Kitsch - Werte und Normen in der Musik

  • Kitsch - Werte und Normen in der Musik

    Da ich im Thread "Tschaikowsky - der Tiefpunkt des 19. Jahrhunderts" mich auf einen allgemeineren Beitrag bezog,, will ich diesen auch am rechten Ort bringen. Über längere Zeit diskutierte ich mit Christian Köhn und anderen über den Begriff des Kitsch in der Musik. Da fand ich eine umfangreichere Auseinandersetzung mit dem Kitsch in Hans-Jürgen Feurichs "Werte und Normen in der Musik" (Wilhelmshaven 1999).

    Nachdem der Autor Bedarf und Defizite im Bereich einer "Wertsuche", dabei auch gestiegene Orientierungsanforderungen festgestellt hat, bestimmt er das ästhetische Werturteil als den zentralen Gegenstand seiner Darlegung. Sowohl Dogmatismus wie Beliebigkeit führen zu einem frustrierten Abbruch der Diskussion. Begründbarkeit, Verbindlichkeit und Vermittelbarkeit des ästhetischen Werturteils sind Gegenstand der Erörterung.

    Nach der Lektüre des theoretischen Teils stoße ich mich immer noch an der Gleichsetzung von Kitsch und Trivialkultur, auch wenn sie auf unterschiedlichen Ebenen geschieht. Da wird auf der einen Seite Hochkultur gegenüber gestellt der Trivialkultur, dem entspricht die Dichotomie von Kunst und Kitsch, etwa hier:

    Zitat

    Nach bis in die 60er Jahre orientieren sich die kulturellen und auch musikalischen Wertvorstellungen an der Polarität von Hochkultur und Trivialkultur, Kunst und Kitsch." (S. 86)

    Als Kriterien werden genannt Originalität, Beziehungsreichtum, Stimmigkeit von Konstruktion und Ausdruck. Ist ein Musikstück nach diesen Kriterien nicht "gelungen" bzw. "stimmig", so ist es "wie der musikalische Kitsch 'verlogen', 'schäbig' oder 'dürftig'." (S. 26) Später wird noch als entscheidendes Kriterium die "Authentizität" genannt, doch dazu braucht es noch einiger Vorbemerkungen.

    Um den Weg und die Begrifflichkeit - wie ich hoffe verständlich ohne zu verkürzen - zu machen, fasse ich hier zusammen, was für Feurich die Vorausetzungen sind:

    Feurich unterscheidet (nach Früchtl: "Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil") drei Arten von Wahrnehnungsurteilen:

    1. eine objektivierbare Empfindung,
    2. eine Bewertung und damit eine subjektive Empfindung,
    3. ein ästhetisches Urteil.

    zum 1.: "Der Schlusssatz wurde in einem rasenden Tempo gespielt."

    (Wenn in einer Musikkritik zu lesen ist, Bassa Selim habe in der Entführung" gesungen, so ist dieser Satz leicht falsifizierbar. Der Kritiker war entweder nicht in der Aufführung oder hat Osmin mit dem Bassa verwechselt - beides disqualifiziert seinen Bericht und gibt wenig Vertrauen in sein Urteil. Im Unterschied zu einem solchen sachlich gravierenden Fehler, kann es subjektive Unterschiede in der Auffassung geben, was "rasend" ist.)

    zum 2.: "Der Schlusssatz wurde in einem rasenden Tempo gespielt, das mir zunehmend auf die Nerven ging."

    Hier werden subjektive Vorlieben oder Abneigungen artikuliert, ebenso wie wenn man sagt "Atonale Musik klingt häßlich". Eine subjektive Empfindung wie "nervig" oder "häßlich" lässt sich weder bestätigen noch widerlegen.

    Um allerdings konsensfähig zu sein, müssen solche Urteile sich auf Sachurteile stützen, die dem Gegenstand mindestens im Groben adäquat sind. (Dahlhaus: Analyse und Werturteil)

    Damit ein Hörer mit seiner Bewertung ernst genommen wird, muss er den sachlichen Teil seines Urteils begründen, muss die musikalischen Sachverhalte durchschauen können.

    zum 3.: "Dieser Schlusssatz ist besonders gelungen."

