WAGNER: Der Ring des Nibelungen – Größtes Werk der Operngeschichte?

  • Am besten der Reihe nach, so kommt man am weitesten:

    1. Ich ziehe es vor, die Primärliteratur, also das Stück zu lesen. Der Sekundärliteratur (dazu zähle ich auch die Äußerungen der Autoren) hingegen räume ich einen sekundären Rang ein. Das bedeutet vor allem, dass alles, was sich in der Sekundärliteratur findet, am Text des Stücks selbst überprüft werden muss. Seitenweise ohnehin jedem bekannte Zitate aus Sekundärquellen helfen also nicht viel. »Das Stück lesen« heißt dabei, es so gründlich und genau wie möglich zu lesen, also einerseits möglichst nichts zu übersehen und kein Detail ungedeutet zu lassen, andererseits nach Möglichkeit nichts hineinzulegen, was sich aus dem Material nicht zu entnehmen ist. (Muss ich es sagen? Vermutlich ja: ;Mit »Stück« meine ich das Stück, nicht das Libretto.)

    2. Leitmotivkataloge sind ein zwar kaum entbehrliches Arbeitsmittel, aber man sollte sie mit größter Vorsicht verwenden. Schon die Bezeichnung »Leitmotiv« ist bekanntlich irreführend. Wagner hat sie meines Wissens nicht verwendet, jedenfalls nicht, wenn es auf eine genaue Terminologie ankam. Das größte Problem ist, dass die Motive in diesen Katalogen irgendwie benannt werden müssen, und die traditionellen Etiketten meistens irreführend sind. So heißt das angebliche »Erlösungsmotiv«., um das es hier geht, in vielen Katalogen »Liebeserlösungsmotiv« (Die Bezeichnung »Erlösungmotiv« ist nur die verkürzte Variante dieses Wortungetüms), was zu der Annahme verführt, es handele sich um ein Motiv, das irgendwie mit Liebe und Erlösung zu tun hat. Das ist aber nicht der Fall.

    Ein noch viel größeres Problem, auf das schon Wagner selbst hingewiesen hat: Die Kataloge präsentieren die Motive als getrennte Entitäten, viel zu selten wird darauf hingewiesen, wie sie voneinander abgeleitet sind und sich auseinander entwickelt. Diese Zusammenhänge könnte man oft in Form eines Stammbaums darstellen. Das würde, wenn es gelänge das so zu machen, dass es wirklich übersichtlich ist (mir ist kein gelungener Versuch bekannt) zeigen, wie die Motive der Rheintöchter, der Erda und der Nornen miteinander und mit dem Motiv der goldenen Äpfel, dieses wiederum mit dem Walhall- und de. Ring-Motiv verwandt sind usw. usf. Diese Verwandtschaften und Ableitungen haben sowohl eine musikalische als auch eine semantische Funktion. Die Kataloge mit ihrer starren Präsentation und ihren zum Teil grotesk falschen Namen unterschlagen aber genau das. Und sie verführen, man kann es nicht oft genug sagen, dazu, aus diesen Etiketten auf eine Bedeutung zu schließen: Weil am Ende der »Götterdämmerung« das »Liebeserlösungsmotiv« erklingt, muss es da um Liebe und Erlösung gehen.

    3. Was nun das besagte Motiv betrifft: Mir ist durchaus aufgefallen, dass zwischen der Mitteilung an Sieglinde, dass sie von Siegmund schwanger ist und ihrem Abgang einige Zeit vergeht. Allerdings ist mir auch aufgefallen, dass diese Zeit keine Generalpause ist und auch nicht eine Zeitspanne, während der die auf der Bühne anwesenden Damen Zeitung lesen, stricken, Kaffee trinken oder andere Neuigkeiten austauschen. Viel mehr vergeht diese Zeit mit der Suche nach einer Möglichkeit, Sieglindes Wunsch »rette die Mutter« zu erfüllen. Denn die Tatsache, dass sie schwanger ist, bedeutet noch lange nicht, dass sie wirklich Mutter wird. Wenn Wotan sie antrifft, ist sie im selben Moment tot und wird eben nicht Mutter. Dass sie die Mutterschaft erleben wird, ist erst klar, wenn Brünnhilde ihr den Weg zeigt und sich dafür opfert, dass sie ihn gehen und das Kind zur Welt bringen kann. (Eine genaue Parallele zu dem, was sich am Ende der »Götterdämmerung« zuträgt.) Erst dann, nicht unmittelbar nach der Mitteilung der Schwangerschaft bricht die Freude aus Sieglinde heraus. Genauer: Nachdem klar ist, dass sie gerettet und Mutter sein wird, und der Sohne einen glückverheißenden Namen erhalten hat. Von irgendeiner Erlösung ist auch hier keine Rede. Siegfried wird als der größte Held der Welt angekündigt, der in den Kämpfen, die ihm bevorstehen, siegen, also überleben wird. Mehr steht nicht da. Von Erlösung ist weit und breit keine Spur. (Dass Siegfried die Welt erlösen würde, liest man oft. In der Sekundärliteratur. Im Stück tut er nichts dergleichen. Es ist also wohl vernünftig, die Annahme einer Erlösungstat aufzugeben.)

