Schumann – verkannt?

  • Ich glaube, die Unterscheidung zwischen Werk und Künstler ist nötig um Diskriminierungen zu vermeiden -

    Ein extremes Beispiel hierzu (bitte nicht als falschen Vergleich zu obigen Beiträgen verstehen!!!): Mit Mendelssohns jüdischer Abstammung wurde gegen sein Werk polemisiert. Von antisemitischer Weltsicht aus gesehen weiß man, dass seine Musik seichtes Blendwerk ist, ohne sie jemals gehört zu haben. Nachträglich lassen sich dann vielfache Begründungen für die mindere Qualität seiner Werke konstruieren, die sich nicht auf seine jüdische Abstammung stützen. Denn man kann alles begründen, was man begründen will.

    Falstaff

  • und Alexander März wird auch in künftigen Literaturgeschichten nicht zu finden sein.

    Lieber Peter, und das ist auch naheliegend, da Alexander März eine Bühnengestalt ist, deren Vorbild der Dichter Ernst Herbeck war:

    Ernst Herbeck, * 9.10.1920 in Stockerau, † 11.9.1991 in Gugging. Besuch der Volks- und Handelsschule, anschließend Hilfsarbeiter in einer Rüstungsfabrik. Mehrere missglückte Operationen wegen einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Nach einigen Aufenthalten in Psychiatrischen Kliniken lebte er ab 1946 in der Niederösterreichischen Landesnervenanstalt Gugging. Ab 1960 begann er auf Aufforderung seines betreuenden Psychiaters Leo Navratil Gedichte zu schreiben. In mehr als 30 Jahren entstanden so über tausend Gedichte und Texte, die zunächst unter dem Pseudonym „Alexander“ erschienen. Veröffentlichungen: Alexanders poetische Texte (1977); Bebende Herzen im Leibe der Hunde – Ernst Herbeck / Oswald Tschirtner (1979); Alexander. Ausgewählte Texte 1961-1981 (1982); Im Herbst da reiht der Feenwind. Gesammelte Texte 1960-1991 (Hg. Leo Navratil, 1992); Ernst Herbeck – Die Vergangenheit ist klar vorbei (Hg. Carl Aigner, Leo Navratil, 2002); Wenn man so die Welt durchblickt (Hg. Armin Abmeier, 2006).

    .


    --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------


    Immer noch da ... ab und an.

  • Wer entscheidet denn, was Kunst ist? Nun kenne ich mich in der Materie nur wenig aus, kenne auch keine Beispiele von Kunst, die von Behinderten kommt. Ich verstehe Marias Worte als Mahnung vielleicht aber auch als Erfahrungsbericht, der zeigt, dass unvorbereitete Hörer ihren Wertungsmaßstab mitbringen, durch dessen Raster vielleicht auch viele Werke von behinderten Menschen fallen. Es muss ja nicht immer die überhebliche Position, dass Behinderte keine Kunst zustande bringen könnten, offen ausgesprochen werden. Man kann diese Haltung implizit auch in der Position, einem Werk unabhängig von seinem Autor den Status Kunstwerk an. bzw. abzuerkennen, vermuten bzw unterstellen.

    Und man kann diese Haltung sogar (und mit gutem Grund) in dem Standpunkt vermuten, Kunst »behinderter« Menschen müsse nach anderen Kriterien gemessen werden als die »nicht-behindeter« Menschen, um die Kunst behinderter Menschen nicht abzuwerten. Gut gemeint ist eben nicht immer gut. Und zwar in diesem Falle, weil

    a) zunächst einmal ein wie auch immer geartetes objektives Kriterium der Unterscheidung zwischen »normal« und »deviant« angenommen wird,
    b) dann – und zwar immer aus der Perspektive und der überlegenen Position des »Normalen« – ganz tolerant die Beurteilungskriterien ca. zwei bis sieben Stockwerke niedriger angelegt werden und
    c) schließlich durch dieses ach so verständige und tolerante Messen mit zweierlei Maß letztlich nichts anderes getan wird, als die Devianz des anderen zu bestätigen, sie letztlich sogar zu verdoppeln.

