Heitor Villa-Lobos: Die Streichquartette

  • Heitor Villa-Lobos: Die Streichquartette

    Der aus Brasilien stammende Heitor Villa-Lobos (1887-1959) ist vielleicht der bekannteste südamerikanische klassische Komponist der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich habe in den letzten Monaten seine 17 Streichquartette durchgehört und finde, sie haben einen eigenen Thread bei Capriccio verdient. Erlaube mir daher, die passenden Postings aus dem gemischten Streichquartettthread (marginal modifiziert) hier geblockt einzustellen.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Gehört aus der Gesamtaufnahme mit dem Cuarteto Latinoamericano, hier zusammengefasst die persönlichen Höreindrücke:

    Heitor Villa-Lobos: 1. Streichquartett (1915)

    Erfrischend anders, elfeinhalb Minuten kurz - im ersten Satz (Cantilena) melancholisch-sehnsüchtig, der zweite Satz (Brincadeira (A joke)) südamerikanisch tänzerisch beschwingt, der dritte Satz (Canto lirico) leidenschaftlich gesanglich, und im vierten Satz (Canconeta) schält sich eine selbstbewusste Melodie aus dem Geschehen, rhythmisch durchpulst. Diese Streichquartettmusik spricht den Hörer sehr unmittelbar an.

    Heitor Villa-Lobos: 2. Streichquartett (1915)

    Das Streichquartett Nr. 2 komponierte Heitor Villa-Lobos (1887-1959) wie das erste noch im Jahr 1915. Es schlägt gleich mit dem eröffnenden Allegro non troppo Satz einen anderen Tonfall als das erste an, ernster, nicht mehr so volkstümlich anschmiegsam, verbissener, vertiefter, vor allem harmonisch und auch in der Melodieführung eigen reizvoll und außergewöhnlich, ist man „Europäisches“ gewohnt. Originell dann auch das dicht schwirrende Scherzo, ernst und sehr persönlich wirkend das fließende Andante (für mich ein Satz zum Merken!). Dann südamerikanisches rhythmisches Muskelspiel, sich ins polyphone Gewebe einbringend – der 4. Satz ist Allegro deciso-presto-final überschrieben und reißt mit seinem südamerikanischen Streichquartettfeuer mit. Da ist dann doch auch wieder dieser volkstümliche Touch, den man beim Namen Villa-Lobos auch vermuten mag. Im letzten Drittel kehrt der Komponist aber zum Ernst des Restwerks zurück und rundet das Werk damit ins Nachdenkliche ab, in der letzten Minute vor den Schlussakkorden in hohe Lagen schwirrend.

    Heitor Villa-Lobos: 3. Streichquartett (1916)

    1916 entstand das etwa 22 Minuten lange 3. Streichquartett von Heitor Villa-Lobos. Vor allem die Sätze 1 (Allegro non troppo) und 3 (Molto adagio) finde ich hier wunderschön inspiriert, erstaunlich wie aus der Welt des französischen Impressionismus kommend. Mehr südlich temperamentvoll der 2. Satz (Molto vivo), ein Scherzo mit Pizzicati, und pulsierend-schwirrend der Finalsatz (Allegro con fuoco). Das Cuarteto Latinoamericano hat auch dieses Quartett wie das erste im Rahmen der Gesamteinspielung aller Villa-Lobos Streichquartette 1994/95 in Troy Savings Bank, Troy, NY aufgenommen (6 CD Box Brilliant 6634).

    Heitor Villa-Lobos: 4. Streichquartett (1917)

    Das 4. Streichquartett von Heitor Villa-Lobos entstand 1917, es wurde aber erst 1947 uraufgeführt. Beim Cuarteto Latinoamericano dauert es 23 ½ Minuten. Melodisch expressiv und harmonisch ambitioniert wirkt der 1. Satz (Allegro con moto). Atmosphärisch reizvoll, melodisch schön ausschwingend, kann man sich mit dem 2. Satz (Andantino (tranquillo)) einer ruhigen Amazonschifffahrt hingeben. Nach dem holprigen Ritt des 3. Satzes (Scherzo, allegro vivace) bietet das Allegro-Finale ein pulsierendes Fugato. Gehört wieder mit dem Cuarteto Latinoamericano (6 CD Box Brilliant 6634, wieder eines der Quartette, das 1998 und 2000 im Sala Blas Galindo of the Central Nacional de las Artes in Mexico City aufgenommen wurde).

    Heitor Villa-Lobos: 5. Streichquartett (1931)

    Das ist sicher ein kommerziell gut verkaufbares Werk. Ich mag´s trotzdem. :) So stellt man sich vielleicht wenn man Südamerika und Musik denkt ein populäres südamerikanisches Streichquartett vor – gefällig, mit inspiriertem brasilianischem rhythmischem Impetus gerne das Tänzerische findend (das geht in die Beine!), teilweise basierend auf Kinderliedern. Vier Sätze (Poco andantino, Vivo ed energico, Andantino und Allegro), Spieldauer beim Cuarteto Latinoamericano 16 Minuten – ein veritables südamerikanisches zündendes Hit-Quartett. Gehört wieder aus der 6 CD Box Brilliant 6634, aufgenommen 1998 und 2000 im Sala Blas Galindo of the Central Nacional de las Artes in Mexico City.

