Weinberg, Mieczysław (1919-1996) - Ein Komponistenportrait
Hallo!
Schon vor einiger Zeit und noch im „alten“ Forum hatte ich angekündigt, dem polnisch-sowjetischen Komponisten Mieczysław Weinberg einen eigenen Thread zu widmen, ein Vorhaben, das ich nun in die Tat umsetzen möchte. Anlass mögen die neuesten CD-Veröffentlichungen geben, die eine erfreuliche Tendenz bestätigen: Weinbergs Musik findet in letzter Zeit peu à peu immer mehr Beachtung, man möchte sagen: die Beachtung, die sie sicherlich auch verdient.
Beginnen möchte ich ich mein kleines Portrait (wie es sich anbietet) mit Weinbergs Vita. Mieczysław Weinberg wurde am 8. Dezember 1919 in Warschau geboren. Seine Eltern kamen ursprünglich aus Moldawien; einige Familienmitglieder waren beim Pogrom von Kischinjow im Jahre 1903 ermordet worden. Sein Vater Samuel war Geiger und wohl auch Komponist an einem jüdischen Theater, an dem auch Mieczysław seine ersten musikalischen Eindrücke sammelte und als Pianist und Ensembleleiter selbst tätig werden konnte. Überhaupt wurde Weinberg zunächst als Pianist ausgebildet: 1931 wurde er als Klavierschüler von Józef Turczyński am Warschauer Konservatorium aufgenommen. In die 1930er Jahre fallen auch Weinbergs erste Kompositionsversuche – sehr beachtlich für einen Autodidakten; später mehr dazu. Sein pianistisches Talent muss beachtlich gewesen sein: dies zeigen nicht nur spätere Aufnahmen, in denen Weinberg vorwiegend seine eigenen Werke spielt oder als Begleiter fungiert; auch bei anderen Komponisten war er als Partiturspieler sehr gefragt. Es gibt etwa eine Einspielung von Schostakowitschs Sinfonie Nr. 10, die von Schostakowitsch selbst und Weinberg bestritten wird. Am Ende seiner Warschauer Zeit wurde sogar Józef Hofmann auf ihn aufmerksam und lud ihn wohl ans Curtis Institute nach Philadelphia ein (vgl. Booklet zur Einspielung der Sinfonie Nr. 1 bei Northern Flowers).
Doch es kam anders: mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und dem deutschen Einmarsch in Polen erkannte Weinberg (der Jude war) den Ernst der Situation sofort. Durch Rundfunkberichte über den Vormarsch der deutschen Truppen informiert, flohen Weinberg und seine jüngere Schwester Ester am Morgen des 7. September 1939 gen Osten. Während seine Schwester sehr schnell aufgab und nach Warschau zurückkehrte, wanderte Weinberg einige Tage durch Polen, bevor er sich angesichts der immer bedrohlicheren Lage entschloss, sich in die Sowjetunion abzusetzen. Seine Eltern und seine Schwester, vielleicht auch ein Bruder (nur in einer Quelle erwähnt), blieben in Polen. Weinberg hat sie nie wieder gesehen: sie kamen im Warschauer Ghetto ums Leben.
Beim Grenzübergang wurde ihm von sowjetischer Seite der jüdische Name „Moisei“ verliehen, wohl, um seinen polnischen Namen zu russifizieren. Daher und aus der Retranskription des kyrillischen Вайнберг zu Vainberg / Wainberg etc. erklären sich zahlreiche unterschiedliche Schreibweisen, die zu einiger Verwirrung führen können. Einen gewissen Teil hat auch die CD-Serie des Labels Olympia dazu beigetragen: hier wurde zunächst auch die Schreibweise „Vainberg“ benutzt. Per Skans, der große Weinberg-Kenner, mittlerweile leider verstorben, war für diese Serie mit verantwortlich, bemerkte aber erst nach der Veröffentlichung einiger CDs den Irrtum. Seiner Bitte, dies zu korrigieren, wurde aus Gründen der Einheitlichkeit der Serie nicht entsprochen. Heute werden manche dieser CDs vom Label Alto wiederveröffentlicht, und nun glücklicherweise mit der korrekten Schreibweise. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Weinbergs Name ist ursprünglich polnisch-jüdisch und wurde lateinisch geschrieben. Dementsprechend gibt es für uns nur eine einzige richtige Schreibweise, nämlich Mieczysław Weinberg. Nichtsdestotrotz sollte man Weinberg übrigens als sowjetischen (oder russischen) Komponisten ansehen, weil sich sein ganzer Werdegang hier abspielte und sein Stil eindeutig vor dem Hintergrund der sowjetischen Einflüsse entwickelte.
Zurück zu Weinbergs Leben: angekommen in der Sowjetunion, ließ er sich zunächst in Minsk nieder, wo er bei Wassili Solotarjow (1872–1964), einem Schüler Balakirews und Rimski-Korsakows, Komposition studierte. Weinberg gab später an, erst seit dieser Zeit wirklich kontinuierlich komponiert zu haben. Unter der Aufsicht Solotarjows entstanden seine erste Klaviersonate, sein zweites Streichquartett, Lieder und schließlich, als Abschlussarbeit, seine Sinfonische Dichtung op. 6. Einen Tag nach der Uraufführung dieser Komposition marschierte Deutschland in die Sowjetunion ein. Weinberg musste nicht an die Front, da er schwer an Tuberkulose erkrankt war. Stattdessen wurde er nach Taschkent evakuiert. Dort angekommen, schrieb er im Jahre 1942 seine erste Sinfonie, die er der Roten Armee widmete. In Taschkent machte Weinberg zwei entscheidende Bekanntschaften: zum einen mit dem Direktor des Staatlichen Jüdischen Theaters Moskau, Solomon Michoels, dessen Tochter Weinberg heiratete. Zum anderen freundete er sich mit dem jungen Komponisten Juri Lewitin (1912–1993) an, der bei Schostakowitsch studiert hatte und mit diesem in freundschaftlicher Verbindung stand. (Andere Quellen nennen einen anderen, unbekannteren Komponisten, doch hier scheint mir Northern Flowers mit Lewitin am zuverlässigsten, weil sie ein originales Weinberg-Interview zitieren.) Lewitin fand Gefallen an Weinbergs Sinfonie und schickte sie an seinen Lehrer. Schostakowitsch war von dieser Musik begeistert und erwirkte für ihn die Erlaubnis, nach Moskau zu ziehen. So ließ sich Weinberg 1943 in Moskau nieder, wo er bis zum Ende seines Lebens bleiben sollte.