    So nach dem Motto: selbstverständlich ist das Kunst! – aber ich spiele dann auf dem Klavier doch lieber Bach, Schubert oder Chopin …. Solange keiner der Verständigen bereit ist, bei seinen Konzerten das Musikstück A des Down-Patietenten B in sein Programm zu nehmen – und zwar durchaus neben Bach, Schubert oder Chopin –, bleibt das alles ein bloßes und zudem moralinsaures Lippenbekenntnis.

    Da der Ästhetik den schwarzen Peter zuzuschieben ist ein bissel arg bequem. Vielleicht ist vielmehr mal danach zu fragen, nach welchen Kriterien, mit welchen Strategien und durch welche Mechanismen überhaupt sowas wie »Normalität« und »Devianz« konstruiert und produziert wird. Aber das gehört nicht hierher, zumindest nicht in diesen Thread ...

    Adieu,
    Algabel

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Ich verstehe Marias Worte als Mahnung vielleicht aber auch als Erfahrungsbericht, der zeigt, dass unvorbereitete Hörer ihren Wertungsmaßstab mitbringen, durch dessen Raster vielleicht auch viele Werke von behinderten Menschen fallen.
    [...]
    Aber wenn ein Autist zu dem Ergebnis käme, Bach sei wirres Zeugs, Madonna sei der Maßstab aller Dinge, dann wäre aus unserer Sichtweise schlichtweg falsch bzw. eine Folge seiner "Krankheit".
    [...]
    Vielleicht ist das hieretwas polemisch und ich ein bisschen pseudo-übertolerant. Wollte damit aber zum Ausruck bringen, dass die Frage, wer beurteilt, was Kunst ist, wohl immer eine Grenze bleibt, auch dann, wenn wir das Werk in Beziehung zu seinem Autor setzen.

    Lieber Wulf!

    Das ist aber ein Problem des ästhetischen Urteils völlig unabhängig von "normal" oder "krank". In diesem Forum gibt es genug Threads, in denen Komponisten oder Interpreten sehr kontrovers beurteilt werden! Ist z.B. das, was eine gewisse russische Sopranistin absondert, Kunst? Mancher könnte das vielleicht bestreiten und sie bestenfalls unter "Kunsthandwerker" reihen. Und ich glaube, man wird heutzutage auch viele Nicht-Autisten finden, die Madonna über Bach stellen.

    Pseudo-Longinos hat meiner Meinung nach Wahres gesagt, wenn er schreibt (de subl. 7,4), große Kunst sei das, was zu allen Zeiten die (nach Alter, Beruf, Lebensform, Sprache und Geschmack) unterschiedlichsten Menschen berühre. Wenn ein Werk, warum auch immer, das nicht leistet, ist sein Kunststatus zumindest fragwürdig, egal von wem es stammt. Nun könnte es natürlich geschehen, da hast du nicht ganz Unrecht, dass sich die Ästhetik der Mehrzahl von Menschen von der eines psychisch Kranken unterscheidet. (Ich kann aber auch psychisch gesund sein und trotzdem eine eigenwillige Ästhetik pflegen!) Und dann könnte es natürlich theoretisch auch geschehen, dass die Mehrzahl der Menschen nicht durch dessen Werke berührt werden, die folglich nach der Definition des Pseudo-Longinos nicht große Kunst sind. Pech. (Ist das jetzt zynisch?) Kunst braucht auch Rezipienten! Es empfiehlt sich nicht, von der Meinung des Künstlers über seine Kunstwerke auszugehen. Sonst müsste man etwa Florence Foster Jenkins als beste Sängerin des 20. Jh. ansehen.

