Leonard Bernstein: Divertimento for Orchestra

  • Leonard Bernstein: Divertimento for Orchestra

    Leonard Bernstein komponierte sein Divertimento for Orchestra 1980 als Auftragskomposition zur Hundertjahrfeier des Boston Symphony Orchestra. Das knapp viertelstündige Werk in acht Sätzen, eine Hommage ans Orchester wie an die Stadt Boston, lebt von seinem musikalischen Witz, melodisch, instrumentatorisch und stilistisch. Die Tonfolge H-C (englisch B-C, für „Boston Centenary“) zieht sich als Leitmotiv durchs ganze Werk, auch verkehrt rum eingesetzt.

    Bernstein war dem Orchester seit seinen Studien in Tanglewood verbunden, es stand somit am Anfang seiner Dirigentenlaufbahn, und (hier antizipierend) bei seinem letzten Dirigat im Sommer 1990 hat er auch dieses Orchester geleitet.

    Die Uraufführung dirigierte Seiji Ozawa im September 1980 in der Symphony Hall in Boston. Später nahm Bernstein noch Korrekturen am Werk vor.

    Die Sätze im Einzelnen, tlw. persönliche Gedanken dazu:

    1 Sennets and Tuckets (Allegro non troppo, ma con brio)
    Das geht gleich bunt los, Sennets und Tuckets waren die Fanfaren in den Dramen der Elisabethanischen Zeit, Tschinterassa-Bumm, Till Eulenspiegel und Woody Woodpecker sind da, da kracht´s gleich ordentlich, die Welt ist ein Zirkus.

    2 Waltz (Allegretto, con grazia)
    Ein einschmeichelnd charmant dahingleitendes 7/8-Stück der Streicher.

    3 Mazurka (Mesto (molto moderato))
    Jetzt sind die Holzbläser und die Harfe im Einsatz. Auf mich wirkt die Mazurka irgendwie orientalisch. Gegen Ende zitiert Bernstein das Oboenthema aus Beethovens 5. Symphonie.

    4 Samba (Allegro giusto)
    Eine Samba-Parodie des sprunghaften Orchesters! Das ist für mich auch Zirkus.

    5 Turkey Trot (Allegretto, ben misurato)
    Originelles, hitverdächtiges Truthahngewatschel, 4er und 3er wechseln sich hier ab.

    6 Sphinxes (Adagio lugubre)
    Rätselhaft, geheimnisvoll? Zweimal zwölftöniger Aufstieg, das erste Mal die Streicher, das zweite Mal die Holzbläser, das erste Mal diatonisch auf der Dominante abklingend, das zweite Mal klassisch mit Dominante-Tonika. (Für mich die musikalische Entsprechung von Bernsteins Schlusswort seiner Harvard-Vorträge, sinngemäß ich weiß nicht mehr wie Ives´ unbeantwortete Frage lautet, aber die Antwort ist Ja.)

    7 Blues (Slow blues tempo)
    Ein “Kunst”-Blues mit gedämpftem Blech und Schlagwerk.

    8 In Memoriam (Andante) / March „The BSO Forever“ (Doppio movimento (Alla marcia))
    Die elegische fugatorische Einleitung der drei Flöten soll an verstorbene Dirigenten und Mitglieder des BSO erinnern. Danach Tschinterassa-Bumm 2, mit Radetzkymarschzitat und Schlussspektakel, als zwei Motive des Satzes volksfesttumultig gleichzeitig erklingen.

    Nun noch ein paar persönliche Gedanken zu einigen Aufnahmen:

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    Die erste veröffentlichte Aufnahme des Werks ist ein Konzertmitschnitt unter Leonard Bernsteins Leitung vom Mai 1981 aus dem Mann Auditorium in Tel Aviv mit dem Israel Philharmonic Orchestra (CD DGG 415 966-2). Mit dieser Aufnahme habe ich den Witz und die Originalität des Werks seinerzeit erstmals wahrgenommen.

    Kräftiger und pointierter finde ich allerdings die zweite Aufnahme Bernsteins, ebenfalls ein Livemitschnitt, aus dem Erkel-Theater in Budapest vom 15. und 16.11.1983, mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (CD Hungaroton HCD 12631-2). Hier klingt alles noch unmittelbarer, lebendiger, aufgeweckter, differenzierter, auch erdiger. Die auffälligste Änderung gegenüber der Erstaufnahme ist eine fortan beibehaltene kleine Erweiterung des Schlussmarsches.

    1998 erschien zu Bernsteins 80. Geburtstag eine DGG CD „The Artist´s Album“ (CD DGG 457 691-2), auf der als Erstveröffentlichung Ausschnitte des Divertimentos aus Konzerten Bernsteins mit den Wiener Philharmonikern im Großen Musikvereinssaal in Wien vom 13. und 14.10.1984 zu hören sind. (Das Werk wurde danach auch noch mehrmals bei einer Europatournee Bernsteins mit dem Orchester gespielt.) Auf der CD gibt es daraus den Waltz mit den klangsatten Wiener Streichern, den Turkey Trot, wienerisch charmant, den Blues (die Wiener Philharmoniker in New Orleans) und den abschließenden March – „The BSO Forever“ (DAS wäre doch mal was statt des obligaten Radetzymarsches am Ende eines Wiener Neujahrskonzerts!). Man hört schon an diesen paar Stücken – das Wiener Orchester zeigte sich wienerisch besonders gut aufgelegt für Bernstein mit dessen Musik.