    4. Kurz zusammengefasst: Beide Stellen, an denen das Motiv auftaucht, bilden eine Parallele: Brünnhilde opfert sich, um den Weg für eine Zukunft freizumachen, die Zukunft ist die Mutterschaft, die durchaus aus »hehrstes Wunder« bezeichnen kann. Das Motiv drückt die Freude über dieses Wunder und die Dankbarkeit dafür, dass es ermöglicht wurde, aus.

    5. Mehr ist kaum zu sagen. Höchstens wäre noch darüber nachzudenken, warum das Motiv bei seinem zweiten Auftreten so vie langsamer gespielt wird, wodurch sich sein Charakter stark ändert, ohne dass sich sein semantischer Gehalt geändert haben kann (Veränderungen in der Semantik solcher Motive sind im »Ring« keineswegs selten, werden aber immer so vorgeführt, dass der Hörer sie nachvollziehen kann, was hier logischerweise nicht möglich ist.) Allerdings liegt das nun wirklich auf der Hand und bedarf keiner weiteren Erläuterung.

    6. Wagner hat seine Stücke für das Theater komponiert nicht für die Analyse. Im Theater kann eine »Vorausweisung« nur funktionieren, wenn der Zuschauer schon weiß, was kommen wird. Das kann er aber am Schluss der „»Walküre« aber nicht wissen. Darum kann das Motiv nicht auf den Schluss voraus-, sondern nur der Schluss auf die Stelle der „»Walküre« zurückverweisen. Dass diese Stelle mit der Mutterschaft zu tun hat, ist unbestreitbar, also trifft das auch für das Ende zu. Noch einmal: Ich schlage vor, das Stück zu lesen. Dsa heißt, nichts zu lesen, was nicht drinsteht. Am Schluss der »Walküre« ist nicht vom Schluss der »Götterdämmerung« die Rede, und kann nicht die Rede sein, weil es der noch nicht stattgefunden hat, Das wäre erfolgreiche Kaffeesatzleserei. Es würde übrigens bedeuten, dass der Ausgang des Stücks zu diesem Zeitpunkt schon feststeht. Das ist aber keineswegs der Fall., sonst könnte man sich den Rest ja sparen. Kann man aber nicht, weil es an jedem Punkt die Möglichkeit gibt, dass es anders weitergeht, was dann zwangsläufig zu einem anderen Schluss führt.

    Einmal editiert, zuletzt von Argonaut (21. Dezember 2021 um 06:09)

  • Mit dem „Lesen des Stücks“ sind wir uns einig.

    Auch mit dem vorsichtigen Gebrauch der Gefühlswegweiser.

    Dass sie die Mutterschaft erleben wird, ist erst klar, wenn Brünnhilde ihr den Weg zeigt und sich dafür opfert, dass sie ihn gehen und das Kind zur Welt bringen kann. (Eine genaue Parallele zu dem, was sich am Ende der »Götterdämmerung« zuträgt.)

    Wenn wir den Text genau lesen, dann stellen wir fest, dass die Parallele zum Ende Götterdämmerung nicht darin besteht, dass da jemand ein "Kind zur Welt bringen kann".

    Kurz zusammengefasst: Beide Stellen, an denen das Motiv auftaucht, bilden eine Parallele: Brünnhilde opfert sich, um den Weg für eine Zukunft freizumachen, die Zukunft ist die Mutterschaft, die durchaus aus »hehrstes Wunder« bezeichnen kann. Das Motiv drückt die Freude über dieses Wunder und die Dankbarkeit dafür, dass es ermöglicht wurde, aus.