    Mir ist in der Diskussion bisher noch nicht ganz klar geworden, welchen Kunstbegriff die "Pseudo-Übertoleranten" lieber hätten oder was die Conclusio aus der These, man müsse das Kunstwerk prinzipiell gemeinsam mit dem Schöpfer betrachten, nun genau sein soll. Soll es heißen, wenn ein psychisch Kranker Werke schüfe, die niemand als Kunst ansieht, ist es trotzdem hervorragende Kunst, weil man ja die Krankheit des Künstlers mitbedenken muss, wenn aber ein "Normalo" die selben Werke schüfe, ist es Mist? Das hielte ich eigentlich für die wesentlich zynischere Position, die kranke Menschen ja nicht einmal ernst nimmt.

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Mir ist in der Diskussion bisher noch nicht ganz klar geworden, welchen Kunstbegriff die "Pseudo-Übertoleranten" lieber hätten oder was die Conclusio aus der These, man müsse das Kunstwerk prinzipiell gemeinsam mit dem Schöpfer betrachten, nun genau sein soll. Soll es heißen, wenn ein psychisch Kranker Werke schüfe, die niemand als Kunst ansieht, ist es trotzdem hervorragende Kunst, weil man ja die Krankheit des Künstlers mitbedenken muss, wenn aber ein "Normalo" die selben Werke schüfe, ist es Mist? Das hielte ich eigentlich für die wesentlich zynischere Position, die kranke Menschen ja nicht einmal ernst nimmt.

    Danke! So sehe ich das auch.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Lieber Christian, wenn Du mir die Worte so im Mund verdrehst, dass du sie dann leichthin als offenkundigen Unsinn abqualifizieren kannst, ist das eine Art der Diskussionsführung, auf die ich mich in diesem erlauchten Kreise gewiss nicht mehr einlassen werde. Was dabei herauskommt, haben wir bereits erlebt.

    Ihr könnt meinetwegen meine Beitrâge nun auch noch in die Ecke "Diskriminierung von Künstlern" schieben , wie es ja hier bereits begonnen wird. Ein sehr bequemer Nebeneffekt der Trennung von Kunstwerk und Künstler ist übrigens das Freisprechen von jedweder Verantwortung des Schöpfers fûr sein Produkt.. Wohl bekomm's!

    Was den gewollten und zu einem ästhetischen Ziel hin gerichteten Akt angeht, lieber Algabal, ist das für mich z.B. der Unterschied zwischen einem Geräusch und einem Ton. Das Geräusch entsteht ohne den Willen, damit ein âsthetisch ausgerichtetes Gebilde zu erzeugen (ich traue mich ja garn nicht mehr, Kunst zu sagen). Z.B. ein Autohupen oder Tür zuschlagen. Wenn ich aber dagegen ein Autohupen oder Tür zu schlagen mit einem Ziel erzeuge, das in ein Musikstück zu intergrieren oder ien Musikstück daraus zu machen,, ist das für mich ein Ton.
    Der Unterschied zwischen Kunsthandwerk und Kunst gehört ebenfalls dazu, weil hier das Ziel in erster Linie nciht ästhetisch, sondern ein Gebrauchswert ist, obschon Beides mit dem Willen, etwas "Schönes " zu schaffen entstand. Wenn ein Aschenbecher aussieht wie die Mona Lisa, aber sein Zweck(Willen des Machers...) die Nutzung als Aschenbecher ist , ist das für mich kein kunstwerk. Noch schlimmer: Wenn ein Künstler eine Toilette in einem Museum ausstellt und sagt das ist ein Kunstwerk, ist das für mich ein Kunstwerk. Eine Toilette im selben Museum, die als solche genutzt wird udn werden soll, ist kein Kunstwerk.
    Theorien dazu kann ich dir nciht mitliefern, ich habe leider nichts als meinen mehr oder weniger gesunden Menschenverstand und eine nicht ganz kleine Menge Lebenserfahrung zur Verfügung.

    Ich hoffe, du verstehst trotzdem ansatzweise, was ich ausdrücken wollte.

    F.Q.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Unterschiede in der Messlatte würde ich nicht in Bezug auf Produzenten machen, sondern in Bezug auf Rezipienten, etwa so:

    Der Produzent a3 des Produkts a2 will, dass :

    Alle B1 reagieren auf ihre Wahrnehmung von a2 in der Weise R1

    Alle B2 reagieren auf ihre Wahrnehmung von a2 in der Weise R2

    ...