Die Begegnung mit Schostakowitsch war für Weinberg nach eigenen Aussagen wie eine zweite Geburt. Auch wenn er nie Unterricht bei Schostakowitsch genommen hatte, betrachtete Weinberg sich als Schostakowitschs Schüler, als „sein Fleisch und Blut“, wie er es einmal formulierte. Zwischen den beiden Komponisten entwickelte sich eine offenbar ziemlich herzliche Freundschaft. Wie bereits oben angedeutet, war Weinberg sehr oft Schostakowitschs Pianist für besondere Anlässe: bereits 1947 präsentierten Schostakowitsch und Weinberg Komponistenkollegen eine vierhändige Version der damals noch unaufgeführten Vierten Sinfonie Schostakowitschs. Später war es wiederum Weinberg, der am Klavier saß, als etwa Schostakowitschs Violinsonate dem sowjetischen Komponistenverband vorgestellt wurde. Auch Schostakowitschs Sinfonie Nr. 15 wurde zunächst in einer vierhändigen Version von Weinberg und Boris Tschaikowski vorgetragen. Schostakowitsch setzte sich umgekehrt auch stets sehr für die Aufführung von Musik Weinbergs ein und empfahl seinen jüngeren Kollegen oftmals weiter. Gerne wird der kleine Wettstreit zwischen den beiden Kollegen erwähnt, wer als erster zehn Streichquartette geschrieben habe – der Hintergrund war, dass sowohl Schostakowitsch als auch Weinberg sehr schnell zu komponieren pflegten.
Nach dem zweiten Weltkrieg verschärften sich in der Sowjetunion bekanntlich antisemitische Tendenzen. Weinbergs Schwiegervater Michoels wurde bereits zu Beginn des Jahres 1948 von der Geheimpolizei ermordet (offiziell kam er bei einem Autounfall ums Leben), und im Februar 1953 traf es auch Weinberg: unter dem Vorwand, er propagiere die Errichtung einer jüdische Republik auf der Krim, was natürlich blanker Unsinn war, wurde Weinberg verhaftet. Neben der allgemeinen antisemitischen Stimmungslage dürfte die Verwandtschaft von Weinbergs Ehefrau eine Rolle gespielt haben: ihr Onkel war Stalins Leibarzt und im Zuge der sogenannten „Ärzteverschwörung“ interniert worden. Schostakowitsch schrieb daraufhin einen Brief an Lawrenti Beria, in dem er sich massiv für Weinberg einsetzte. Dies und sicherlich auch Stalins Tod führten dazu, dass Weinberg nach etwa einmonatiger Haft wieder freigelassen wurde.
Weinbergs weiteres Leben scheint dann eher ruhig und unspektakulär verlaufen zu sein. In den 1950er Jahren feierte er einige Erfolge, berühmte Musiker wie Leonid Kogan, David Oistrach, Mstislaw Rostropowitsch, Emil Gilels oder Rudolf Barschai spielten seine Werke, und genoss als Komponist einige Anerkennung. Offizielle Positionen, etwa im Komponistenverband, hat er nie bekleidet. Inwieweit ihn das oder auch der in der Sowjetunion ja letztlich doch immer bis zu einem gewissen Grade präsente Antisemitismus von einer größeren Präsenz im Musikleben abgehalten hat, bleibt offen. Eine gewisse Rolle mag auch gespielt haben, dass Weinberg gewissermaßen zwischen allen Stühlen saß: er war weder ein Anhänger der offiziellen, konservativen Linie, noch folgte er der sowjetischen Avantgarde.
In späteren Jahren wurden Aufführungen seiner Musik offensichtlich seltener, wenngleich er eine Reihe von Auszeichnungen verliehen bekam, die erste davon 1971, und schließlich im Jahre 1990 auf Vorschlag des Komponistenverbandes den Staatspreis. (Übrigens ist die Tatsache, dass er erst so spät mit Preisen versehen wurde, ein weiteres Indiz dafür, dass die Anerkennung von offizieller Seite lange Zeit ausblieb – in der Sowjetunion verlieh man derartige Auszeichnungen ja sehr häufig, exemplarisch betrachte man nur einmal die Liste der Stalinpreisträger von 1941 bis 1952, einzusehen etwa auf Onno van Rijens Seiten über sowjetische Musik.) Doch gerade in Zeiten der Perestroika sank die Zahl der Aufführungen Weinberg'scher Musik rapide ab – man interessierte sich nun eher für andere Komponisten. Zu dieser Situation äußerte sich der Komponist Alexander Tschaikowski (* 1946, übrigens ein Neffe von Boris Tschaikowski) im Jahre 1992 wie folgt:
ZitatEs entstand der Eindruck als bestände die gesamte sowjetische Musik aus A. Schnittke, G. Gubaidulina und E. Denissow. […] Gott sei Dank haben sie ihm [Weinberg] den Staatspreis verliehen, obwohl wir natürlich wissen, dass sich damit nichts wirklich geändert hat: Wie auch vorher schon existiert Weinberg für die sowjetische Musik irgendwie gar nicht.