    Das Selbstopfer der Brünnhilde ist eine Parallele, die Mutterschaft nicht.

    Die Verkürzung des Geschehens auf die schiere Mutterschaft greift m. E. zu kurz.

    Beiden Stellen, dem Dialog Brünnhilde/Sieglinde und dem Schluss der Götterdämmerung, ist u. a. Folgendes gemeinsam:

    (1) Brünnhilde opfert sich selbst zugunsten anderer,

    (2) diese anderen erleben dieses Opfer passiv,

    (3) diese anderen hatten vor dem Opfer eine negative Zukunftserwartung,

    (4) durch das Opfer verändert sich die Zukunftserwartung ins Positive.

    Wer sind nun „diese anderen“? In der Walküre ist es Sieglinde. In der Götterdämmerung sind es die „Männer und Frauen“, die „ aus den Trümmern der zusammengestürzten Halle“ „in höchster Ergriffenheit“ dem wachsenden Feuerschein am Himmel“ zusehen. Die Parallele ist nicht nur, dass das jeweilige Wunder, die unerwartete Wendung ihres Schicksals, an ihnen und für sie geschieht, sondern, dass es von "diesen anderen" auch so wahrgenommen wird und von starken Gefühlen begleitet ist, „in größter Rührung“ bei Sieglinde, „in höchster Ergriffenheit“ bei den Männern und Frauen.

    Sieglinde hatte, und darin stimme ich zu, eine negative Zukunftserwartung. Richtig, Ihr Zwillingsbräutigam Siegmund ist tot, die ihm verheißene siegreiche Waffe ist zerschlagen. Dazu kommt der Zorn des Göttervaters: „Weh der Armen, wenn Wotan sie trifft; den Wälsungen allen droht er Verderben“.

    Ein negative Zukunftserwartung hatten auch die Männer und Frauen. Beherrscht von Göttern, die mit ihrem fehlbaren Verhalten einen Fluch und weitere Schuld in die Welt gebracht haben, welche ihre Geschicke lenken, ohne dass sie recht wüssten, wie; regiert von Männern, die dazu kaum fähig scheinen. Die Gesellschaft, in der sie leben, ist zutiefst verkommen: Frauen sind ein Objekt des Besitzes, über sie wird verhandelt, Ehen sind ein Geschäft, Eide werden zum Bruch arrangiert, Tränke helfen nach, wo die List des Geistes zur üblen Tat alleine nicht hinreicht, tiefe Liebe wandelt sich zum Verrat Brünnhildes an Siegfried.

    Durch Brünnhildes Opfer wird in der Walküre der Sieglinde das Leben geschenkt, wenn auch nur für kurze Zeit. Siegmund ist tot, aber ein Siegfried wird als hehrster Held der Welt geboren werden, der wird auch die zerschlagene Waffe neu fügen und sich des Siegs erfreuen. Letzteres stimmt zwar nicht ganz, doch das ist ja nur ex post klar.

    In der Götterdämmerung reinigt Brünnhildes Opfer den Ring und entfernt den Fluch aus der Welt. Die fehlbaren Götter, „falsch und feig“, verbrennen durch Loges Feuer, den Brünnhilde vom Walkürenfelsen nach Walhall sendet. Die Weltesche, deren Äste einer als Vertragsdokument zum Werkzeug der unheilvollen Machtspiele wurde, ist zerschlagen. Hagen, der Sohn des Nibelungen Alberich, ertrinkt. Alberich selbst wird ohne den Ring kaum Unheil stiften können, die Rheintöchter werden vor ihm auf der Hut sein (zugegeben: das steht nicht im Stück). Gunther, willensschwacher Sklave seiner Wunschträume, ist tot. Die Machtstrukturen der Götter sind überwunden, die Machtstrukturen am Hofe der Gibichungen auch.

    So wie Sieglinde haben die „Männer und Frauen“ eine ins Positive gewendete Zukunftserwartung – zumindest als Möglichkeit.

