Kitsch - Werte und Normen in der Musik
Da ich im Thread "Tschaikowsky - der Tiefpunkt des 19. Jahrhunderts" mich auf einen allgemeineren Beitrag bezog,, will ich diesen auch am rechten Ort bringen. Über längere Zeit diskutierte ich mit Christian Köhn und anderen über den Begriff des Kitsch in der Musik. Da fand ich eine umfangreichere Auseinandersetzung mit dem Kitsch in Hans-Jürgen Feurichs "Werte und Normen in der Musik" (Wilhelmshaven 1999).
Nachdem der Autor Bedarf und Defizite im Bereich einer "Wertsuche", dabei auch gestiegene Orientierungsanforderungen festgestellt hat, bestimmt er das ästhetische Werturteil als den zentralen Gegenstand seiner Darlegung. Sowohl Dogmatismus wie Beliebigkeit führen zu einem frustrierten Abbruch der Diskussion. Begründbarkeit, Verbindlichkeit und Vermittelbarkeit des ästhetischen Werturteils sind Gegenstand der Erörterung.
Nach der Lektüre des theoretischen Teils stoße ich mich immer noch an der Gleichsetzung von Kitsch und Trivialkultur, auch wenn sie auf unterschiedlichen Ebenen geschieht. Da wird auf der einen Seite Hochkultur gegenüber gestellt der Trivialkultur, dem entspricht die Dichotomie von Kunst und Kitsch, etwa hier:
ZitatNach bis in die 60er Jahre orientieren sich die kulturellen und auch musikalischen Wertvorstellungen an der Polarität von Hochkultur und Trivialkultur, Kunst und Kitsch." (S. 86)
Als Kriterien werden genannt Originalität, Beziehungsreichtum, Stimmigkeit von Konstruktion und Ausdruck. Ist ein Musikstück nach diesen Kriterien nicht "gelungen" bzw. "stimmig", so ist es "wie der musikalische Kitsch 'verlogen', 'schäbig' oder 'dürftig'." (S. 26) Später wird noch als entscheidendes Kriterium die "Authentizität" genannt, doch dazu braucht es noch einiger Vorbemerkungen.
Um den Weg und die Begrifflichkeit - wie ich hoffe verständlich ohne zu verkürzen - zu machen, fasse ich hier zusammen, was für Feurich die Vorausetzungen sind:
Feurich unterscheidet (nach Früchtl: "Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil") drei Arten von Wahrnehnungsurteilen:
1. eine objektivierbare Empfindung,
2. eine Bewertung und damit eine subjektive Empfindung,
3. ein ästhetisches Urteil.
zum 1.: "Der Schlusssatz wurde in einem rasenden Tempo gespielt."
(Wenn in einer Musikkritik zu lesen ist, Bassa Selim habe in der Entführung" gesungen, so ist dieser Satz leicht falsifizierbar. Der Kritiker war entweder nicht in der Aufführung oder hat Osmin mit dem Bassa verwechselt - beides disqualifiziert seinen Bericht und gibt wenig Vertrauen in sein Urteil. Im Unterschied zu einem solchen sachlich gravierenden Fehler, kann es subjektive Unterschiede in der Auffassung geben, was "rasend" ist.)
zum 2.: "Der Schlusssatz wurde in einem rasenden Tempo gespielt, das mir zunehmend auf die Nerven ging."
Hier werden subjektive Vorlieben oder Abneigungen artikuliert, ebenso wie wenn man sagt "Atonale Musik klingt häßlich". Eine subjektive Empfindung wie "nervig" oder "häßlich" lässt sich weder bestätigen noch widerlegen.
Um allerdings konsensfähig zu sein, müssen solche Urteile sich auf Sachurteile stützen, die dem Gegenstand mindestens im Groben adäquat sind. (Dahlhaus: Analyse und Werturteil)
Damit ein Hörer mit seiner Bewertung ernst genommen wird, muss er den sachlichen Teil seines Urteils begründen, muss die musikalischen Sachverhalte durchschauen können.
zum 3.: "Dieser Schlusssatz ist besonders gelungen."