Weinbergs letzte Jahre waren zudem von Krankheit überschattet; er litt an Morbus Crohn und verbrachte die meiste Zeit in seinem Bett. Anfang des Jahres 1996 ließ er sich russisch-orthodox taufen; wenig später, am 26. Februar 1996, verstarb er im Alter von 76 Jahren in Moskau.
Trotz alledem wollte Weinberg nicht als Opfer der sowjetischen Verhältnisse betrachtet werden und wies stets lieber darauf hin, dass sich zahlreiche sowjetische Musiker und Dirigenten für seine Musik eingesetzt hatten. Er ging sogar so weit, zu sagen, dass er in Stalins letzten Jahren kein Damoklesschwert habe kreisen fühlen: „Sie verhafteten kaum einen Komponisten, außer mir, und sie erschossen auch keinen. Ich kann, anders als andere Komponisten das tun, nicht behaupten, verfolgt worden zu sein.“ In der Tat findet man auch in Weinbergs Werkverzeichnis einige Details, die davor bewahren sollten, sein Verhältnis zur Sowjetunion zu simplifizieren: so hat er noch 1967 seine Sinfonie Nr. 9, die 1940 begonnen wurde, der Roten Armee gewidmet, und im Jahre 1986, als die früher sehr verbreiteten Propagandakompositionen eigentlich schon weitgehend der Vergangenheit angehörten, eine Sinfonische Dichtung mit dem Titel „Die Banner des Friedens“ verfasst, die unter anderem die Warschawjanka, ein populäres Revolutionslied, zitiert.
Per Skans hat eine Biographie Weinbergs geplant, die er zum Zeitpunkt seines Todes aber noch nicht beendet hatte. So weit ich weiß, wird Martin Anderson, übrigens der Mann hinter dem kleinen, aber sehr engagierten englischen Label „Toccata Classics“, dieses Buch fertig stellen; wann, ist mir nicht bekannt.
Nun aber zu Weinbergs Musik, und hier bietet sich zunächst ein Überblick über Weinbergs Œuvre an. Dieses ist recht umfangreich; Weinberg war eben ein sehr produktiver Komponist. Er schrieb 26 Sinfonien, vier davon als „Kammersinfonien“ bezeichnet: Martin Anderson schrieb mir hierzu, dass Weinberg befürchtete, er werde Mjaskowski hinsichtlich der Anzahl seiner Sinfonien übertreffen, und daher (wohl aus Respekt vor dem alten Meister) beschloss, mehrere Kammersinfonien zu komponieren, die aber durchaus als voll gültige Sinfonien betrachtet werden können. Dies muss nach der Vollendung seiner Sinfonie Nr. 19 geschehen sein. Weinberg hat dann doch noch drei weitere nummerierte Sinfonien komponiert; die letzte blieb unvollendet und wurde von Kirill Umanski im Jahre 2001 vervollständigt. Zwei Sinfonietten ergänzen diese eindrucksvolle Reihe.
Neben weiteren kleineren Orchesterwerken komponierte Weinberg auch eine ganze Reihe von Konzerten für verschiedene Instrumente: man findet Werke für Violine, Violoncello, Flöte (gleich zwei), Klarinette sowie Trompete und Orchester. Er schrieb Musik zu 43 Filmen, Ballettmusiken und sieben große Opern. Daneben komponierte er ein Requiem (auf nichtliturgische Texte), Kantaten und eine beachtliche Anzahl von Liedern. Auch mit Kammermusik setzte sich Weinberg sehr intensiv auseinander. Im Zentrum stehen sicherlich seine 17 Streichquartette, doch auch die Anzahl an Sonaten mit oder ohne Klavierbegleitung ist beachtlich: alle vier Streichinstrumente wurden von ihm mit Solosonaten bedacht, ferner gibt es fünf Sonaten für Violine und Klavier sowie zwei für Violoncello und Klavier. Weiterhin schrieb Weinberg unter anderem eine Klarinettensonate und eine Solosonate für Fagott. Ein Streichtrio, ein Klaviertrio und ein Trio für Flöte, Viola und Harfe sowie sein groß angelegtes Klavierquintett runden diese Auflistung ab. Ferner sind sechs Klaviersonaten zu nennen.
Wie ist Weinbergs Stil nun zu beschreiben? Es gibt mehrere Tendenzen, die in unterschiedlichem Maße prägend wirken, unter anderem abhängig von der Entstehungszeit. Ich will versuchen, sie hier überblicksartig herauszuarbeiten. Erstens, die feste Verwurzelung in der europäischen (und gerade auch russischen) Tradition. Der bei weitem umfangreichste Teil von Weinbergs Werken ist tonal gehalten, wobei dies ein dehnbarer Begriff ist: mitunter ganz klar und unverschleiert oder in anderen Fällen sehr frei, dissonant und an der Grenze zur Atonalität. Allein die Gattungswahlen Weinbergs zeugen schon von seinem Traditionsbewusstsein, aber auch hinsichtlich der musikalischen Formen und Strukturen (Satzaufbau, Binnenstruktur) orientiert sich Weinberg immer wieder an tradierten Modellen – auch in seinen späten Werken findet man Formschemata wie das Sonatenallegro.