    Beispiel:

    Als Holbein Heinrich VIII malte, wollte er,

    - dass Heinrich VIII sich in dem Bild als stolzen tollen Kerl erkannte

    - dass der Junge von der Straße (der nicht wusste, wie der König aussah) in dem Bild jemanden als fetten, aufgedunsenen usw. Kerl erkannte

    Ähnlich für Musik machbar:

    Ein Stück kann auf einen autistischen Menschen anders wirken (und wirken sollen) als auf einen Down-Syndrom-Betroffenen; und manches Stück ist für manche Leute gar nicht gedacht, z. B. eine Beethoven-Sonate nicht für Kakerlaken und vielleicht auch nicht für manche Menschen, und mit ihr mag in Bezug auf B1's etwas anderes bewirkt werden sollen als mit Bezug auf B2's. (Das kann man auch auf jeweils eine Interpretation eines Stücks durchspielen.) Klar, dass es dabei nicht um bewusst ausformulierte Intentionen geht. Aber es ist dem Produzierenden sicher im typischen Fall nicht egal, was er bei wem bewirkt. Wieder bei Bild. Kunst: Holbein wäre nicht mit jeder Wirkung zufrieden gewesen. Der König sollte sich als stolzen potenten Kerl erkennen und der Junge von der Straße vielleicht einen aufgedunsenen ...

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.

  • Hallo Queen,

    Lieber Christian, wenn Du mir die Worte so im Mund verdrehst, dass du sie dann leichthin als offenkundigen Unsinn abqualifizieren kannst, ist das eine Art der Diskussionsführung, auf die ich mich in diesem erlauchten Kreise gewiss nicht mehr einlassen werde. Was dabei herauskommt, haben wir bereits erlebt.

    Du hattest geschrieben, "ein Werk unabhängig vom Künstler zu sehen (sei) für (Dich) unmöglich". Ich habe daraus geschlossen, dass Du es für unmöglich hältst, ein Werk unabhängig vom Künstler zu sehen. Mit Erstaunen lese ich nun, dass ich mit dieser Interpretation Deiner Worte Dir diese "im Mund verdreht" hätte. Es wäre sehr nett, wenn Du mir erklären würdest, was denn Deine Worte statt dessen zu bedeuten hatten.

    Viele Grüße,


    Christian

  • Liebe Fairy,

    Zitat

    Fairy Queen:

    Ein sehr bequemer Nebeneffekt der Trennung von Kunstwerk und Künstler ist übrigens das Freisprechen von jedweder Verantwortung des Schöpfers fûr sein Produkt.. Wohl bekomm's!

    hier sprichst Du aber, wenn ich Dich recht verstehe, keine ästhetischen Kriterien, sondern das Problem der Beziehung zwischen Kunst und Ethik an, oder? Das ist jedoch noch wieder ein anderes, wenn auch sicherlich wichtiges, Feld.

    Viele Grüße,
    Federica

  • Ihr könnt meinetwegen meine Beitrâge nun auch noch in die Ecke "Diskriminierung von Künstlern" schieben , wie es ja hier bereits begonnen wird.

    Liebe Fairy Queen!

    Wozu diese Schärfe? Du durftest ja deine Meinung, dass Trennung von Kunstwerk und Künstler zu einer zynischen Kunstbetrachtung führe, auch anbringen. Für diskriminierend halte ich die oben ausgeführte Fiktion, die ja noch niemand in diesem Thread explizit ausgesprochen hat, nämlich dass Werke von psychisch kranken Menschen und von psychisch gesunden Menschen nach unterschiedlichen Maßstäben bewertet werden müssen, und die meiner Meinung nach eine mögliche Konsequenz deiner These ist. Da du aber, wie du jetzt geschrieben hast, den Kunststatus eines Werkes von der Intention seines Urhebers abhängig machst, trifft dich der Vorwurf ja nicht.