    Heitor Villa-Lobos: 6. Streichquartett (1938)

    Sieben Jahre nach dem hier gerade gelobten 5. Quartett entstanden (das habe ich gestern als Einstimmung auch gerne noch einmal gehört), beim Cuarteto Latinoamericano (Aufnahmedaten wie beim Quartett 1) ca. 24 1/2 Minuten lang, bestechen so wie ich es höre die Sätze 1, 2 und 4 (Poco animato; Allegretto; Allegro vivace) wieder vor allem deswegen, weil sich brasilianisch-rhythmische Passagen darin finden, die man so in europäischen Streichquartetten wohl nur sehr selten findet. Der "brasilianische Touch" gewissermaßen. Villa Lobos lotet den aber nicht bis zum Extrem aus. Er bricht das Geschehen vielfach mit überraschenden Tempo- und Stimmungswechseln, in nachdenkliche Passagen fallend, zwischendurch auch mal ein Fugato (es gibt auch eines im 3. Satz, Andante, quasi adagio) einstreuend. Im zweiten Satz fällt die von Pizzicati begleitete Cellomelodie auf, die später auch die Violine übernimmt. Und der dritte Satz spricht mich besonders an, gerade weil er so nebelverhangen, düster daherkommt. Villa Lobos rundet danach das Werk mit einem heiteren, aber durchaus auch komplexen Finale ab.

    Heitor Villa-Lobos: 7. Streichquartett (1942)

    Das 1942 in Rio de Janeiro komponierte und 1945 ebendort uraufgeführte Streichquartett Nr. 7 von Heitor Villa-Lobos ist mit (beim Cuarteto Latinamericano) knapp 35 Minuten das längste der insgesamt 17 Streichquartette des Komponisten. Das viersätzige Werk (Allegro; Andante; Scherzo, allegro vivace; Allegro giusto) besticht so wie ich es höre mit einer großen, eindringlichen Ernsthaftigkeit. Da ist ein Komponist bereit, ganz aus sich herauszugehen und das geht ungemein zu Herzen. Mich hat es bei der Erstbegegnung gestern zutiefst bewegt. Die Komplexität des vor allem rhythmischen Abwechslungsreichtums und die damit verbundene charakterliche Vielschichtigkeit, sich durch alle Sätze ziehend, haben mich von der ersten bis zur letzten Sekunde total in den Bann der Musik gezogen. Das Cuarteto Latinamericano spielte das Werk im Zuge der Gesamtaufnahme aller Villa-Lobos Streichquartette 1996 im Sala Nezahualcóyotl in Mexico City ein (6 CD Box Brilliant 6634). Im Booklet wird vermerkt, dass das Quartett Nr. 7 verschiedentlich als das beste Streichquartett des Komponisten angesehen wird. (Habe noch 10 vor mir, aber die "Vorgabe" ist schon sehr stark...)

    Heitor Villa-Lobos: 8. Streichquartett (1944)

    Das 8. Streichquartett von Heitor Villa-Lobos entstand 1944 und wurde 1946 uraufgeführt. Es dauert beim Cuarteto Latinoamericano (aus der Brilliant CD-Box mit allen Villa-Lobos Streichquartetten, wie die schon gehörten Quartette 1, 3 und 6 1994/95 aufgenommen) ca. 24 ½ Minuten. Der 1. Satz (Allegro) fällt mit seinen Kanonelementen und der Chromatik auf. Das nun folgende Lento des 2. Satzes wirkt auf mich anrührend melancholisch, im Mittelteil nahezu wie ein verzweifelter Aufschrei. Der südamerikanisch beschwingte 3. Satz (Scherzo, vivace) baut im Mittelteil ein brasilianisches Lied ein, und das Finale (Quasi allegro) kommt auch südamerikanisch durchpulst daher, mit reizvollen Charakterwechseln und vor allem polyphon.

    Heitor Villa-Lobos: 9. Streichquartett (1945)

    Für mich ist das 1945 komponierte 9. Streichquartett von Heitor Villa-Lobos quasi „Mahlers Sechste“ unter den Villa-Lobos Streichquartetten. Beim erstmaligen Hören hab´ ich mich sofort mit dem eröffnenden komplexen kontrapunktischen Allegro wie bei einer Verfolgungsjagd gefühlt – als Verfolgter. Vielleicht hat der Verfolgte im 2. Satz, Andantino vagaroso, einen Platz zum Durchatmen gefunden, die Musik dieses langsamen Satzes bleibt bangend, schicksalsschwer, irgendwie innerlich zerrissen. Im Mittelteil scheint der Verfolgte eine Fieberphantasie zu haben. Mit dem 3. Satz, Allegro poco moderato (con bravura) geht die Verfolgungsjagd weiter, im Mittelteil auch mit einem Fugato. Und im Finale, Molto allegro, wird die Jagd teilweise motorisch treibend fortgesetzt. Nach etwa drei Minuten landet der Verfolgte kurz auf einer Lichtung, erneut kann er durchatmen, dann geht die Hetzjagd aber unbarmherzig weiter. Derart außermusikalisch „infiltriert“ landet man (beim Cuarteto Latinoamericano nach ca. 28 ½ Minuten, 6 CD Box Brilliant 6634, erneut eines der Quartette, das 1998 und 2000 im Sala Blas Galindo of the Central Nacional de las Artes in Mexico City eingespielt wurde) – ja wo jetzt, vor dem „Showdown“, als Gefangener oder als erfolgreich Geflohener? Der Schlussakkord lässt das offen.