Antipodal hierzu muss man an zweiter Stelle die „experimentelle“ Linie nennen. Denn Weinberg war keineswegs ein reiner Konservativer: schon in seinen frühen Werken reflektiert er auch modernere kompositorische Entwicklungen, ein Streichquartett (das zwölfte) ist zwölftönig angelegt, und auch mit Aleatorik setzte er sich auseinander (zum Beispiel in der vierten Solosonate für Violoncello, oder in einigen späteren Sinfonien). Ebenso, wie er auf traditionelle Schemata zurückgriff, setzte er auch freie Formen ein, einsätzige oder suitenhaft mehrsätzige Werke sind in freier Fantasie komponiert.
Boris Schwarz hat im New Grove Weinberg einen „konservativen Modernisten“ genannt, womit er genau dieses Phänomen beschreiben will. Experiment und Tradition schließen sich bei Weinberg nicht aus: zum Beispiel ist die genannte Cellosolosonate, in der er Aleatorik einsetzt, ein ziemlich klar tonales Werk (in c-moll). Ich würde Boris Schwarz insofern korrigieren, als dass ich Weinberg lieber einen „modernen Konservativen“ nennen würde: denn viele seiner traditionelleren Werke haben mit modernistischen Tendenzen überhaupt nichts zu tun, und die modernen Werke haben letztlich mit der Avantgarde ihrer Zeit nichts zu tun. Es verbietet sich meiner Ansicht nach einfach, einen Komponisten, der noch Ende der 1980er Jahre so klar tonale Werke schrieb wie die Kammersinfonie Nr. 1, einen Modernisten zu nennen. Ich habe daher auch mit Absicht die konservative Linie an erster Stelle genannt.
Zurück zur Charakterisierung von Weinbergs Personalstil: sehr bedeutend ist gleichfalls die „klassizistische“ Linie. Oft zeichnet sich Weinbergs thematische Erfindung durch Eleganz und Esprit aus, und auch der Rückgriff auf neoklassizistische und neobarocke Elemente erfolgt nicht selten. Manche Werke sind beinahe lupenreiner Neoklassizismus! So weit ging Weinberg nicht immer, aber es ist eben so, dass man so eine gewisse Tendenz schon recht oft ausmachen kann. Auch Formen wie Passacaglia oder ein Bezug auf das Concerto grosso (Sinfonie Nr. 10) sind in seinem Schaffen vorzufinden.
Dies geht sicherlich zum Teil auch auf den Einfluss Schostakowitschs zurück, den Weinberg nie verleugnet hat. Früher ist Weinberg sogar mal als Schostakowitsch-Epigone angesehen worden, was aber falsch ist: zum einen ist es eben nur ein Teil seiner Werke, in denen dieser Einfluss wirklich deutlich spürbar ist, und zum anderen verfügt Weinberg über einen ausgeprägten eigenen Tonfall, der auch in diesen Werken immer wieder zum Vorschein kommt. Teilweise ist vielleicht auch etwas Prokofjew vernehmbar, aber wie gesagt, Weinberg ist unbedingt als eigene Künstlerpersönlichkeit zu betrachten, und gerade die späteren Werke sind einfach Weinberg und sonst nichts.
Weiter muss man der „folkloristische“ Linie Rechnung tragen: hier ist es wenig verwunderlich insbesondere jüdische Folklore, durch die sich Weinberg inspirieren ließ. Sehr stark kommt dies etwa in seiner Sinfonietta Nr. 1 zur Geltung, aber auch in weniger unmittelbar „jüdischen“ Werken verrät Weinbergs Melodik sehr oft einen leichten derartigen Einschlag. Mitunter verarbeitet Weinberg jedoch auch russische Folklore, so etwa im Finalsatz seiner vierten Sinfonie, einem wilden Reigen russischer Volkslieder.
Nicht wenige von Weinbergs Werken reflektieren auch sein eigenes Leben, seine Lebenssituation. Insbesondere die Erfahrung des Krieges, des Verlustes seiner Familie hat ihn sein Leben lang beschäftigt, was nicht nur in Werken wie etwa einigen der letzten Sinfonien, die sich explizit mit dieser Thematik auseinandersetzen, nachzuvollziehen ist, sondern oft auch hintergründig in seine Musik hinein spielt, etwa durch die Atmosphäre, die sie vermittelt.
Und letzten Endes zeichnet sich seine Musik auch durch ein gewisses Streben nach „universeller Harmonie“, wie es einmal formuliert wurde, aus. Vielleicht ist dies vor dem Hintergrund von Weinbergs tiefer Religiosität zu sehen; er äußerte sich einmal wie folgt: „Ich sagte mir selbst, dass Gott überall ist. Seit meiner Ersten Sinfonie wandert eine Art Choral in mir umher.“ Ich möchte aber in diesem Zusammenhang ausdrücklich betonen, dass ich in Weinbergs Musik keine explizit religiöse Komponente feststellen kann – das mit dem Choral muss man schon wissen, um es nachvollziehen zu können.
Keine dieser Tendenzen ist in jeden Werk gleichermaßen stark vertreten, aber sie alle formen Weinbergs Stil, der letztlich eigentlich immer unverwechselbar zu Tage tritt. Wenn ich nun noch einen kurzen Überblick über Weinbergs wichtigste Werke in chronologischer Reihenfolge gebe, wird man gewisse Entwicklungen sicherlich deutlich feststellen können.