    Zitat

    Ein sehr bequemer Nebeneffekt der Trennung von Kunstwerk und Künstler ist übrigens das Freisprechen von jedweder Verantwortung des Schöpfers fûr sein Produkt.. Wohl bekomm's!

    Wer dreht da wem die Worte im Mund um? ;+) Alle, die sich hier für eine Trennung von Kunstwerk und Künstler ausgesprochen haben, haben das im Hinblick auf die ästhetische Bewertung des Kunstwerkes getan. Niemand hat den Schöpfer von jedweder Verantwortung für sein Produkt freigesprochen!

    Zitat


    Was den gewollten und zu einem ästhetischen Ziel hin gerichteten Akt angeht, lieber Algabal, ist das für mich z.B. der Unterschied zwischen einem Geräusch und einem Ton. Das Geräusch entsteht ohne den Willen, damit ein âsthetisch ausgerichtetes Gebilde zu erzeugen (ich traue mich ja garn nicht mehr, Kunst zu sagen). Z.B. ein Autohupen oder Tür zuschlagen. Wenn ich aber dagegen ein Autohupen oder Tür zu schlagen mit einem Ziel erzeuge, das in ein Musikstück zu intergrieren oder ien Musikstück daraus zu machen,, ist das für mich ein Ton.
    Der Unterschied zwischen Kunsthandwerk und Kunst gehört ebenfalls dazu, weil hier das Ziel in erster Linie nciht ästhetisch, sondern ein Gebrauchswert ist, obschon Beides mit dem Willen, etwas "Schönes " zu schaffen entstand. Wenn ein Aschenbecher aussieht wie die Mona Lisa, aber sein Zweck(Willen des Machers...) die Nutzung als Aschenbecher ist , ist das für mich kein kunstwerk. Noch schlimmer: Wenn ein Künstler eine Toilette in einem Museum ausstellt und sagt das ist ein Kunstwerk, ist das für mich ein Kunstwerk. Eine Toilette im selben Museum, die als solche genutzt wird udn werden soll, ist kein Kunstwerk.

    Hier stellt sich jetzt aber das Problem, dass schon Lotte angesprochen hat: Wie gehst du dann mit Werken um, deren Urheber zu einer Willensbekundung gar nicht fähig sind und deren Intentionalität beim Schaffen ihrer Werke nicht herausgefunden werden kann?

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Zitat

    Hier stellt sich jetzt aber das Problem, dass schon Lotte angesprochen hat: Wie gehst du dann mit Werken um, deren Urheber zu einer Willensbekundung gar nicht fähig sind und deren Intentionalität beim Schaffen ihrer Werke nicht herausgefunden werden kann


    Hierzu noch: Ich würde die Fälle unterscheiden:

    1) Das Werk a soll auf alle so-und-so auf die Weise R wirken (typisch für Kunst)

    2) Das Ding a wirkt auf alle so-und-so auf die Weise R (untypisch für Kunst, aber zutreffend auf manche schönen Dinge)

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.


  • Mir ist in der Diskussion bisher noch nicht ganz klar geworden, welchen Kunstbegriff die "Pseudo-Übertoleranten" lieber hätten oder was die Conclusio aus der These, man müsse das Kunstwerk prinzipiell gemeinsam mit dem Schöpfer betrachten, nun genau sein soll. Soll es heißen, wenn ein psychisch Kranker Werke schüfe, die niemand als Kunst ansieht, ist es trotzdem hervorragende Kunst, weil man ja die Krankheit des Künstlers mitbedenken muss, wenn aber ein "Normalo" die selben Werke schüfe, ist es Mist? Das hielte ich eigentlich für die wesentlich zynischere Position, die kranke Menschen ja nicht einmal ernst nimmt.