    Heitor Villa-Lobos: 10. Streichquartett (1946)

    Weiter auf einer wie ich finde sehr bereichernden Entdeckungsreise, in die Streichquartettwelt des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos (1887-1959), der ja insgesamt 17 Streichquartette komponiert hat: 1946 entstand dessen 10. Streichquartett. Es dauert beim Cuarteto Latinoamericano (6 CD Box Brilliant 6634, wieder eines der Quartette, das 1998 und 2000 im Sala Blas Galindo of the Central Nacional de las Artes in Mexico City aufgenommen wurde) ca. 25 ½ Minuten. Der 1. Satz (Poco animato) bietet ein dichtes, abwechslungsreiches, teilweise grüblerisches Geflecht – einmal mehr höre ich hier die Inspiration stärker als die Konstruktion (die den alles zusammenhaltenden Unterbau liefert) mit. Das nachdenkliche, vertiefte Adagio des 2. Satzes ist ein großer, schwergewichtiger langsamer Streichquartettsatz, und im kurzen rascheren Mitteilteil dieses Satzes wird völlig überraschend Johann Strauss´ „Fledermaus“ zitiert. Den 3. Satz, Scherzo, allegro vivace, höre ich als surrealen Ritt mit faszinierenden Farb- und Schichtwechseln im Trioteil. Erneut ein dichtes Gewebe bringt der 4. Satz, Molto allegro, teilweise mit reizvoller kontrapunktischer Verschachtelung. Ich lerne Villa-Lobos mit dessen Streichquartetten als einen wirklich inspirierten, sehr ernsthaften Komponisten kennen und schätzen, der immer neue musikalische Substanz in die Formen zu gießen imstande ist und bin unverändert gespannt auf die weiteren Quartette, die ich noch entdecken darf.

    Heitor Villa-Lobos: 11. Streichquartett (1948)

    1948 entstand das 11. Streichquartett von Heitor Villa-Lobos. Erst 1953 wurde es uraufgeführt. Es dauert beim Cuarteto Latinoamericano ca. 28 Minuten, und diesmal findet sich das Scherzo als 2. Satz. Sehr bestimmte, teilweise harmonisch schräge Musik bringt der 1. Satz (Allegro non troppo). Energisch gibt sich der 2. Satz (Scherzo, vivace), großteils rhythmisch reizvoll durchpulst. Das verinnerlichte Adagio des 3. Satzes verströmt ganz große Ernsthaftigkeit. Und der aufgeweckte 4. Satz (Poco andantino (quasi allegro)) wird wieder rhythmisch durchpulst, behält dabei aber auch einen eher ernsten, das Geflecht kunstvoll verwebenden Grundton. Villa-Lobos versucht so wie ich es höre mit jedem Streichquartett, etwas ganz Eigenständiges zu schaffen, sich nicht zu wiederholen, da stellt sich von Werk zu Werk ein wirklich ambitionierter Streichquartett-Komponist vor. Die Aufnahme des Cuarteto Latinoamericano (gehört aus der 6 CD Box Brilliant 6634) entstand so wie einige andere Aufnahmen auch 1998 oder 2000 im Sala Blas Galindo of the Central Nacional de las Artes in Mexico City.

    Heitor Villa-Lobos: 12. Streichquartett (1950)

    Das 12. Streichquartett von Heitor Villa-Lobos dauert beim Cuarteto Latinoamericano ca. 22 ½ Minuten. Es entstand 1950 in New York und wurde 1951 uraufgeführt. Besonders den 2. Satz finde ich hier bemerkenswert, herausragend, zum Jederzeitwiederhören zu notieren.
    Persönliche Höreindrücke:
    1.Satz (Allegro): Neoklassizistisch streng, im Mittelteil grüblerisch.
    2.Satz (Andante malinconico): Im Lyrischen melodisch reizvoll ausschwingend, da entfaltet sich ein ganz eigener südlicher, sommerlich erhitzter Zauber; im Mittelteil heiter kontrapunktisch – das ist wohl einer der inspiriertesten und schönsten langsamen Streichquartettsätze von Villa-Lobos.
    3.Satz (Allegro leggiero): Beginnt überraschend und gibt sich auch weiter tlw. ironisch, karikaturenhaft, schelmisch, zieht heiter musikantisch vorbei.
    4.Satz (Allegro benritmato): Ein virtuoses und kontrapunktisch ambitioniertes Finale.
    Die Aufnahme des Cuarteto Latinoamericano, gehört aus der 6 CD Box Brilliant 6634, entstand wie einige andere Quartette dieser Gesamtaufnahme 1998 oder 2000 im Sala Blas Galindo of the Central Nacional de las Artes in Mexico City.

    Heitor Villa-Lobos: 13. Streichquartett (1951)

    Auch das 1951 entstandene, beim Cuarteto Latinoamericano knapp über 21 Minuten lange 13. Streichquartett von Heitor Villa-Lobos war für mich wieder die reizvolle Entdeckung wert.
    Ich habe es so gehört:
    1.Satz Allegro non troppo
    Das Cello eröffnet den Fugato-Beginn, der nach dreieinhalb Minuten noch einmal erklingt - zu hören ist gedankenschwere, erzählerisch eindringliche Musik.
    2.Satz Scherzo-vivace
    Treibende Musik, mit schrägen Einwürfen.
    3.Satz Adagio
    Was für tiefsinnige Musik, mit weit gespannten Melodiebögen! Atmosphärisch ganz eigen, wieder einer dieser außergewöhnlichen langsamen Sätze von Villa-Lobos.
    4.Satz Allegro vivace
    Und was für ein Kontrast zum Adagio nun – optimistisch beschwingte Musik rundet dieses Quartett ab.
    Gehört wieder aus der 6 CD Box Brilliant 6634 (wie einige andere Quartette dieser Gesamtaufnahme 1998 oder 2000 im Sala Blas Galindo of the Central Nacional de las Artes in Mexico City aufgenommen)

    Heitor Villa-Lobos: 14. Streichquartett (1953)

    Das 1953 komponierte und 1954 uraufgeführte Streichquartett Nr. 14 von Heitor Villa-Lobos bietet ziemlich fordernde Streichquartettmusik. Zumal die Ecksätze (Allegro bzw. Molto allegro) haben etwas Entschiedenes, Eindringliches, speziell Verbissenes. Der 2. Satz, ein Andante, behält die Eindringlichkeit aufrecht in seiner Nachdenklichkeit, die den Hörer ins Geschehen hineinzieht. Aufhorchen lässt hier der Mittelteil, mit dem sich kurz eine seltsam zauberische, melancholische Oase zu öffnen scheint. Das Verbissene beherrscht dann wieder den 3. Satz (Scherzo, vivace), gerade im Beschwingten dieses Satzes, der noch etwas schräger als die anderen wirkt. Beim Cuarteto Latinoamericano (das dieses Quartett wie einige andere für seine Gesamtaufnahme 1994/95 in Troy Savings Bank, Troy, New York, aufnahm, enthalten in der abgebildeten Brilliant CD-Box) dauert es ca. 18 Minuten.