Das früheste Werk, das ich von Weinberg kenne, sind seine Drei Stücke für Violine und Klavier, komponiert in den Jahren 1934/35. Natürlich hört man hier noch nicht Weinbergs Personalstil heraus, und es ist klar, dass sich der junge Komponist zunächst an Vorbildern orientierte und vielleicht gewisse Unsicherheiten nicht zu überhören sind, doch als dunkel-schattenhafte nachromantische Stimmungsbilder (das Beiheft verweist auf Szymanowski) sind diese Stücke doch nicht ohne Reiz. Weinbergs Opus 1, ein Wiegenlied für Klavier, ist mir nicht bekannt; ich weiß auch von keiner Einspielung. Etwas anders verhält es sich mit seinem nächsten Werk, dem Streichquartett Nr. 1, komponiert 1937: während das ursprüngliche Manuskript verloren ist, rekonstruierte und revidierte Weinberg das Werk fast fünfzig Jahre später und versah diese Fassung mit der Opuszahl 141. Auch wenn man nicht weiß, wie groß der Anteil des späten Weinberg an dieser Komposition ist, ist doch erkennbar, dass er hier ein recht avanciertes Werk vorgelegt haben muss: weite Teile sind in tonal nicht gebunden, die Harmonik scharf und dissonant.
Nach seiner Flucht begann Weinberg wie erwähnt, sich sehr viel intensiver mit dem Komponieren auseinander zu setzen. Allem Anschein nach ging dies auch mit einer deutlichen stilistischen Wende einher: sehr gut zu beobachten ist dies an Hand seiner ersten beiden Klaviersonaten. Während die Klaviersonate Nr. 1, mit der Opuszahl 5 versehen und 1940 komponiert, noch in etwa in dem Idiom des Streichquartetts komponiert ist (besonders der erste Satz ist sehr eindrucksvoll; die mächtige, dissonante Akkordik des Beginns erinnert an Glockenklänge), ist die zweite, nur zwei Jahre später entstanden und drei Opuszahlen weiter eingeordnet, ein neoklassizistisches, völlig tonales Werk, spielerische, aber keineswegs harmlose Musik, die sogar mit einem Haydn-Zitat aufwartet.
Woher dieser Wandel? Ich weiß es nicht. Ich persönlich glaube nicht, dass man ihn ohne Weiteres der sowjetischen Kulturpolitik zuschreiben kann: zum einen wüsste ich von keinen Angriffen auf Weinberg aus dieser Zeit, zum anderen war eine Begleiterscheinung des 2. Weltkriegs ja auch, dass man in der Sowjetunion nicht so genau auf die Künste achtete wie unmittelbar davor und danach, und ein so junger Komponist abseits der großen Zentren wird wohl kaum allzu große Aufmerksamkeit erzeugt haben. Ich meine eher, dass man den scheinbaren „Rückschritt“ in Bezug auf die Modernität von Weinbergs Stil vielmehr als Schritt hin zu sich selbst ansehen sollte: denn letztlich erkennt man, wenn man Weinbergs frühe Sonate mit Kenntnis seiner späteren Werke anhört, schon klare Züge des reifen Komponisten, Wendungen, die sich später als charakteristisch erweisen sollten.
Auch die Sinfonie Nr. 1, ebenfalls 1942 komponiert, ist unverkennbar ein neoklassizistisches Werk, das sich durch durch einprägsame und elegante Thematik auszeichnet. Traditionell viersätzig gehalten, mag das Hauptthema des Kopfsatzes sogar an Prokofjew, insbesondere dessen klassizistische Linie, erinnern, während später auch der Einfluss Schostakowitschs durchscheint. Auf alle Fälle hört man, dass Weinberg souverän und mit Geschmack über die sinfonische Form verfügt. Dieses Werk ist für einen 22-jährigen Komponisten schon eine ziemlich starke Talentprobe, wie ich meine.
Unter seinen früheren Werken sollte man vielleicht das Klavierquintett op. 18 besonders hervorheben: hinsichtlich Ausdehnung (knapp 40 Minuten) und (emotionalem) Gehalt ist es ein ausgesprochen ehrgeiziges Werk. Sicherlich hat sich Weinberg hier an Schostakowitsch orientiert, wie bereits äußerlich an Hand der fünfsätzigen Anlage, die allerdings keine Schostakowitsch-Kopie darstellt, deutlich wird. Sehr eindringlich ist der vierte, mit 13 Minuten längste Satz, ein von Trauer erfülltes cis-moll-Largo, das wie in Stein gemeißelte Unisono-Gesten mit stillem Nachsinnen in Kontrast setzt. Der Finalsatz gibt sich dann sehr entschlossen und kraftvoll, doch konfliktreich; erst am Ende weicht die Spannung in einer leisen Coda, die das Werk dann doch versöhnlich in F-Dur (die Haupttonart ist f-moll) ausklingen lässt.
Ganz anders dagegen die zweite Sinfonie, ein lyrisches, über weite Strecken versonnenes Werk für Streichorchester. Weinberg scheint in den folgenden Jahren seinen Stil konsolidiert zu haben. In den Werken vieler sowjetischer Komponisten ist der Einschnitt des Jahres 1948 mit dem bekannten Dekret des ZK der KPdSU und den „Formalismus“-Vorwürfen, deutlich nachvollziehbar. In Weinbergs Schaffen ist dies eher bedingt festzustellen: im Vergleich zu den vorherigen Werken verzichtet er höchstens auf eine gewisse dramatische, dunkel-kraftvolle Komponente zu Gunsten eines eher lyrischen Idioms, das man allerdings auch schon vorher erkennen konnte.
In manchen Werken dieser Zeit greift Weinberg recht deutlich auf jüdische Folklore zurück, so etwas in der Sinfonietta Nr. 1, einem munteren, ja in den Ecksätzen richtiggehend schmissigen Werk. Doch auch in seinem verhältnismäßig bekannten Cellokonzert kann man diese Einflüsse gerade in den Mittelsätzen dingfest machen. Dieses Werk ist aus verständlichen Gründen vergleichsweise beliebt: seine Melodien gehen unmittelbar ins Ohr, die Tonsprache ist unkompliziert und lyrisch, und dennoch handelt es sich um ein anspruchsvolles Werk mit Tiefgang. Das Werk beginnt mit einem sehr schönen, kantablen Adagio, bei dem man an Mjaskowskis Cellokonzert, mit dem es auch die Tonart c-moll teilt, denken mag. An zweiter und dritter Satz stehen zwei Sätze, die man als Scherzi begreifen kann: der zweite eher von schlichter Eleganz erfüllt und in gedämpftem Tonfall, der dritte energisch und ausgelassen. Das Finale ist wieder introvertierter und kehrt schließlich zu dem Adagio des Beginns zurück, das leise und in hoher Lage verklingt.