    So ist die Verkürzung auf das Mutterglück eben eine Verkürzung. Zum einen wird das Mutterglück nicht direkt benannt – Sieglinde sagt nirgends „ich werde Mutter! Wie schön!“ oder dergleichen. Zum anderen: Wenn wir den Text genau lesen und uns hüten, etwas hineinzudeuten, dann finden wir ihre Worte von einem „hehrsten Wunder“, von Brünnhilde, die an ihr zur „herrlichsten“ und treuen „Maid“ wird, sie empfindet Dank und Trost, sie gedenkt ihres Zwillingsgatten und hofft, dass ihres Dankes Lohn Brünnhilde dereinst erreichen mag. Ja, es ist plausibel, dass sie auch zukünftiges Mutterglück empfindet, aber zumindest Wagner schien dieser Aspekt nicht so wichtig, dass er ihn zulasten der anderen, die er expressis verbis benannt hat, ausführen wollte. So steht es im Stück. Gehen wir doch einfach davon aus, dass Wagner das, war er meinte, auch benannte.

    In der Götterdämmerung ist überhaupt niemand erwähnt, die Mutterglück entgegen ginge.

    Lesen wir das Stück, so scheint mir das fragliche Motiv doch eher allgemein das „hehrste Wunder“ eines unerwartet gewendeten Schicksals zu besingen, anstatt einseitig von Mutterglück zu sprechen. Dem "hehrsten Wunder" gelten auch die Worte, zu denen es erscheint. Außerdem: In den Trümmern der zusammengestürzten Halle stehen auch Männer.

    Gruß

    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

    4 Mal editiert, zuletzt von Mauerblümchen (21. Dezember 2021 um 09:08)

  • volle Zustimmung. Mutterglück ist nicht der Punkt des Motives, sondern das Wunder, welches sich vollzieht. Dieses Wunder wird von Sieglinde angesagt, als das Motiv zum ersten mal erklingt.

    Was ist nun das Wunder?

    ein Siegfried wird als hehrster Held der Welt geboren werden, der wird auch die zerschlagene Waffe neu fügen und sich des Siegs erfreuen. Letzteres stimmt zwar nicht ganz, doch das ist ja nur ex post klar.

    Hier liegt der Hase begraben. Wenn man die letzten Worte Brünnhildes in der GD liest, dann wird klar, dass die Heldentat des Siegfrieds sehrwohl stattgefunden hat. "Mich mußte der Reinste verrathen, daß wissend würde ein Weib!" Und nur das wissende Weib kann den Fluch des Ringes brechen. Sie ist kräftiger, die herrliche Maid, obwohl sie nur ein Mensch ist. Siegfried hat sie bemächtigt. Das war seine Heldentat. Die Bemächtigung Brünnhildes und die Handlung, die sie dadurch vollziehen kann, und die Konsequenzen, die sich daraus für die Menschheit ergeben, sind das Wunder.

  • Wenn ich dem Rat Argonauts folge und das Stück genau lese, ist für mich das "hehrste Wunder", daß Sieglinde von Siegmund ein Kind empfängt, das ihr Brünnhilde so ankündigt:

    "...den Namen nehm' er von mir -

    "Siegfried" efreu sich des Siegs"!

    Und zwar ein Kind, das - im Gegensatz zu seinem Vater Siegmund - siegreich sein wird. Wie es wirklich wird, können wir da noch nicht wissen.

    Sieglinde sagt nach dem "hehrsten Wunder":

    "Dir Treuen dank' ich heiligen Trost!"

    Und das ist das Wunder, daß sie aus tiefster Verzweiflung durch den zu erwartenden Sohn wieder einen Sinn in ihrem Leben sieht. Die Menschheit ist ihr herzlich egal.

    Warum soll man sich etwas zusammengeheimnissen, das irgendwo in der Ferne liegt, wenn man unmittelbar vor und nach dem gepriesenen "Wunder" doch die Antwort findet.

  • Wenn ich dem Rat Argonauts folge und das Stück genau lese, ist für mich das "hehrste Wunder", daß Sieglinde von Siegmund ein Kind empfängt, das ihr Brünnhilde so ankündigt:

    Entschuldigung, doch wenn ich das Stück genau lese, dann kann ich das nicht bestätigen.

    Sieglinde singt vom "hehrsten Wunder" eben nicht in dem Moment, als Brünnhilde ihr die Schwangerschaft zuspricht.

