Liebe Capricciosi,
wie andernthreads festgestellt, scheint sich in den 1950er/1960er Jahren das Gesangsideal in der Oper hin zu schwereren, dramatischeren Stimmen gewandelt zu haben. Das ist, wenn man ältere Aufnahmen vergleicht, besonders auffällig bei Partien wie z.B. Turandot (prä-Nilsson und post-Nilsson), Carmen, Salome, aber auch bei Tenören. Freilich gab es dann auch wieder Gegenbewegungen (Karajans Ricciarelli-Fehlbesetzungen, überhaupt wohl die ganze HIP-Bewegung in der Alten Musik), aber die großen Aufnahmen der 1960er Jahre prägen die Erwartungshaltung des Opernpublikums wohl bis heute.
Ich habe dazu ein interessantes Interview mit Francesco Meli gefunden, in dem es u.a. heißt:
Alles anzeigenWarum ist es eigentlich so schwer, eine Besetzung für «Aida» oder «La forza del destino» zu finden? Gibt es gerade keine dramatischen Stimmen? Oder liegt es an der Ausbildung?
Ein entscheidender Grund ist die Aufführungstradition im italienischen Repertoire. Es liegt an den falschen Erwartungen von Zuhörern, Dirigenten und Sängern. Die meisten glauben, für Verdi seien Power-Stimmen erforderlich. Das stimmt schon in manchen Fällen und an manchen Stellen. Aber sogar bei «Aida» oder «Forza» ist es doch so: Jeder Solist muss fähig sein zum Pianissimo, zur Mezza voce, zum großen Legato. Warum muss Radamès von einem dramatischen Tenor gesungen werden? Er ist doch ein junger, unerfahrener Typ. In der ersten, so gefürchteten Arie setzt ihm das Orchester kaum Widerstand entgegen. Man muss hier überhaupt nichts pushen. Später bei «Sacerdote, io resto a te!» gibt es nur einzelne Akkorde, das Orchester überdeckt nichts, schweigt sogar. Warum also Brüllstimmen? Oder nehmen Sie «Forza»: In Alvaros erstem Solo schreibt Verdi ständig Pianissimo vor.
Also gibt es genügend Sänger für diese Opern, sie werden nur nicht engagiert?
Genau. Weil gerade andere Klangideen vorherrschen. Eleganz und Nuancen scheinen nicht so gefragt. Das geht bis zu Otello. Mit dem Uraufführungssänger Francesco Tamagno war Verdi nicht zufrieden, weil er kein Piano beherrschte und den Charakter Otellos nicht ganz erfüllte. Otello ist nicht nur ein Biest. Er ist ein Farbiger, also jemand, der ein Ausgestoßener sein könnte, anfangs aber von allen geliebt wird. Eine bewundernswerte und bewunderte Person, kein wildes Tier. Klar, er ist manchmal aufbrausend, aber auch unglaublich zärtlich. (singt) «Gia nella notte densa …» Für das «Esultate» braucht man eine Minute Power, okay. Aber warum muss bei «Ora e per sempre addio» jeder Ton forciert werden? Das kann man schon so singen, aber Verdi hat es nicht so geschrieben. Meinetwegen können Sie alles tun, auch Champagner mit Cola trinken. Aber passt es zusammen? 2019 werde ich übrigens meinen ersten Otello singen, in einer konzertanten Aufführung unter der Leitung von Daniele Gatti in der Berliner Philharmonie. Ich denke, dass ich so weit bin, gerade in Bezug auf diese Akustik.
Ist für Verdi eine Revolution der Aufführungspraxis angebracht, wie sie Nikolaus Harnoncourt in der Barockmusik und bei Mozart ausgelöst hat?
Vielleicht ja. Es gibt Dirigenten wie Muti, die das seit Jahren versuchen. Aber es ist so schwierig, weil sich bei vielen ein falsches Aufführungsverständnis festgesetzt hat. Verdi, so denkt man dann, muss man nicht absolut präzise spielen, man kann extrapolieren, wie man will, auch Dynamikvorschriften ändern. Ein Sopran, der bei «Porgi amor» powert, würde doch auch Buhs bekommen.
Dabei könnten doch italienische Musiker mit ihrer Tradition Vorreiter sein.
Ein schwieriges, heikles Thema. Am Beginn des vorigen Jahrhunderts war das noch anders. Nehmen Sie Aureliano Pertile – ein genuin lyrischer Tenor mit dramatischen Fähigkeiten. Ebenso Giacomo Lauri-Volpi, der Radamès und Otello mit einer eher leichten Stimme sang, und es wurde allseits akzeptiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg tauchten dann Hyperdramatiker wie Franco Corelli oder Mario del Monaco auf, auch Birgit Nilsson im Falle von Turandot. Verstehen Sie mich nicht falsch: Das war eine große Zeit für das Opernleben. Aber es schlich sich ein ungutes Imponiergehabe ein, das vom Publikum und von der Kritik sanktioniert wurde. Ich will das nicht «Zirkus» nennen, aber mir fällt gerade kein anderes Wort ein.
Im Grunde genommen ging die Fähigkeit zur Mezza voce verloren.
Genau. Sie wurde ersetzt durch eine Art Pianissimo-Säuseln. Das Bewusstsein dafür, wie ein wirkliches, intensives Piano erzeugt wird, verschwand. Ausgenommen davon sind Größen wie Nicolai Gedda.
Ich finde das tatsächlich auch problematisch, auch weil es die großen dramatischen Stimmen heutzutage gar nicht im nötigen Ausmaß zu geben scheint und ich eine Arie wie z.B. "In questa reggia" sehr gerne im vorgeschriebenen Pianissimo, zart und zerbrechlich wie Puccini sie notiert hat, gesungen höre. Ich weiß allerdings auch nicht genau, was der Grund für den Trend zu dramatischeren Stimmen in der Nachkriegszeit war: Ihre Verfügbarkeit, oder Entwicklungen in der Gesangstechnik, oder im Orchesterklang, oder allgemeine gesellschaftliche Moden? Wie seht ihr das?
Liebe Grüße,
Areios