    Heitor Villa-Lobos: 15. Streichquartett (1954)

    Das 15. Streichquartett von Heitor Villa-Lobos entstand 1954 in New York. Es hat wieder vier Sätze und dauert beim Cuarteto Latinoamericano ca. 18 ½ Minuten. Der 1. Satz (Allegro non troppo) bringt grimmige, fast verzweifelte, vielfach auch gehetzt wirkende Musik. Mit der zauberischen, filigranen Atmosphäre, die aus flirrender südamerikanischer Hitze zu kommen scheint, taucht man danach in einen dieser erstaunlichen langsamen Streichquartettsätze von Villa-Lobos (Moderato) ein. Der kurze 3. Satz (Scherzo, vivo) läuft über Stock und Stein, und der 4. Satz (Allegro) wirkt wieder grimmig, besticht mit Kontrapunkt und hat auch dadurch etwas reizvoll „Gelehrtes“. Allein neuerlich so einen bemerkenswerten 2. Satz entdecken zu dürfen lohnt das Durchhören aller Villa-Lobos Streichquartette.

    Heitor Villa-Lobos: 16. Streichquartett (1955)

    In Paris komponierte Heitor Villa-Lobos 1955 sein 16. Streichquartett, das dann 1958 uraufgeführt wurde. Es hat wieder vier Sätze und dauert beim Cuarteto Latinoamericano ca. 20 ½ Minuten. Ich höre es als „intellektuelles“ Werk. Der 1. Satz (Allegro non troppo) bietet einen „durchdachten“ Fluss. Der 2. Satz (Molto andante (quasi adagio)) lässt gedankenverloren ausholende Melodiebögen hören, im Mittelteil „eine ernsthafte Diskussion“. Das Vivace (scherzo) des 3. Satzes kommt mit südamerikanischem Drive daher, ich habe beim Hören außermusikalisch Hektik im Berufsverkehr assoziiert. Und die Diskutanten „ereifern sich“ auch im 4. Satz (Molto allegro) über allerlei, mit aller Entschiedenheit.

    Heitor Villa-Lobos: 17. Streichquartett (1957)

    Heitor Villa-Lobos´ letztes Streichquartett, sein siebzehntes, entstand 1957 und wurde 1959, einem Monat vor dem Tod des Komponisten, in dessen krankheitsbedingter Abwesenheit vom Budapest String Quartet in Washington D.C. uraufgeführt. Der das Werk eröffnende Allegro non troppo Satz des wie immer viersätzigen Werks bringt leidenschaftliche, darin auch intensiv innige Streichquartettmusik. Dem folgt ein bemerkenswertes Lento, dessen Randteile berückend schwerblütige, wehmütige, eigen schöne Gesangsbögen hören lassen, die sehr zu Herzen gehen, während der Mittelteil flotter angelegt ist. Zumindest die langsamen Abschnitte schließen an die Reihe wirklich schöner langsamer Villa-Lobos-Streichquartettsätze an, die ich froh bin, allesamt kennengelernt zu haben. Dem aufgeweckt-virtuosen Scherzo, allegro vivace des 3. Satzes folgt ein auch bemerkenswertes Allegro vivace (con fuoco) Finale. Das geht wieder mal sehr bestimmt los, doch dann deklamiert das Cello, man solle noch einmal die ganze Bandbreite vom Zupackenden bis zum innig Verträumten hübsch abwechslungsreich präsentieren, und so wird es gemacht – ein starkes letztes Plädoyer eines Komponisten, der siebzehnmal, von 1915 bis 1957, beeindruckend ernsthaft versucht hat, dem Genre des Streichquartetts markante, eigenständige Beiträge abzuringen, teilweise das Fluidum seiner Herkunft alles andere als verleugnend und gerade damit sowie mit einigen herausragend inspirierten langsamen Sätzen aufhorchen lassende Akzente setzend. Beim Cuarteto Latinoamericano (Brilliant CD Box, Aufnahmedaten wie bei den Quartetten 1 und 6) dauert das 17. Streichquartett wie das 16. auch ca. 20 ½ Minuten.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Vielen Dank an Alexander!

    Vor einigen Monaten habe ich im einschlägigen Groß-Thread zum täglichen Streichquartett einen eher persönlichen Beitrag abgeliefert. Hier in Kopie - meine kursiv und fett gesetzte These, die ebenfalls auf einem einzigen gezielten Hördurchgang beruht, wobei ich das eine oder andere Quartett mittlerweile schon mehrmals gehört habe, kann gerne in Abrede gestellt oder bestätigt werden. (Damals ist das nicht geschehen, was mich nun aber nicht weiter verwundert oder belastet ... :P ).

    Alexanders engagiertes kleines (und hiermit als systematisch unterstelltes ... ) Hörprojekt bereitet mir Freude, habe ich doch vor Jahren die Quartette des Brasilianers in obiger Integrale (als Konkurrenten käme höchstens noch das Danubius-Quartett in Frage) ebenso schön der Reihe nach gehört und ein wenig für mich verarbeitet. Dank also an den Herrn K.!

