückende Erfahrung sein, die man keinesfalls haben wird, wenn man die Ketten trägt, die einem irgendeine Idee von Werktreue und was dergleichen mehr ist, angehängt haben.

    das finde ich sehr schön beschrieben.
    daß die "unbegrenzten Möglichkeiten" für den, dem auffällt, daß sich jemand tatsächlich an die Noten des Stückes oder den Text des Dramas (das, was Du "Material" nennst) hält, u.U. etwas relativiert erscheinen, sollte doch wahrzunehmen möglich sein, ohne der Gegenwärtigkeit des Kunstwerkes "Aufführung" Abbruch zu tun.

    Bezeichnet man damit die Person, die vor langer oder kurzer Zeit mit gewissen Absichten ein Werk niedergeschrieben hat, ist die Antwort meiner Ansicht nach leicht: die Frage ist im Grunde ganz irrelevant. Zum einen, weil sie gar nicht beantwortet werden kann (man kann es schlicht und einfach nicht mit Sicherheit ermitteln); zum anderen, weil niemand jemals genau das macht, was er beabsichtigt, so dass die Frage nach den Absichten die nach einer Vorstufe des Realisierten ist; zum dritten, weil es gar keinen nachvollziehbaren Grund gibt, warum man das Stück so auffassen muss, wie der Autor es aufgefasst hat. Von Heiner Müller gibt es den Satz »Der Text ist immer klüger als sein Autor«

    Auch hier: komplette Zustimmung.

    Ich bin inzwischen alt genug, um auf dieses Scheinproblem mehrere hundert Male eingegangen zu sein. Kurz vor der Rente stehend, erlaube ich mir, darauf nicht mehr zu antworten. Zumal Du die Antwort leicht finden kannst, wenn Du Dir die kleine Mühe machst, zu lesen, was Christian und ich geschrieben haben

    daß die Würdigung der Freiheit des Interpreten (natürlich bei genauer Kenntnis des "Materials" - ich würde lieber "Stück" sagen) und ein Verständnis für die wunderbaren Dinge, die Du in den 2 Absätzen oben so schön beschreibst, daran gebunden sein soll, daß man eine Theorie unwidersprochen übernimmt, die für gewisse Unschärfen in der Phänomenologie des musikalischen Kunstwerkes keinen Sinn hat - bzw keinen Sinn darin sieht, sie überhaupt wahrzunehmen - leuchtet mir nicht wirklich ein. Diese Beschreibungen davon, wie es um die Bedeutung dessen, was der Autor gewollt haben könnte, im Spiel mit seinem Stück letztendlich steht, überzeugen mich jedenfalls um Längen mehr als das Beharren auf einem theoretischen Gerüst, das vielleicht in der Polemik gegen Werktreue-Fanatiker hilfreich, aber für mich, der sich tatsächlich für das Threadthema interessiert, wie es denn wirklich mit dem Anteil von "Altem" am musikalischen Kunstwerk - und zwar gerade im Bewußtsein der Gegenwärtigkeit, auf der Du und Christian so vehement beharren - bestellt ist, unbefriedigend bleiben muss.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

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