Ein weiteres bemerkenswertes Werk ist die Klaviersonate Nr. 4 – ich kannte sie zunächst in Murray McLachlans Einspielung, doch muss ich gestehen, dass ich mit den Einspielungen dieses Pianisten nicht immer zur Gänze zufrieden bin: einerseits ist sein Engagement für unbekanntere russische und sowjetische Musik natürlich sehr lobenswert, andererseits geht er mir allerdings stets zu distinguiert, zu wenig zupackend an diese Musik heran: irgendwie fehlt seinen Interpretationen oft das „russische“ Element. In der Tat finde ich die Vergleichseinspielung von Emil Gilels, nach der ich relativ intensiv „gefahndet“ habe, weitaus überzeugender. Weinbergs lyrischer Stil, kombiniert mit Folklorismen, ist hier sehr schön ausgeprägt, exemplarisch gerade auch am Schluss, der mit Reminiszenzen an den langsamen Satz spielt und schließlich ganz elegisch mit zwei h-moll-Akkorden schließt: erst laut, dann leise, wie ein Nachhall.
Ähnliches gilt für die Cellosonate Nr. 2, ein Werk von anmutiger thematischer Erfindung und mit einem herrlichen cis-moll-Siciliano als zweiter Stelle. Extrovertierter gibt sich die Sinfonie Nr. 4, deren toccatenhafter Beginn sehr deutlich Schostakowitsch in Erinnerung ruft, gefolgt von einem schattenhaften Scherzo, einem teilweise wie improvisiert wirkenden langsamen Satz und einem Finale, das wie ein bunter Reigen russischer Volkslieder wirkt, ein wilder, ausgelassener Trubel.
Gegen Ende der 1950er Jahre wandelte sich Weinbergs Stil: charakteristisch sind größere Introspektion, Intensivierung des Ausdrucks, stärkere Betonung dunkler Farben und größere harmonische Freiheiten. Der Unterschied wird etwa sehr deutlich, wenn man die beiden Sinfonietten vergleicht: herrschte in der ersten noch ein kraftvoll-fröhlicher Tonfall vor, ist die zweite schon hinsichtlich der Besetzung reduziert (nur Streichorchester und Pauken); ihre Tonsprache ist sehr viel herber und zurückgenommener, und an letzter Stelle steht eine Orchesterversion eines eigenen Liedes, „Erinnerung“: „Da stand es an der weißen Straße, // Mein leuchtend weißes Haus. // Ich bin so traurig, es ist so melancholisch, // Von ihm meine traurigen Gedanken zu träumen.“ Weinberg hat es um eine Coda ergänzt, in der diese Erinnerungen in weiter Ferne zu entschwinden scheinen: die Musik verstummt allmählich, ein Bild der Einsamkeit.
Auch, wenn man die Fünfte Sinfonie mit ihrer Vorgängerin vergleicht, wird man eine zunehmende Introspektion und einen herberen Ausdruck feststellen. Besondere Erwähnung gebührt der Sinfonie Nr. 6: in diesem Werk für Knabenchor und Orchester vertont Weinberg Texte, die sich mit toten Kindern befassen, ein bedrückendes Werk in fünf Sätzen. Der Hornruf des Beginns ist ungemein einprägsam, während der wilde vierte Satz einmal mehr Bezug auf jüdische Musik. Am Ende findet die Musik Ruhe und Trost: „Die Sonne wird wieder scheinen, und die Violinen werden vom Frieden auf Erden singen.“ Weinberg vertont dies aber nicht als positive Lösung, sondern eher als Hoffnungsschimmer. In den nächsten Wochen werde ich eine Aufnahme seiner achten Sinfonie erhalten, ebenfalls für Chor und mit dem Titel „Die Blumen Polens“ - hierauf bin ich schon sehr gespannt.
Wiederum etwa ein Jahrzehnt später begann Weinberg sich zunehmend für modernere Kompositionstechniken zu interessieren. Spielt er im Trompetenkonzert mit diversen Zitaten, so geht er in der Zehnten Sinfonie, einem sehr intensiven Werk für Streichorchester, noch einen ganzen Schritt weiter, wenn er zu Beginn des Finales die Themen der vorherigen Sätze simultan und jeweils in ihren originalen Tempi erklingen lässt, was ein ziemliches Durcheinander ergibt: jemand meinte, diese Stelle klänge fast eher nach Penderecki als nach Weinberg. Kurze Zeit später entstand das Streichquartett Nr. 12, das sich mit Zwölftontechnik beschäftigt und über weite Strecken atonal ist.