    Die einzelnen CDs tendieren dazu, drei (oder zwei) Werke aus im Allgemeinen unterschiedlichen Schaffensperioden zu kombinieren. Könnte es sein, dass man auch drei Schaffensperioden beim Meister unterscheiden kann - oder erscheint dies angesichts des (positiv betrachtet) sehr markanten und (eher negativ betrachtet) sehr reichhaltigen und repetitiven Personalstils problematisch?

    Ich bin gewiss ein Liebhaber seiner Musik - was auch hier im Forum nicht nur auf Gegenliebe gestoßen ist -, sehe aber auch schon solche Gefahr ( ).

    Villa-Lobos hat wie die Streichquartette auch die Sinfonien über sein ganzes Leben verteilt, aber er war kein genuiner Sinfoniker im formalen Sinn. Die berühmten Choros wiederum gehören in die 1920er Jahre, die noch berühmteren Bachianas entstanden ebenso tendenziell am Stück zwanzig Jahre später.

    Längst bin ich überzeugt, dass das Streichquartett als zu bändigende Standardform auch einen Sprudel-Kreator wie den Brasilianer im besten Sinne des Konzepts nach vorne und in die Höhe gebracht hat.

    Kleine These: Man kann drei Schaffensphasen bei den Quartetten nachvollziehen: die Frühphase mit anarchischen. folkloristischen, impressionistischen Tendenzen, eine mittlere Periode - Herzstück: das von Alexander sehr schön präsentierte neunte als Mahler-Sechs-Pendant ( ) -, in der sich Villa-Lobos als Expressionist, Experimentator, kühler und kühner Schöpfer recht neuer Musik zeigt, und die eher klassizistisch abgeklärte Spätphase der Fünfziger, in der auch etwa mehrere Klavierkonzerte entstanden, welche sich nicht mehr sonderlich voneinander unterscheiden, geschweige denn Neues bringen.

    :cincinbier: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Wow, habt Ihr Zwei Euch abgesprochen oder sind das die guten Vorsätze fürs neue Jahr mehr Schwung ins Forum zu bringen. Da hinke ich ja furchtbar hinterher. Aus meinem Vorhaben, über die Feiertage die Holmboe Quartette systematisch durchzuhören, ist nichts geworden. :versteck1: Na, vielleicht klappt es ja im Neuen Jahr. Auch Milhaud und Simpson warten noch auf eine entsprechende Würdigung.

    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Ach was, wir hinken doch alle!

    Milhaud kenne ich mittlerweile zum größeren Teil, die Simpson-Quartette überhaupt noch nicht, während ich doch jede der Sinfonien zwischen dreimal und deutlich öfter gehört habe.

    Holmboes Sinfonien habe ich alle jeweils ein- oder zweimal gehört - und besitze die Streichquartette auch noch nicht.

    Und dann ist da noch dieser Vainberg ... :versteck1:

    All das würde mich interessieren. Wenn der Tag halt nicht nur rund sechsunddreißig Stunden hätte! =O

    Zurück zum Thema: Ich kann Dir, Wieland, die obige Box nur empfehlen - falls das nötig sein sollte, was ich nicht so recht glaube ...

    :thumbup: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Da hinke ich ja furchtbar hinterher.

    Da schreibt der Richtige... ;)
    Seit Du hier im Forum bist, kennt mein Streichquartettwahn ja überhaupt keine Grenzen mehr. 8)
    Abgesehen davon (und zum Thema): Ich empfehle die Box auch sehr! Große Kunst für wenig Geld!
    PS: Mit Holmboe fange ich auch bald an. Und nicht nur mit dem...

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Auch von mir ganz herzlichen Dank an Alexander für die tolle Threaderöffnung. :clap:
    Ich habe die Quartette in der Brillant-Box eher aus Schnäppchenjagd-Motiven erstanden :rolleyes: . Allerdings mochte ich etliche Werke von V-L schon seit Langem; die Bachianas und die Choros finde ich einzigartig. Mit den Sinfonien habe ich Probleme (gibt ja auch einen schlecht gepflegten Thread dazu,https://www.capriccio-kulturforum.de/index.php?thre…-die-sinfonien/ ), und mit derart gemischten Erwartungen bin ich ans Hören der Quartette gegangen. 2016 war zufällig das Jahr, in dem meine Liebe zum Streichquartett erwachte, also war da auch immer noch viel hochklassige Konkurrenz, die 2017 noch gehört werden musste. Insofern ging es mit dem Durcharbeiten langsam voran...
    Die These von andréjo bez. der Schaffensphasen und der Kombination auf den CDs wird ja durch das Booklet ausdrücklich bestätigt - wenn auch in der folgenden Ordnung: Frühe Phase 1-4, mittlere Phase 5, Spätwerk 6-17. Ich habe also chronologisch gehört und muss gestehen, dass sich mir die Schaffensphasen in der Reihenfolge 2-1-3 (der Phasen) erschlossen haben.

    Schade, dass das Booklet nur auf Englisch ist; manche Hinweise sind bereichernd, z.B. was bestimmte Brasilianische Rhythmen betrifft.

    Dank Alexanders unermüdlichem Feiß kommt dem V-L-Quartettschaffen jetzt noch das von diesem Herrn Weinberg in die Quere, den ich mir auch chronologisch reinziehe, nachdem hier ja geradezu ein Hype entstanden ist. Allerdings macht der mich bis jetzt gar nicht recht an. :versteck1: Aber das ist ein anderer Thread...
    Jedenfalls höre ich jetzt V-L mit anderen Ohren. Die Quartette sind für mich ein ganz neuer, überraschender Aspekt in seinem Schaffen. Danke für die Erweiterung des Horizonts!