    Liebe Grüße,
    Areios

    Ich gebe Dir völlig recht, darum geht es nicht. Aber merkst Du nicht, dass DU implizit einen Maßstab mitbringst? Entweder Du betrachest als Mist - die auch meiner Meinung nach weniger zynische Variante - oder als Kunst, da es für einen Menschen mit Down-Syndrom Deiner Meinung nach eine große Leistung ist. In beiden Fällen, reden wir ständig über unser - die wir nicht selbt betroffen sind - Kunstverständnis.
    Sollte es Unterschiede geben in der Rezeption von "geisteskranken" Menschen und solchen, die es nicht sind, haben nicht auch "die" ein Recht darauf, festzulegen, was große Kunst ist und was nicht?
    Ich empfinde es auch nicht als Lippenbekenntnis, wenn ich weiterhin Bach, Beethoven, Debussy spiele. V.a. bei Autisten wird immer wieder versucht klar zu machen, dass es sich um Menschen handelt, die in einer anderen Welt leben. Eine Bekannte von mir beschäftigt sich sehr lange mit Autisten und weiß, dass man sich ihrer Welt und vice versa nur bis zu einem gewissen Grad nähern kann - auch wenn sie auf unsere Hilfe angewiesen sind. Ich wüsste nicht, was daran zynisch ist, DEREN Wertungsmaßstäbe zu tolerieren und trotzdem das zu hören/zu spielen was mir gefällt. Warum ein ausgelassenes SPiel eines Autisten auf einem Xylophon nicht in der Berliner Philharmonie erklingt noch in irgendeinem anderen Konzertsaal erklingt, liegt auf der Hand.

    Insofern kann man das "Ernst nehmen" eines gesitig behinderten / Autisten oder wie auch immer ebenso als Lippenbekenntnis indizieren, da vermutlich - und das ist eine Vermutung - nur sehr wenige Menschen es ernst nehmen würden, wenn ein geistig behinderter Mensch ihnen sagen würde, er nähme sie nicht für voll. Implizit läuft bei uns im Gehirn das Unterprogramm "Na ja, der muss es ja wissen".

    Hin und wieder darf man sich schon mal die Frage stellen: wer ist hier eigentlich normal oder eben nicht?

    :wink:
    Wulf

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Nach erneuter Überlegung revidiere ich meinen eben eingestellten Beitrag. Er geht davon aus, dass es eine unterschiedliche Rezeption zwischen geistig behinderten Menschen und solchen, die es nicht sind, gibt. Dies wäre erst einmal zu überprüfen. Sollten sich diesbezüglich aber tatsächlich Unterschiede auftun, wäre es aber durchaus überdenkenswert, ob Bewertung von Kunst nicht auch "ihr" Recht ist.

    Bitte daher meinen Beitrag erst einmal zu löschen.

    :wink:
    Wulf

    P.S. Zumal ich mir ziemlich sicher bin, dass ich die Toleranz, die ich fordere bzw. mir vorstelle, selbst kaum einlösen kann.

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Ich gebe Dir völlig recht, darum geht es nicht. Aber merkst Du nicht, dass DU implizit einen Maßstab mitbringst? Entweder Du betrachest als Mist - die auch meiner Meinung nach weniger zynische Variante - oder als Kunst, da es für einen Menschen mit Down-Syndrom Deiner Meinung nach eine große Leistung ist. In beiden Fällen, reden wir ständig über unser - die wir nicht selbt betroffen sind - Kunstverständnis.
    [...] Eine Bekannte von mir beschäftigt sich sehr lange mit Autisten und weiß, dass man sich ihrer Welt und vice versa nur bis zu einem gewissen Grad nähern kann - auch wenn sie auf unsere Hilfe angewiesen sind. Ich wüsste nicht, was daran zynisch ist, DEREN Wertungsmaßstäbe zu tolerieren und trotzdem das zu hören/zu spielen was mir gefällt. Warum ein ausgelassenes SPiel eines Autisten auf einem Xylophon nicht in der Berliner Philharmonie erklingt noch in irgendeinem anderen Konzertsaal erklingt, liegt auf der Hand.

    Insofern kann man das "Ernst nehmen" eines gesitig behinderten / Autisten oder wie auch immer ebenso als Lippenbekenntnis indizieren, da vermutlich - und das ist eine Vermutung - nur sehr wenige Menschen es ernst nehmen würden, wenn ein geistig behinderter Mensch ihnen sagen würde, er nähme sie nicht für voll. Implizit läuft bei uns im Gehirn das Unterprogramm "Na ja, der muss es ja wissen".