Schostakowitschs Tod im Jahre 1975 muss für Weinberg auch einen enormen menschlichen Verlust bedeutet haben. Wohl als Reaktion komponierte er seine Sinfonie Nr. 12, die er dem Andenken Schostakowitschs widmete. Es handelt sich hierbei um ein groß angelegtes, von Trauer erfülltes Werk in vier Sätzen, das recht klar in d-moll steht. Der erste Satz, ein sehr konzentriertes Sonatenallegro mit langem Atem, wird entscheidend durch die wuchtigen Unisonogesten des Beginns geprägt. An zweiter Stelle steht ein grimmiges Scherzo, an dritter Stelle ein elegisch versponnener langsamer Satz. Dieser geht nahtlos in das Finale über, dessen Hauptthema ganz eindeutig Schostakowitsch in Erinnerung ruft: eine leicht ironisch gefärbte, motorisch geprägte Melodie, die vom Meister selbst stammen könnte. Am Ende kommt sich die Musik zu einer Art erschöpften Ruhe, vor einem D-Dur-Hintergrund scheint das Finalthema zu Bruchstücken zu zerfallen. Doch letztlich erweist sich diese Ruhe als trügerisch: mit den letzten Takten sinkt die Musik förmlich auf herab auf zwei tiefe Schläge auf C in den Bässen, als wolle Weinberg den Hörer mit der harten Realität konfrontieren, die Erinnerungen von vorher als Illusionen entlarven. Einen düstereren und bedrückenderen Schluss kann man sich kaum vorstellen.
Wirklich atonale Experimente scheinen Weinberg nicht weiter interessiert zu haben; zumindest sind seine späteren Werke in der Mehrzahl deutlich tonal gehalten. Werke wie die Sinfonie Nr. 14 zeigen eine konservative Tonsprache (ein Kritiker sprach von gar von „zurück zur Scholle“), die um einige Ausdrucksmittel ergänzt ist. Ähnliches gilt für die Sechzehnte Sinfonie, ein einsätziges Werk mit einem sehr markanten Beginn, dessen kontinuierliche Paukenschläge entfernt an die erste Sinfonie von Brahms erinnern, während mir die Melodielinie darüber einmal mehr jüdisch inspiriert zu sein scheint. Offenbar hat sich Weinberg seit dieser Zeit immer intensiver mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt. So ist die Sinfonie Nr. 13 (bisher leider noch nicht eingespielt) dem Andenken seiner Mutter gewidmet, und das 1981 komponierte Streichquartett Nr. 16 dem seiner Schwester, die in jenem Jahr 60 geworden wäre. Als ich dieses Werk erstmals gehört habe, haben seine bedrückende Grundstimmung und besonders der trostlose, quälend verstummende Schluss auf mich einen ziemlich erschütternden Eindruck gemacht.
In den 1980er Jahren hat sich Weinberg – in sehr beschränktem Maße – auch mit Aleatorik beschäftigt, aber stets nur stellenweise, meist mit der Absicht, so eine besondere Kulmination erzielen zu können und innerhalb einer klar traditionsbewussten Tonsprache. Hin und wieder hört man dies auch in seinen zwischen 1984 und 1986 komponierten Sinfonien Nr. 17 bis 19, die eine Trilogie mit dem Titel „An der Schwelle des Krieges“ bilden und sich somit wiederum auf Weinbergs Kriegserlebnisse beziehen.
Die Siebzehnte trägt den Titel „Erinnerung“, mit einem statischen, trauernden Adagio in der Quasi-Haupttonart gis-moll an erster Stelle, gefolgt von einem dramatisch zugespitzten zweiten Satz. Am Ende des vierten Satzes erfolgt die Kulmination in Form von kreischenden Dissonanzen und dumpfen Orchesterschlägen, ein ungemein aufgewühltes und aufwühlendes Ende.
Ganz anders die Achtzehnte, ein Werk für Chor und Orchester mit dem Titel „Krieg – kein Wort ist grausamer“: die Musik ist hier überwiegend ruhig, ein Werk der Trauer, das den Chor oft a cappella einsetzt. Der erste Satz, eine Art Vorspiel, ist dem Orchester allein vorenthalten; er beginnt mit einer choralartigen Linie in den Celli, die von den Blechbläsern beantwortet wird. Die Musik gewinnt an Dynamik und Dramatik, und auf dem Höhepunkt setzt ein Orgel ein, woraufhin alles wieder in sich zusammensinkt und so der zweite Satz vorbereitet wird (alle Sätze gehen ineinander über). Dieser beginnt a cappella im Chor mit den Worten „Sie begruben ihn in der Erde“, eine Begräbnisszene, bei der Weinberg genau die Musik vom Beginn des ersten Satzes verwendet. Es folgt eine Art (freilich sehr zurückgenommenes) Scherzo: „Liebste kleine Beere, du kennst den Schmerz in meinem Herzen nicht.“ Sehr unkonventionell dann das Finale: dauerten alle drei vorherigen Sätze deutlich länger als 10 Minuten, so nimmt der letzte Satz kaum vier Minuten in Anspruch; außerdem schweigt hier das Orchester gänzlich. Weinberg vertont hier den titelgebenden Text „Krieg – kein Wort ist grausamer“, vier Minuten Hoffnungslosigkeit und Trauer, am Ende bedrückende Stille.
Dagegen trägt die Neunzehnte Sinfonie den Titel „Der strahlende Mai“, was auf das Ende des 2. Weltkriegs im Mai 1945 anspielt. Doch auch wenn diese Musik selbstredend viel zuversichtlicher und freundlicher ist als die der beiden anderen Sinfonien, komponiert Weinberg alles andere als eine sinfonische Hymne, sondern ein insgesamt sehr subtiles Werk, das in oft zarten Farben immer wieder Ruhe und Frieden sucht. Das Ende dürfte einer der bewegendsten Momente in Weinbergs Schaffen überhaupt sein: in sparsamem Satz und langsamem Tempo spielen die Violinen eine aufsteigende Linie bis hin zu einem „e“, es ertönt eine Art Hirtenflöte und schließlich ein ganz leiser E-Dur-Akkord in sehr weiter Lage. Wenn die Musik nach all den vorangegangen Schrecknissen hier doch zu Ruhe und Frieden gelangt, ist das für den Hörer ein schier unglaublicher Moment, unheimlich tröstlich und von zerbrechlicher Schönheit.