    Ich habe eiserne Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich auch noch andere.

  • Nachdem Alberich mich kritisch bestätigt hat, wird mir mittelfristig nichts anderes übrig bleiben als die Quartette wieder einmal zu hören. Nicht in der zweifellos intelligenten Reihenfolge der Scheiben, sondern streng chronologisch - dazu die Booklet-Texte und die Kommentare in diesem Thread als "Anleitungen". Ist ja nun kein Riesenprojekt, insbesondere weil man, weil ich nicht auch noch Vergleiche anstellen darf/ kann/ muss. Vorfreude!

    Zwar erinnere ich mich wirklich nicht mehr an die Booklet-Texte, kann mich aber so spontan nicht damit anfreunden, dass die mittlere Phase auf ein einziges und recht frühes Quartett beschränkt sein soll.

    Aber wie gesagt: Ich habe die Quartette natürlich nicht mehr annähernd so im Ohr wie wohl Alexander und Alberich.

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • NeeNee, keine Sorge. Ich für meinen Teil habe nur die Nrn 1,3,5, und (zufällig, weil gerade im Player) 17 im Ohr. Darüber hinaus herrscht Überfrachtungs-Demenz ;)

    Ich freue mich sehr auf neue Ansichten!

    Ich habe eiserne Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich auch noch andere.

  • ... kleine persönliche Apercus: zu 1 und 2

    Die ersten beiden Quartette aus dem Jahre 1915 habe ich heute gehört und bin verblüfft, in welch hohem Maße der Komponist hier experimentiert und in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft dabei zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen gelangt - selbst wenn der brasilianische Tonfall und Ansätze zum späteren Personalstil natürlich in beiden Fällen gegeben sind. Das erste Werk hat Suiten-Charakter, ist (einmalig!) sechssätzig, trägt (ebenfalls einmalig!) sprechende Titel mit im Wesentlichen tänzerisch-folkloristischem Bezug und hat - betrachtet man die Noten - bei aller Vielfalt überschaubare Gestalt.

    Man möge mir widersprechen, wenn ich als Laie den Streichern hier überschaubare Schwierigkeiten zu bescheinigen wage, während das klassisch viersätzige zweite Quartett sehr diffizil und komplex erscheint. Der Schluss stellt ein besonderes Faszinosum dar: eine Presto-Stretta sul ponticello. Im Gegensatz zum ersten Quartett ist es mir gar nicht leicht gefallen, der Partitur zu folgen.

    Besonders der harmonische Eindruck, den das zweite Quartett erweckt, erinnert mich an den klassizistischen Impressionismus der beiden Quartette von Ravel und Debussy.

    :cincinbier: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • ...: zu 3 und 4

    Alexander hat vieles ohnehin gesagt. Das dritte Quartett von 1916 bezieht sich erkennbar und deutlicher noch als das zweite auf die Vorbilder Debussy und - stärker aufgrund der rhythmischen Profilierung (etwa Zweier- gegen Dreier-Rhythmus oder die typisch südamerikanische Betonung der vierten und letzten Taktzeit neben der ersten) - Ravel (ganz klar aus dem Blickfeld eines Südamerikaners) - man beachte auch die vielen Quinten und Quarten! Das vierte von 1917 erinnert mich dann schon immer wieder deutlich an das Figurenwerk oder die Imitationstechnik der "Bachianas Brasileiras". Satztechnisch wird es luzider und transparenter, die Stimmführung linearer, der französische Einfluss verliert an Bedeutung.

    Da das nächste Quartett deutlich später entstanden ist, bietet sich ein Einschnitt an. Ich möchte auch gar nicht von meinem Versuch einer summarischen Charakterisierung dieser ersten Phase weiter oben abweichen. Was mir klarer geworden ist gegenüber dem Kennenlernen der Werke vor einigen Jahren (einschließlich der Lektüre des Booklets): Villa-Lobos experimentiert mit Spieltechniken und verweist zugleich unmissverständlich auf Vorbilder, von denen er sich ebenso zu lösen beginnt. Das Gemeinsame der vier Quartette darüber hinaus ist schwer zu benennen; allenthalben ist es aber durch und durch brasilianische Musik.

    :cincinbier: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • ...: zu 5

    Mal sehen, ob dieses Quartett tatsächlich jenen Sonderstatus verdient (1), den es zumindest dahingehend einnimmt, dass (1931) der Meister vierzehn Jahre lang keine Quartette geschrieben hatte und sechs Jahre lang keine schreiben wird. Mir gefällt es ebenso wie Alexander - vielleicht kann man ihm vorwerfen, dass es aus vielen gereihten kleinen Tänzen besteht, eigentlich nur notdürftig noch durch die Satzfolge viergeteilt, aber wohl nicht unbedingt strukturell durchdacht. Sei's drum; das macht Villa-Lobos später in vielen seiner Orchesterwerke ja nicht anders.

    (1) Ich bin ja nun gespannt, inwieweit ich meine obigen Spekulationen zu den drei Phasen aufrechterhalten werde können ...

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • ...: zu 6

    Nun, die Nähe zum fünften Quartett bei größerer Komplexität nehme ich ganz wie Alexander wahr. Und in der Tat erscheint der langsame Satz geschlossen und ausdrucksstark wie vielleicht bislang kein solcher in den Quartetten. Das Werk wirkt insgesamt kunstvoller strukturiert und immer wieder sehr polyphon. Man spürt im Hintergrund die Bachianas Brasileiras, welche mittlerweile (1938) quasi halb fertig sind.