    In dem Moment, als Brünnhilde singt "Lebe, o Weib, um der Liebe willen! Rette das Pfand, das du von ihm empfingst: ein Wälsung wächst dir im Schoß!", da "erschrickt" Sieglinde "zunächst heftig" - so steht es bei Wagner. Nix Mutterglück. Sorry. Sieglinde war vorher lebensmüde ("einzig taugt mir der Tod"), nun bittet sie um Rettung ("Rette mich, Kühne! Rette mein Kind! Schirmt mich, ihr Mädchen, mit mächtigem Schutz!"). Klingt für mich auch eher nach Angst als nach Glück. Ich will nicht unterschlagen, dass in der Partitur steht: "erschrickt zunächst heftig; sogleich strahlt aber ihr Gesicht in erhabener Freude auf". Mag man als "Mutterglück" umschreiben. Warum nicht. - Jedoch erscheint das fragliche Motiv hier eben nicht ...

    Das mit dem hehrsten Wunder samt dem Motiv, welches am Ende der GD wiederkehrt, geschieht erst 120 Takte später, und zwar nicht als Reaktion auf die Nachricht über die Schwangerschaft, sondern als Reaktion auf die Wendung der gesamten Situation: Sieglinde wird leben und nicht durch Wotan sterben, Sieglinde wird ihren Sohn gebären, dieser Sohn wird die Schwertesstücken wieder neu fügen und siegreich sein - darum auch der Name "Siegfried" (und nicht "Mutterbeglücker" oder so). Das sind doch ein paar Aspekte mehr als der des Mutterglücks.

    Das noch stärkere Argument dagegen ist mir aber, dass Wagner die Sieglinde andere Gründe für ihre "größte Rührung" nennen lässt - einfach lesen.

    Und die Wiederaufnahme des Motivs ganz am Ende des Werkes erscheint doch nur dann logisch (ok, Wagner könnte freilich eine dramaturgische Ungenauigkeit begangen haben und das Motiv bloß verwendet haben, weil es ihm so gut gefiel, aber davon gehen wir ja nicht aus), wenn es so etwas wie ein tertium comparationis gibt zwischen Sieglinde und den "Männern und Frauen" in den Trümmern der Gibichungenhalle. Mutterglück ist es für die Männer bestimmt nicht.

    Ich gebe gerne zu, dass ich die Idee, das verbindende Element zwischen der Szene von Brünnhilde und Sieglinde einerseits und dem Ende der GD andererseits sei "Mutterglück", sehr schön und berührend finde, und ich würde mich freuen, wenn es in einer Inszenierung der GD ein, zwei Details gäbe, die das herausarbeiten. Doch als zentralen Aspekt kann ich das Mutterglück nicht im Stück finden, ohne Eigenes hineinzulegen.

    Gruß

    MB

    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

    3 Mal editiert, zuletzt von Mauerblümchen (21. Dezember 2021 um 12:19)

  • Sieglinde sagt nach dem "hehrsten Wunder":

    "Dir Treuen dank' ich heiligen Trost!"

    Und das ist das Wunder, daß sie aus tiefster Verzweiflung durch den zu erwartenden Sohn wieder einen Sinn in ihrem Leben sieht. Die Menschheit ist ihr herzlich egal.

    Warum soll man sich etwas zusammengeheimnissen, das irgendwo in der Ferne liegt, wenn man unmittelbar vor und nach dem gepriesenen "Wunder" doch die Antwort findet.

    Ich bin in den letzten Beiträgen zwar nicht zitiert worden, aber ich denke, Ihr habt Euch wohl beim "Erlösungsmotiv" auch auf meine Sicht einer möglichen "Vorausdeutung" von der Walküre zur Götterdämmerung bezogen (ich hatte das mit "eher" auch eingeschränkt). Sicher, ich gebe Melzer recht, dass im Moment von Brünnhildes Verkündung im 3. Aufzug der Walküre Sieglinde sich nur auf ihr eigenes Glück bezieht und nicht an eine Götterdämmerung bzw. Befreiung der Menschheit denkt, aber es ist doch verwunderlich, dass dieses musikalische Motiv das Einzige ist, das nicht mehrfach verwendet wird. Es ist also zu fragen, warum es Wagner dann erst ganz am Schluss wieder aufgreift. Man kann ihm doch auf jeden Fall attestieren, dass er das nicht willkürlich gemacht hat, weil ihm vielleicht in diesem Moment nichts Besseres eingefallen ist. Also muss eine Beziehung zwischen dem Moment von Sieglindes Glückseligkeit und dem Ende der Götterdämmerung bestehen. Allerdings sehe ich - wie in meinem füheren Posting ausgeführt - aber auch eine Inkongruenz zu dem von Wagner veröffentlichten Text von 1856 ("Trauernder Liebe / tiefstes Leiden / schloß die Augen mir auf: / enden sah ich die Welt. –"), von dem er behauptet, das sei in der Musik ausgedrückt, deshalb brauche es Brünnhilde nicht zu singen.

