Welche Stücke sind als Zugabe geeignet?
Gestern Abend habe ich ein Konzert des Juilliard String Quartet besucht. Es gab – in dieser Reihenfolge - Schuberts 13. Quartett, Bartoks 2. und Beethovens op. 135. Als Zugabe nach großem Jubel spielten die Herren erst den 4. Satz aus Haydns op. 20, 6 (Fuga con 3 Soggetti) und nach weiterem munteren Applaus abschließend den 2. Satz aus Mendelssohns op. 44, 1 (Menuetto).
Den Haydn empfand ich unwillkürlich als unpassend und nach einigem Stutzen über meine Reaktion als unschicklich nackt. Ich fand, man sollte diesen Haydn-Satz nicht aus dem Werkzusammenhang reißen und als Einzelsatz aufführen. Beim Mendelssohn-Satz hatte ich dieses Gefühl hingegen überhaupt nicht. Ich frage mich nun, warum?
Eine mögliche Erklärung ist: Der Haydn-Satz hatte das „Problem“, unmittelbar auf Beethovens op. 135 zu folgen. Gerade op. 135 ist aber ein klassisches Abschlusswerk. Kaum jemand wird damit einen Quartett-Abend beginnen. Danach sollte die Musik schweigen, finde ich, so dass ich ein Weitermusizieren als unrichtig, als ordnungswidrig empfinde – wobei ja andererseits gerade op. 135 im letzten Satz durchaus munter ist und somit eine Brechung der kammermusikalischen Weihe beinhaltet.
Ganz allgemein frage ich mich nun, welche Stücke als Zugabe geeignet sind (zunächst hatte ich die Frage nur auf Streichquartett-Abende bezogen, aber sie stellt sich ganz allgemein – am wenigsten noch für Sänger, meine ich)?
Spontan fallen mir als Kriterien für die Eignung als Zugabe ein:
Das Zugabestück sollte
- zum Hauptprogramm passen
- kurz sein
- gedanklich nicht allzu fordernd, also kein schweres Stück sein
Sollte das Zugabestück aber nach Möglichkeit komplett sein? Das Geben von mehreren Zugaben ist ja durchaus keine Seltenheit. Schon oft habe ich gedacht, dass es viel schöner wäre, ein ganzes Quartett als Zugabe zu bekommen als immer wieder – unterbrochen von Abtritt und Auftritt – einzelne Sätze. In der Klaviermusik ist meines Wissens Sokolov als großzügiger Zugabenspender bekannt. Ich sah vor Jahren im Fernsehen ein Konzert aus Paris. Applaus, Abtritt, Auftritt, Zugabe, Applaus, Abtritt, Auftritt, Zugabe, Applaus, Abtritt, Auftritt, Zugabe… Besonders eigentümlich wirkte das, weil Sokolov beim jeweiligen (Wieder)auftritt immer ans Klavier eilte, sich sehr schnell setzte und sofort zu spielen begann. Das Ganze hatte etwas von jpc-Schnippsel-Hören. In der Zeit hätte er auch ein komplettes Werk spielen können, meine ich. Allerdings dürfte sich die Problematik komplettes Werk ja oder nein eher beim Streichquartett als Klavier stellen. So eine Mazurka ist ja schnell gespielt. Für das Streichquartett gibt es hingegen weit weniger kurze Stücke. Oder ist es gerade nicht gewünscht, ein komplettes Werk zuzugeben? Vielleicht weil das Stück ansonsten den Zugabecharakter verlöre?
Eine besonders unpassende Zugabe fällt mir gerade ein: Vor etwa zwei Jahren habe ich Pintschers modernes, groß (u. a. mit vielfältigem Schlagwerk) besetztes Cellokonzert „Reflections on Narcissus“ gehört. Der vorzügliche Solist Alban Gerhardt spielte als Zugabe einen Satz aus J. S. Bachs sechster (oder fünfter, ich bin nicht sicher) Cellosuite. Ich fand das vollkommen unpassend. Oder stelle ich mich da an? Ist es in unserer Welt der Beliebigkeit völlig egal, ob das Zugabewerk stilistisch zum Hauptprogramm passt? Hauptsache es gibt eine Zugabe, weil nur so dem Konzert der so wichtige Event-Charakter verliehen wird? Ihr seht, manches Mal wäre keine Zugabe besser, meine ich.
Viele Grüße
Thomas