    Hin und wieder darf man sich schon mal die Frage stellen: wer ist hier eigentlich normal oder eben nicht?

    Na klar, Wulf, wir sind uns ja eh voll einig. (Wobei das ausgelassene Spiel eines Autisten auf einem Xylophon ja Kunst sein kann aber nicht qua Autismus ist. Sei es nun Kunst oder Nichtkunst, Existenzberechtigung hat es allemal. Und wenn man Kunst zu therapeutischen Zwecken verwendet, wird man den Schöpfer natürlich motivieren, weiterzumachen, auch wenn es im eigenen Verständnis nicht unter Kunst fällt. Aber Sinn und Ziel von Kunsttherapie ist ja nicht die Produktion großartiger Kunstwerke, ganz im Gegenteil: Verantwortungsbewusste Therapeuten werden die so entstandenen Werke sowieso nicht an die Öffentlichkeit bringen.)

    Aber wir werden es im übrigen wohl auch nicht schaffen, die ästhetischen Maßstäbe zweier Nichtautisten zur Deckung zu bringen. Ästhetik hat meiner Meinung nach zwangsläufig zumindest einen Rest an Subjektivität und wir werden wahrscheinlich zwischen zwei "Normalos" (dummes Wort, ich mag schon die Unterscheidung "normal-nichtnormal" nicht, aber wie soll man sonst schreiben?) bisweilen mehr Abweichungen im ästhetischen Empfinden finden als zwischen einem "Normalo" und einem "psychisch Kranken".

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Hast Du meinen Beitrag von 14:34 Uhr gelesen? Offensichtlich nicht ... ;+)

    Adieu,
    Algabal

    Aber selbstverständlich. Ich wollte Deinen Epilog nur noch einmal simplifiziert in die Runde werfen. Ganz kurz: sind wir nicht alle ein bisschen....capriccio?? ;+)

    :wink:
    Wulf

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Zitat

    haben nicht auch "die" ein Recht darauf, festzulegen, was große Kunst ist und was nicht?

    Das legt niemand fest, sondern darüber entsteht - wohl aufgrund einer Faszination hinreichend vieler Rezipienten - ein gemeinsames (implizites) Wissen in jeweils einer Kultur. Daher können sich Veränderungen in dieser Hinsicht durchsetzen.

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.

  • Zugegeben, das war unglücklich ausgedrückt, obgleich es genau das meint, was Du auf den Punkt bringst, kunnukun. Natürlich hat dieses System Lücken und was man genau unter "hinreichend viel" versteht, bleibt auch im Unklaren.

    "Gar nichts erlebt. Auch schön." (Mozart, Tagebuch 13. Juli 1770)

  • Fakt ist doch, wenn man sich überhaupt auf einen Zusammenhang zwischen einem Werk und den Lebensumständen seines Schööfers/seiner Schöpferin einlässt, dass dessen Wertung und Einschätzung der Würde und der Leistung desselben nur dann gelingen kann, wenn man sich auf das Werk und seine Qualität bezieht. Kein behinderter Mensch sieht sich ernstgenommen, wenn man ihn/sie nur wegen des Handicaps hofiert und tuschelt: Oh, sogar so einer kann mal was. Leute, die ständig damit konfrontiert sind, als abweichend von der Norm betrachtet zu werden, haben dafür ein ausgefeiltes Gespür. Ich denke, wir sind uns hier auch einig, dass das Kunstwerk zählt und die Menschen dahinter keiner sachfremden oder diskriminierenden Erwägung ausgesetzt werden dürfen, wenn man zu einem fundierten Ergebnis kommen will.