    :cincinbier: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • ...: zu 7 und 8

    Das längste Streichquartett entstand 1942. Alexander hat Wesentliches zu seiner persönlichen Sicht gesagt bzw. sich auch auf das Booklet bezogen. Was mir - als auch sonst oft typisch für den Komponisten - hier ganz besonders aufgefallen ist, zeigt sich auf rhythmischer Ebene im Mit- und Nacheinander von geraden und ungeraden Phrasen, vielfach verknüpft mit Punktierung und markanter Synkopierung auf Taktebene oder über den Takt hinausgehend. Abgesehen vielleicht vom langsamen Satz spielen Kantilenen keine Rolle und wird das brasilianische Element eher versteckt hinter Chromatik und zunehmend erweiterter Tonalität. Alle vier Sätze werden in klassizistischer Manier auf einem Dur-Akkord oder auf dem Grundton am Ende einer Dur-Episode beschlossen. Ein gerade wegen seines Variantenreichtums unter Verzicht auf schlichte Melodik beeindruckendes Werk.

    Das achte Quartett, zwei Jahre später entstanden, empfinde ich als nicht weniger kunstvoll. Chromatik und imitative Techniken erscheinen mir sogar noch stärker ausschlaggebend als im vorausgehenden Werk; die Klanglichkeit ist mindestens so modern. Und doch gibt es - oben wurde darauf hingewiesen - eine beinahe nostalgische Insel mitten im langsamen Satz, wobei das Moment des "Aufschreis" (s.o.) wie wilde Trauer auf mich wirkt, Trauer darüber, dass die alte Zeit vorüber ist. Der dritte Satz weist spezifische Spieltechniken wie das sul ponticello auf, die wir in den ersten Quartetten auch angetroffen haben, später nicht oder kaum mehr.

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • ...: zu 9

    Muss ich des Threadstarters hübscher Charakterisierung noch unbedingt etwas hinzufügen? Eigentlich nicht. Daher nur ein Sätzchen: Das 9. Quartett aus dem Jahre 1945 setzt stilistisch konsequent die Linie der Vorgänger fort. Und doch noch ein zweites ( :P ) : Mir erscheint die Hetzjagd am Schluss gar nicht mehr so bedrohlich wie zweifellos vorher, denn es ist die berühmte brasilianische Eisenbahn, die hier anklingt. Letzteres stellt auch das Booklet fest, Letzteres höre ich aber sehr wohl ganz unabhängig davon ...

    :) Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • ...: zu 10 und 11

    Danke natürlich auch für Deine kleine Rückmeldung, Alexander, und auf in die quantitativ zweite Halbzeit! Chronologisch sind es aber nur noch etwa dreizehn Lebensjahre, die dem Komponisten vergönnt sind, und zwischen 1946 und 1957 entstehen acht weitere Streichquartette.

    Mit dem zehnten. Quartett (1946) hat der Brasilianer die Komplexität nicht weiter gesteigert, eher bereits zurückgefahren. Dreier-Figuren, punktiert oder synkopiert, aber nicht triolisch, stattdessen mit Pause oder mit der ersten Figur in doppelter Länge beherrschen weite Passagen rhythmisch, vom eigenwilligen langsamen Satz einmal abgesehen. Auch Kantilenen finden sich wieder stärker, die brasilianische Farbe spielt eine wesentlichere Rolle als im gehetzten Vorgängerwerk. Nur der Hang zu atonalen Harmonien bleibt bestehen.

    Das elfte Quartett von 1948 impliziert deutliche Beruhigung und (im besten Sinne) Glättung. Bereits das Notenbild lässt dies erkennen. Die Tonalität ist sicherer, die reizvolle Harmonik nicht nur unverwechselbarer, sondern vor allem einheitlicher. Immer wieder fühle ich mich jetzt an Orchesterwerke, die im letzten Lebensjahrzehnt entstanden sind, erinnert. Alexander hat das Adjektiv "schräg" verwendet - gerne - die Musik ist schräg wie so oft neoklassischer Strawinsky (besonders im Scherzo-Satz), ganz mild jazzoid, aber eben nicht mehr oder minder atonal. Auch ein haydnisch humoristischer Tonfall findet sich jetzt gelegentlich. Und doch stets reiner Villa-Lobos und reines Brasilien!

    Fazit vorläufig: Ich tendiere dazu, hier einen klaren Einschnitt hin zum Spätwerk vorzunehmen - ich käme dann also eher auf vier als auf drei Stilphasen - oder eben doch nur auf meine drei, wenn man das fünfte Quartett als chronologischen Ausrutscher betrachtet. :P Aber schau'n wir erst mal.

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • ...: zu 12 und 13

    Das zwöfte Quartett stammt aus dem Jahr 1950, das nächste entstand 1951.

    Viele von Alexander (oder mir) genannte Charakteristika prägen diese reifen Kompositionen So hören wir Ostinato-Figuren, nicht selten als Dreier-Komplexe, welche Kantilenen garnieren. Die Kantilenen sind gerne dem Cello anheim gestellt, der Komponist liebt imitatorische und andere polyphone Formen in einer nur mild, im Quartett von 1951 deutlicher, aber stets apart erweiterten Tonalität voller Schwung respektive Melancholie. Das brasilianische Timbre wird rhythmisch akzentuiert. Man hört wieder wie in manchen frühen Quartetten deutlich Volksliedhaftes, das aber jetzt wie durch einen Schleier der Reife und Erfahrung, sozusagen sentimentalisch erhöht wirkt. Melodie-Passagen repetiert Villa-Lobos gern mehrmals jeweils um eine Sekunde versetzt.

    Eine Kleinigkeit, die mir zuletzt bei mehreren Quartetten aufgefallen ist: Das thematische Material wird zu Beginn des Kopfsatzes vom Cello (allein oder um ein Intervall versetzt zusammen mit einem der Partner) vorgestellt.