Danach komponierte Weinberg zunächst einige eher heitere und unkomplizierte Werke, neoklassizistisch orientiert und von teilweise gelassener Heiterkeit. Dies gilt etwa für seine Kammersinfonien, insbesondere die erste, aber auch für ein Werk wie sein letztes Streichquartett, wobei Weinberg das fröhliche D-Dur des Anfangs und Endes im Mittelsatz mit einer c-moll-Klage, die auf seiner vierten Solosonate für Violoncello basiert, konfrontiert.
Über Weinbergs letzte Kompositionen kann ich nichts sagen, weil von ihnen bisher keine Einspielungen existieren; wohl im Jahre 1992 komponierte er eine Sinfonie mit dem Titel „Kaddish“, die er den Juden, die im Warschauer Ghetto verschwanden (unter anderem also seiner Familie) widmete. Das Manuskript schenkte er der Gedenkstätte Yad Vashem. Diese Sinfonie muss seine einundzwanzigste sein, wie man einem Interview entnehmen kann; die zwanzigste ist mir allerdings nicht bekannt. Über die Musik weiß ich ebenfalls rein gar nichts.
Warum ist Weinbergs Musik so unbekannt? Ich denke, die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen hat man früher sicherlich die Musik der Sowjetunion hierzulande nur sehr bedingt wahrgenommen – selbst ein Schostakowitsch genoss nicht immer die Akzeptanz von heute, wenn man sich einmal einige Publikationen der 1950er Jahre ansieht. Da war ein Weinberg einfach nicht gefragt. Und als nach dem Ende der Sowjetunion die dortige Musikszene stärkere Beachtung fand, waren es zunächst vor allem die Avantgardisten, denen man besondere Aufmerksamkeit schenkte, etwa Schnittke, Denissow oder Gubaidulina. Auch Dissidenten, solche, die mit dem System in Konflikt gerieten, waren gefragt, wobei sich dies mit der Avantgarde sicherlich überschneidet.
Auf der anderen Seite hatte Weinberg auch in der Sowjetunion Akzeptanzprobleme: zwar setzten sich immer wieder prominente Musiker für ihn ein, doch gemessen an anderen Komponisten ist etwa die Präsenz seiner Werke auf Schallplatte nicht sonderlich groß. Dies mag durch den nicht zu verleugenden Antisemitismus in der Sowjetunion bedingt sein, vielleicht auch, weil Weinberg wohl ein eher zurückgezogenes Leben ohne öffentliche Ämter etwa im Komponistenverband führte. Andererseits kann man bei ihm (trotz seiner Verhaftung) auch schwer von Dissidententum sprechen; dagegen stehen ja allein schon seine oben zitierten Aussagen. Das ist dann wiederum auch nicht besonders medienwirksam. Man sollte auch nicht vergessen, dass Weinberg ein für seine Generation schon ziemlich konservativer Komponist war, mit einer Ästhetik, die stärker in der Tradition verankert war als es hierzulande lange Zeit akzeptiert wurde.
Glücklicherweise scheint sich diese Situation in den letzten Jahren deutlich zu verändern. Bereits in den 1990er Jahren hat sich Olympia, das heute nicht mehr existente Spezialistenlabel für sowjetische Musik, um Weinberg bemüht und sechzehn CDs mit seiner Musik veröffentlicht (als siebzehnte erschien völlig unverständlicherweise ein Sampler). Leider sind diese CDs heute nur noch schwer erhältlich (bis auf einige wenige, die von alto wiederveröffentlicht wurden), ich habe fast alle, aber teilweise eben auch nur in Kopien.
Doch es hat gerade in letzter Zeit auch etliche Neuveröffentlichungen gegeben: für Chandos hat Gabriel Chmura mit dem Polnischen Rundfunk-Sinfonieorchester Katowice einige Sinfonien, eingespielt, auch eine CD mit Konzerten ist bei Chandos erschienen; Neuaufnahmen von Streichquartetten, Violinsonaten und Cellosonaten sind veröffentlicht worden, Toccata Classics will sämtliche Lieder einspielen und CPO hat auch Wind davon bekommen und bringt derzeit eine Gesamteinspielung der Streichquartette und der Werke für Violine und Klavier heraus. Northern Flowers überraschte gar mit der Weltersteinspielung der Sinfonie Nr. 1.
Abschließend einige CD-Tipps:
Zumindest die ersten beiden CDs der Chandos-Serie eignen sich sehr gut zum Kennenlernen – eingespielt sind die Sinfonien Nr. 4&5 sowie die beiden Sinfonietten (nicht die erste Sinfonie, wie jpc behauptet), dazu noch die sehr effektvolle Moldawische Rhapsodie. Die dritte CD ist auch klasse, aber die beiden dort eingespielten Sinfonien (Nr. 14 und 16) sind deutlich komplexer:
Die Sinfonien Nr. 4&6 gibt es mit Kondraschin am Pult:
Melodija hat die fabelhafte Aufnahme des Klavierquintetts mit Weinberg selbst am Klavier im Programm (die beiden Cellosonaten gab es früher übrigens auch mit Weinberg selbst, derzeit aber leider nicht erhältlich):
Hier noch die Links zur CPO-Streichquartett-Edition:
Weiteres kann man bei jpc direkt finden.
Dies ist nun letztlich ein recht langer Thread geworden, aber ich denke, zu Weinberg gibt es nicht zuletzt mangels Literatur (bei MGG übrigens eher stiefmütterlich behandelt) auch einiges zu sagen. Ich hoffe, ich konnte das Interesse für diesen Komponisten hiermit ein wenig wecken oder katalysieren.
Viele Grüße
Holger