Wenn ein Musikkritiker dies äußert, "will er damit nicht nur eine Privatmeinung kundtun, sondern erwartet Zustimmung. Und zwar nicht nur durch gleichgesinnte Kammermusikfreunde, sondern von jedem, der ernsthaft bemüht ist, sich mit diesem Werk auseinanderzusetzen." (S. 44f.)
Es geht hier also nicht um einen Wahrheitsanspruch, sondern um einen Anspruch der Geltung, der Gültigkeit. Ästhetische Urteile können "nur dann wirklich akzeptiert werden, wenn sie von der je /eigenen, subjektiven/ Erfahrung der einzelnen Diskussionsteilnehme[r] her nachvollziehbar sind. [...] Ziel einer Wertdiskussion ist nicht die abschließende Übereinstimmung, sondern ihre unbegrenzte Fortsetzung. " (S. 46)
Feurich stellt im weiteren fest, dass ästhetische Urteile Evidenzurteile sind: "Sie müssen unmittelbar sinnlich einleuchten. Nicht nur Aussagen über Erfahrungen, sondern auch die Erfahrungen selber müssen zur Diskussion stehen." (S. 49)
Nun gibt es nicht nur die sinnliche Lust, es gibt beim Kunstschönen eben auch das "Werk des Menschen", das zum Zweck der reflektierenden Betrachtung gemacht worden ist. Unter kognitiven Aspekten nimmt die Formanalyse eine bevorzugte Stellung ein, denn "in aller schönen Kunst besteht das Wesentliche in der Form" (Kant). (S. 51)
Die tägliche Gebrauchsmusik wird es dann "banal", wenn sie ihre an alltägliche Lebenszusammenhänge gebundenen Wertmaßstäbe aufgibt und sich ästhetischen Erwartungen aussetzt, die sie ihrer funktionalen Charakteristik nach nur unzureichend erfüllen kann. "Trivialität wäre insofern auch die Folge einer geschichtlich entstandenen Tendenz zur 'Schaustellung und Deplacierung'." (S. 53)
Die Wertmaßstäbe sind kulturabhängig, sie stehen selbst nicht zur Disposition, weil sonst die gemeinsame Gesprächsbasis gefährdet wäre (S. 61) Das Einverständnis "muß [...] in dem Augenblick als gescheitert gelten, in dem unterschiedliche Auffassungen über das offenkundig werden, was man überhaupt unter Musik verstehen und welche Bedeutungen man ihr zuschreiben will." (S. 62)
Der Maßstab, den Feurich nun zugrunde legt, ist an Adorno orientiert. Er unterscheidet unterschiedliche grundlegende Handlungsabsichten
- Wissenschaftliches Erkennen hat den Maßstab der Wahrheit
(richtig/falsch)
- moralisch-praktisches Handeln den der Gerechtigkeit (gut/schlecht)
- ästhetisches Sich-Selbst-Äußern als Teil des expressiven Handelns das der subjektiven Wahrhaftigkeit bzw. der Authentizität. (S. 74)
Die Authentizität zielt auf den biografischen oder kultur- bzw. kunstgeschichtlichen Zusammenhang: "Im kunstgeschichtlichen Sinne läßt sich ein Werk dann als 'authentisch' oder 'stimmig' bezeichnen, 'wenn es in seiner kompositionstechnischen Zusammensetzung `authentischer´ Ausdruck dessen ist, was - metaphorisch gesprochen - die Stunde geschichtsphilosophisch geschlagen hat.' (ADORNO, Vf.)
Damit sind wir beim Begriff des Kitsches angelangt, denn wenn die Musik den Anspruch erhebt, ihn aber nicht erfüllt "authentisch" zu sein, dann ist sie "verlogen", sie ist Kitsch.
Bis dahin ;+)
Es grüßt herzlich
Peter