    Zum Kontext Künstler und Werk/e voneinander getrennt betrachten oder nicht: Beides als ausschließliche Position dürfte jeweils einer Gesamtwürdigung nicht gerecht werden. Schumann hat seine letzten Lebensjahre in der geschlossenen Psychiatrie verbringen müssen, was zu der Zeit alles andere als eine kunstfördernde Ungebung war, sondern eher dazu beitrug, die Kranken noch kränker werden zu lassen und ihn als Persönlcihkeit wahrscheinlich Schritt für Schritt demoniert hat. Das Ganze hatte ja auch seinen Vorlauf, denn seine Krankheit muss sicher auch lange vor dieser Einlieferung das Alltagsleben immer schwieriger gemacht haben. Insgesamt also eine alles andere als beschauliche Lebenssituation, die aber, so der lauf der Welt mit dem Tod aller Beteiligten vor langer Zeit endete. Ein Lebensschicksal, das Familie Schumann mit einigen Zeitgenossen teilte. Mehr ist da zunächst nicht.

    Trotzdem war er aber in der Lage (wie seine Frau auch) , Musik zu hinterlassen, die und heute noch etwas sagt, Dies ist blieb übrig, der Mensch selbst nahm den natürlichen Lauf. Diese Schöpfungen umfassend und stets auf die psychische Erkrankung zu beziehen, kann eigentlich eher selten erhellend sein. Da spricht eigentlich zunächst nur die Partitur. Man muss auch nicht selbst psychisch krank sein, um Schumann zu spielen, zu singen oder seine musikalische Aussage zu verstehen.

    Der Bezug zum Menschen und seiner Zeit kann jedoch trotzdem Zugänge zum tieferen Verständnis öffnen. Warum z. . hat er eine eine bestimmte Lyrik zur Vertonung gewählt? Solches Wissen kann sich sehr wohl auf die Interpretationsweise auswirken, vielleicht eine mit verstärkter Empathie.

    Ich denke, bei dieser komplexen Diskussion, über die ich mich sehr freue, kann man sich gegenseitig kaum in die Pfanne hauen, sondern vielleicht nur partiell nicht ganz umfassend verstehen, was jederzeit richtiggestellt werden kann.

    LG :wink:

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)

    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • Die Frage, ob ein bestimmter Mensch krank oder behindert ist, ist bisweilen ähnlich komplex wie die, ob es sich bei einem Gemälde, Buch oder Musikstück um Kunst handelt. Wir alle haben eine Vorstellung von den Begriffen Kunst, krank und behindert. Keiner von uns kann jedoch für einen dieser Begriffe eine Explikation angeben angeben.

    Ein Beispiel:
    Wann ist ein Mensch erwachsen? Wir alle sind uns einig,dass er es mit zwei Jahren noch nicht ist, mit dreißig jedoch schon. Niemand kann jedoch einen genauen Zeitpunkt angeben. Der Gesetzgeber muss dies tun, um den Preis einer gewissen Willkürlichkeit.

    Ähnlichist es mit der Kunst:
    Wann ist ein Bild ein Kunstwerk? Rembrandts Nachtwache ist eines. Die Bilder, die ich zu Schulzeiten im Kunstunterricht gemalt habe, sind es nicht. Dies ist uns allen klar. Dennoch ist eine Grenzziehung nicht möglich.
    Mit der Frage, wann ein Mensch krank oder behindert ist, verhält es sich ähnlich, auch wenn ich das nun nicht ausführe.

    Die Frage, was denn nun Kunst ist und was nicht, halte ich für einen guten Gesprächseinstieg. Wenn man sich an der Frage festbeißt, wird sie jedoch schnell zu einem sprachlichen Missverständnis.

    Bei der Frage, ob ein behinderter Mensch prinzipiell in der Lage ist, Kunst produzieren kann, schwirren so viele vorstellungsbehaftete aber dennoch unklare Begriffe umher, dass sie mir zu zur dialektischen Auseinandersetzung nicht zu taugen scheint.

    Beste Grüße,
    Falstaff

    Nachtrag: Anlass dieses Beitrages ist die Beobachtung, dass der Begriff Kunst hier vielfach hinterfragt wird, der Begriff behindert jedoch nicht. Als hätte behindert eine ähnlich klare Bedeutung wie Fahrradschloss.

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