    Wie dem auch sei, für mich ist das Ende der Götterdämmerung eher pessimistisch resignativ und kein Freudentaumel über eine zukünftige bessere Welt.

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    Was ist heute Kunst ? Eine Wallfahrt auf Erbsen. (Thomas Mann, Doktor Faustus, Kap. XXV)

  • Da meine Nachbemerkung aus dem anderen Thread zu spät erschien und nicht mit kopiert wurde, hier noch einmal zur Vervollständigung:

    Noch eine Bemerkung:

    In dem weiter oben erwähnten Artikel von Dahlhaus führt dieser mit Zitaten von Briefstellen Wagners (nachfolgend in eckige Klammern gesetzt, was ich mangels Quellen nicht nachvollziehen bzw. belegen kann), zum veränderten Schluss der Tetralogie aus:

    Zitat

    1856, nach der Konversion zu Schopenhauers Philosophie empfindet Wagner die Liebe Siegfrieds und Brünnhildes nicht mehr als »erlösend«, sondern als »recht gründlich verheerend«. Sie ist, als Gestalt des »Willens«, ein blinder Drang, der sich in eine Tragik verstrickt, aus welcher einzig die Selbstverneinung herausführt.

    [...]

    Die Schopenhauer-Rezeption bedeutet also eine tiefgreifende Veränderung des Sinnes der Ring-Dichtung und nicht ein bloßes Bewusstwerden einer latent schon immer vorgezeichneten Idee des Werkes. Wagner vertauschte, formelhaft gesprochen, eine Geschichtsphilosophie mit einer Existenzphilosophie: Gezeigt werde im Ring nicht »eine Phase der Weltentwicklung« - der Übergang von einer »Welt der Verträge«, in denen Gesetz und Gewalt miteinander verquickt sind, in ein »Reich der Freiheit« -, sondern »das Wesen der Welt selbst«, in das man nicht verändernd eingreifen kann, ohne dass der Wille zum Besseren das Schlimmere herbeiführt. Die Liebe Siegfrieds und Brünnhildes erscheint nicht als Antizipation eines »Aufgangs neuer Welt«, sondern als »verheerende« Macht, als blinder, zerstörender »Wille« in einer Welt der Qual und Verwirrung. Der Rest ist Resignation und der tragische Held der Ring-Tetralogie ist nicht Siegfried, sondern Wotan. zitiert nach: Carl Dahlhaus, "Über den Schluss der Götterdämmerung", in dem Sammelband "Richard Wagner, Werk und Wirkung" , Bosse 1971

    Diese Darstellung deckt sich lückenlos mit der Inszenierung von Chereau.

    EDIT:

    Noch ein PS: Der neue Name "Götterdämmerung" an Stelle von "Siegfrieds Tod" für den vierten Teil der Tetralogie taucht nach Dahlhaus erstmalig im Sommer 1856 auf, in Zusammenhang mit der Umarbeitung des Schluss-Textes, also in der Phase der Zuwendung zu Schopenhauer, und zwar zwischen der Vollendung der Walküre-Partitur und den ersten Kompositionsskizzen zu Siegfried.

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  • Ich will nicht unterschlagen, dass in der Partitur steht: "erschrickt zunächst heftig; sogleich strahlt aber ihr Gesicht in erhabener Freude auf".

    Gut, daß Du das nicht unterschlägst, sonst hätte ich es nachgereicht, da es enorm wichtig ist. Genau das ist doch der "casus knaxus" (scherzhaft), die Aussicht auf das Kind ändert alles. Daß da auch Angst dabei ist, ist doch trivial. Das ist auch bei Schwangerschaften unter nicht so komplizierten Umständen ganz normal.

  • Wagner hat seine Stücke für das Theater komponiert nicht für die Analyse. Im Theater kann eine »Vorausweisung« nur funktionieren, wenn der Zuschauer schon weiß, was kommen wird. Das kann er aber am Schluss der „»Walküre« aber nicht wissen. Darum kann das Motiv nicht auf den Schluss voraus-, sondern nur der Schluss auf die Stelle der „»Walküre« zurückverweisen.