    Wie Alexander beeindruckt mich der langsame Satz des dreizehnten Quartetts ganz besonders. (... Dass der Cellopart in der einen oder anderen seiner Phrasen hier oder in anderen Sätzen motivische Ähnlichkeiten mit dem Beginn des Kopfsatzes aufweist ... ist das nun geschenkt und banal oder eben doch nicht ... wenn ich mir bisweilen Analysen zu bedeutenden Werken der Musikliteratur ansehe, wo sehr gerne mit solchen Analogien gearbeitet wird ... :/ )

    Generell wage ich mittlerweile die Behauptung - der man widersprechen möge, sollte ich falsch liegen -, dass Villa-Lobos längst einen unverwechselbaren Personalstil erreicht hat, der im Einzelwerk viel geschlossener erscheint als in den frühen Quartetten - und der mich schlicht sehr anspricht -, dass aber die konsequente Durchführungsarbeit an klar umrissenem Material und der thematische Bezug zwischen den Sätzen nicht seine Stärken sind. Vielleicht kann man ihm das vorwerfen, vielleicht macht ihn das eben zu einem Komponisten der zweiten Riege und etliche der 17 Quartette verwechselbar, hört man sie nicht intensiv und häufig. Es stört mich nicht.

    :cincinbier: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • ...: zu 14 und 15

    Beim vierzehnten Quartett von 1953 zitiert das Booklet Arnold Estrela, der die Komposition als "Quarten-Quartett" ("quartet of the fourths") bezeichnet hat. Das ist kein gänzlich neues Phänomen und auch Quinten - etwa motorisch begleitend - haben dem Werk des Brasilianers schon vielfach seinen Charakter verliehen.

    Was mir bei Villa-Lobos, insbesondere beim späteren Schaffen, des Öfteren auffällt, ist eine Tendenz, Sätze vielfach abrupt auf einem Grundton, eventuell mit offener Quinte abzuschließen, wodurch atonal oder chromatisch geschärfte Passagen im Vorfeld neutralisiert werden. Es ist dies ein Charakteristikum, das ich als gewollt naiv empfinde. Natürlich finden sich an entsprechender Stelle auch Reizharmonien, beispielsweise durch Sekundreibungen.

    Beim fünfzehnten Quartett von 1954 betont das Booklet wiederum die Relevanz von Quarten, mehr aber noch die Quinte als zentrales Intervall. Auch bedingt durch dieses Intervall erinnert mich der Verlauf mancher Passage recht deutlich wieder einmal an die Bachianas Brasileiras. Sehr schön ist der langsame Satz mit seinen Sordino-Effekten und Orgelpunkten.

    Das letzte gute halbe Dutzend der Streichquartette aus Brasilien weist übrigens eher eine Länge von jeweils 20 denn von 30 Minuten auf. Da mir Ähnliches auch bei den Klavierkonzerten aufgefallen ist, mag dies mit dem Willen des Komponisten zu tun haben, sich einfacher und kompakter auszudrücken, nachdem ihm die Reihung gänzlich unterschiedlichen Materials innerhalb der Sätze ohnehin fremd geworden ist.

    :cincinbier: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • ...: zu 16 und 17 nebst kleinem Fazit

    Das vorletzte Quartett von 1955 ist bei aller Vielfalt der Stimmungen und Spielweisen, Melodien und Rhythmen ein transparentes, bisweilen verspieltes Werk voller Lebensfreude. Der neoklassizistische Charakter tritt noch deutlicher hervor als in den vorausgehenden Werken, ausgeprägte Folkloristik halte ich für sekundär. Im Finalsatz finden sich viele Glissandi, die meines Erachtens zu Alexanders Assoziationen beigetragen haben.

    Von 1957 datiert das letzte Quartett. Wieder herrscht ein Geist neoklassizistischer Einfachheit und Stilisierung vor, die Ausdruckstiefe (etwa im langsamen Satz) ist aber meines Erachtens subtiler als im vorletzten Quartett. Mittlerweile hat der Komponist seine Sinfonien im Wesentlichen abgeschlossen, aber es folgen noch zwei Klavierkonzerte, in denen betonte Einfachheit dominiert.

    So würde ich - jetzt mit aufgefrischter Hörerfahrung - doch im Großen und Ganzen bei meiner Einteilung bleiben, wie ich sie anfangs vorgenommen habe. Ich sehe allenfalls die letzten Quartette positiver, als dies möglicherweise oben erscheint.

    Die ersten Quartette zeigen den Komponisten demnach auf der Suche nach einer eigenen Sprache; das fünfte Quartett würde ich nun nicht separat setzen - schon weil mir dies rein quantitativ nicht gefällt, aber vor allem weil Villa-Lobos hier zu einem betont volkstümlichen Stil findet, was unschwer ein wesentliches Moment seines Personalstils auch weiterhin ausmacht. Bis zum zehnten Quartett wird seine Schreibweise dann zunehmend komplexer, seriöser, ausdrucksstärker wie eben auch musikalisch radikaler, ohne dass er sich noch auf der Suche nach Präliminarien befände. Mit seinen letzten Werken schließlich ist er sich seiner Sprache so sicher, dass er sich auf eine neue Klassizität besinnen kann.

    Gewiss erscheint eine solche Phasenbestimmung weniger eklatant (und vielleicht strittiger) als zum Beispiel bei Strawinsky (Spätromantik bis Expressionismus - Klassizismus - Zwölftönigkeit). Strawinskys Stil bleibt in dieser Vielfalt stets unverkennbar, für mich ein Kennzeichen, dass er sich noch einmal in einer anderen Liga bewegt. Eine derartige Vielfalt lässt das unermüdliche Schaffen eines Villa-Lobos nicht erkennen, einen Personalstil von großer Eigenart hat er aber zweifellos entwickelt.

    :cincinbier: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

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