    Die DVD mit dem Fernseh-Konzertkomplettmitschnitt dieser Aufführung wurde 2008 veröffentlicht (DVD DGG 00440 073 4514). Wie immer bei Bernsteins Wiener TV-Konzerten war der Musikverein rot verkleidet. Die Konzertmeister Küchl und Hink sitzen an den 1. Pulten. Das ist nun die vollständige Version „mit Wiener Schmäh“. Das Orchester kitzelt den Witz extrawienerisch heraus, und Bernstein kann zufrieden mitwippen, im Waltz, im Turkey Trot und beim Schlussmarsch sieht man es deutlich. Wolfgang Herzer legt sich ins Cellosolo beim Waltz und man sieht ihn auch besonders engagiert, wenn im Marsch eine markante Wendung als wäre es eine von Johann Strauß urwienerisch ausgekostet wird. Durchs Optische wird verdeutlicht, wie Bernstein in diesem Werk das ganze Orchester, Gruppen daraus und Soli differenziert einsetzt. Und beim Marsch stehen zuerst wie vom Komponisten bei Aufführungen gewünscht nur die Piccoloflötisten, dann mit ihnen das ganze Blech auf (eine augenzwinkernde Reverenz Bernsteins an Arthur Fiedlers Boston Pops).

    Marin Alsops Aufnahme mit dem Bournemouth Symphony Orchestra (zusammen mit anderen Bernstein-Werken eingespielt am 12. und 13.1.2005 in der Concert Hall in Lighthouse, Poole, UK, CD Naxos 8.559245) hebt sich von Bernsteins eigenen Aufnahmen durch Akzentverschiebungen ab. Die Sennets and Tuckets nimmt Alsop langsamer, den Waltz dafür umso schneller als Bernstein, genauso wie den Turkey Trot. Für mich verlieren diese rascher gespielten Sätze damit etwas von ihrem Charme, sie erhalten hingegen eine verbissene Dringlichkeit. Dass Bernstein nach dem Wiener Konzert weiter an Details gefeilt hat, hört man hier beim Samba besonders deutlich.

    Ich finde das Divertimento ist eines der originellsten Werke Bernsteins. Man kann es vielleicht auch im Schulunterricht einsetzen.

    Literatur:
    Die Einführungstexte in den CD-Booklets.
    Peter Gradenwitz: Leonard Bernstein – Eine Biografie, Atlantis Musikbuch, Zürich 1984.
    Humphrey Burton: Leonard Bernstein – Die Biographie, Albrecht Knaus, München 1994.
    Andreas Eichhorn (Hrsg.): Leonard Bernstein und seine Zeit, Laaber, Laaber 2017.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Eine weitere Aufnahme, ein weiterer persönlicher Höreindruck:

    Leonard Bernsteins Divertimento for Orchestra erklingt in der auf der CD mit Bernsteins ersten beiden Symphonien (da auf dem Cover vorne nicht genannt) etwas versteckten Aufnahme mit dem BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Leonard Slatkin (CD Chandos CHAN 9889, aufgenommen 24. und 25.10.2000, The Colosseum, Watford) im Supersound, brillant vollräumig offen. Slatkin lässt das Orchester dabei saftig und kräftig, durchaus plakativ, aber auch fein differenziert spielen. Und beim Turkey Trot wie beim Blues swingt die Musik so richtig.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Besten Dank, Alexander! Sehr schöne Charakterisierungen der diversen knappen Sätze!

    Das Divertimento höre ich gerne. Es ist eine typische Nummer des hochintelligenten Eklektikers Bernstein, und ein wenig kommt mir angesichts der so differenziert stilisierten Tanzmusik in stets reizvoller Orchestrierung die Kunst eines Ravel in den Sinn. Letzterer hat den Abgesang einer vergangenen Epoche mitgesungen. Ob Bernstein, dem Optimisten, dies ganz fern lag? Ich weiß es nicht.

    Die Suite war in den vergangenen Jahrzehnten seit der Uraufführung bemerkenswert oft im Rundfunk zu hören; das scheint mir ganz eindeutig..

    Auf CD besitze ich die Einspielung mit dem Israel Philharmonic Orchestra. Sie findet sich auch in der folgenden Sammlung:

    :wink: Wolfgang

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

  • Auch hier möchte ich auf die musikalisch wie klanglich wirklich hervorragenden Leonard Bernstein Aufnahmen aus dem Jahr 1997 mit Paavo Järvi und dem City of Birmingham Symphony Orchestra aufmerksam machen.
    Das Divertimento erklingt pointiert auf den Punkt und dabei musikalisch ungemein sensibel ausgelotet.

    Zu Leonard Bernsteins 100. Geburtstag 2018 auch in dieser Box enthalten:

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

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