    Doch, Besucher der Bayreuther Uraufführung 1876 konnten wissen, was kommen wird. Bereits 1875 war ein Klavierauszug der Götterdämmerung erschienen, vgl. https://www.zvab.com/servlet/BookDe…_-srp1-_-title3

    Dein Schluß, wonach ein Vorausverweis unmöglich gewesen wäre, ist schon in dieser Hinsicht unkorrekt. Für spätere Ring-Rezipienten sowieso.

    Daß Wagner fürs Theater komponiert hat, nicht für die Analyse, mag so sein. Aber es ist kein überzeugender Einwand gegen Analysen.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Ja. Prima. Das ist die neue Dramentheorie: Wenn ein Stück gedruckt ist, kann das Stück sich selbst als bekannt voraussetzen. Sehr komisch. Mein Humor ist das allerdings nichts, darum habe ich dazu nichts zu sagen und versuche es also auch nicht.

  • [...] darum habe ich dazu nichts zu sagen und versuche es also auch nicht.

    Besser so.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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    Helmut Lachenmann

  • Ja. Prima. Das ist die neue Dramentheorie: Wenn ein Stück gedruckt ist, kann das Stück sich selbst als bekannt voraussetzen. Sehr komisch. Mein Humor ist das allerdings nichts, darum habe ich dazu nichts zu sagen und versuche es also auch nicht.

    Geht's auch weniger agressiv ???

    Apropos Vorausweisungen: Wie steht es denn mit dem "Schwert-Motiv" in Rheingold ??? Da wird ein "großer Gedanke" (laut Anweisung in der Partitur) musikalisch markiert, der dann in der Walküre eindeutig dem Schwert zugeordnet ist. Hier kommt das Motiv eindeutig vor dem konkreten Bezug zum Objekt.

    Ich entsinne mich dabei übrigens mindestens einer Inszenierung, wo der Regisseur glaubte, das nun auch im Rheingold schon an einem echten Schwert bildlich festmachen zu müssen. Dieses war daher beim Zusammenraffen des Hortes von Fafner "übersehen" worden und "versehentlich" liegen geblieben, so dass es Wotan zu den Worten "So grüß' ich die Burg!" in die Höhe recken konnte. Das war nun wahrlich läppisch und kindisch...

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  • Besser so.

    Das finde ich nicht.

    Zur Erklärung: Eine höfliche Antwort, gern widersprechend (da die Frage durchaus kontrovers diskutiert werden kann), hätte mich schon interessiert, aber da Argonaut es offensichtlich vorzieht herumzupöbeln, ist es mir lieber, wenn er schweigt, darum noch einmal: Besser so.

    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz

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  • Apropos Vorausweisungen: Wie steht es denn mit dem "Schwert-Motiv" in Rheingold ??? Da wird ein "großer Gedanke" (laut Anweisung in der Partitur) musikalisch markiert, der dann in der Walküre eindeutig dem Schwert zugeordnet ist.

    Ich meine mich zu erinnern, in den Regieanweisungen Wagners gelesen zu haben, dass Wotan ein Schwert aufliest, das aus dem Nibelungenhort stammt und von Fafner vergessen wurde. Vielleicht trügt mich auch meine Erinnerung.

  • Genau das ist doch der "casus knaxus" (scherzhaft), die Aussicht auf das Kind ändert alles.

    Ganz genau.

    Deshalb finde ich den Schluss vom Big Lebowski trotz Donnys Tod doch wieder versöhnlich.

    Und.. Wenn man das weiter spinnt. Maude Lebowski = Brünhilde und der Dude als Siegfried passen gut zusammen. (Gutterballs)

    Zumal es genau diese Konstellation in einer Filmszene gibt.

    Die Coen Brüder sind eben Genies.

    Gruß aus Kiel

    "Mann, Mann, Mann, hier ist was los!"

    (Schäffer)

    Einmal editiert, zuletzt von Doc Stänker (21. Dezember 2021 um 17:38)

  • Ich meine mich zu erinnern, in den Regieanweisungen Wagners gelesen zu haben, dass Wotan ein Schwert aufliest, das aus dem Nibelungenhort stammt und von Fafner vergessen wurde. Vielleicht trügt mich auch meine Erinnerung.

    In der Eulenburg-Partitur, die ich besitze, steht nur als sängerische Anweisung: "(wie von einem großen Gedanken ergriffen, sehr entschlossen)". Von einem Schwert keine Spur.

    Das gleiche findet man in der bei IMSLP angebotenen Partitur von Schott (1873).

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