    Wenn ein Musikkritiker dies äußert, "will er damit nicht nur eine Privatmeinung kundtun, sondern erwartet Zustimmung. Und zwar nicht nur durch gleichgesinnte Kammermusikfreunde, sondern von jedem, der ernsthaft bemüht ist, sich mit diesem Werk auseinanderzusetzen." (S. 44f.)

    Es geht hier also nicht um einen Wahrheitsanspruch, sondern um einen Anspruch der Geltung, der Gültigkeit. Ästhetische Urteile können "nur dann wirklich akzeptiert werden, wenn sie von der je /eigenen, subjektiven/ Erfahrung der einzelnen Diskussionsteilnehme[r] her nachvollziehbar sind. [...] Ziel einer Wertdiskussion ist nicht die abschließende Übereinstimmung, sondern ihre unbegrenzte Fortsetzung. " (S. 46)

    Feurich stellt im weiteren fest, dass ästhetische Urteile Evidenzurteile sind: "Sie müssen unmittelbar sinnlich einleuchten. Nicht nur Aussagen über Erfahrungen, sondern auch die Erfahrungen selber müssen zur Diskussion stehen." (S. 49)

    Nun gibt es nicht nur die sinnliche Lust, es gibt beim Kunstschönen eben auch das "Werk des Menschen", das zum Zweck der reflektierenden Betrachtung gemacht worden ist. Unter kognitiven Aspekten nimmt die Formanalyse eine bevorzugte Stellung ein, denn "in aller schönen Kunst besteht das Wesentliche in der Form" (Kant). (S. 51)

    Die tägliche Gebrauchsmusik wird es dann "banal", wenn sie ihre an alltägliche Lebenszusammenhänge gebundenen Wertmaßstäbe aufgibt und sich ästhetischen Erwartungen aussetzt, die sie ihrer funktionalen Charakteristik nach nur unzureichend erfüllen kann. "Trivialität wäre insofern auch die Folge einer geschichtlich entstandenen Tendenz zur 'Schaustellung und Deplacierung'." (S. 53)

    Die Wertmaßstäbe sind kulturabhängig, sie stehen selbst nicht zur Disposition, weil sonst die gemeinsame Gesprächsbasis gefährdet wäre (S. 61) Das Einverständnis "muß [...] in dem Augenblick als gescheitert gelten, in dem unterschiedliche Auffassungen über das offenkundig werden, was man überhaupt unter Musik verstehen und welche Bedeutungen man ihr zuschreiben will." (S. 62)

    Der Maßstab, den Feurich nun zugrunde legt, ist an Adorno orientiert. Er unterscheidet unterschiedliche grundlegende Handlungsabsichten

    - Wissenschaftliches Erkennen hat den Maßstab der Wahrheit
    (richtig/falsch)
    - moralisch-praktisches Handeln den der Gerechtigkeit (gut/schlecht)
    - ästhetisches Sich-Selbst-Äußern als Teil des expressiven Handelns das der subjektiven Wahrhaftigkeit bzw. der Authentizität. (S. 74)

    Die Authentizität zielt auf den biografischen oder kultur- bzw. kunstgeschichtlichen Zusammenhang: "Im kunstgeschichtlichen Sinne läßt sich ein Werk dann als 'authentisch' oder 'stimmig' bezeichnen, 'wenn es in seiner kompositionstechnischen Zusammensetzung `authentischer´ Ausdruck dessen ist, was - metaphorisch gesprochen - die Stunde geschichtsphilosophisch geschlagen hat.' (ADORNO, Vf.)

    Damit sind wir beim Begriff des Kitsches angelangt, denn wenn die Musik den Anspruch erhebt, ihn aber nicht erfüllt "authentisch" zu sein, dann ist sie "verlogen", sie ist Kitsch.

    Bis dahin ;+)

    Es grüßt herzlich

    Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Lieber Peter,

    "Feurich stellt im weiteren fest, dass ästhetische Urteile Evidenzurteile sind: "Sie müssen unmittelbar sinnlich einleuchten. Nicht nur Aussagen über Erfahrungen, sondern auch die Erfahrungen selber müssen zur Diskussion stehen." (S. 49)" (zitiert nach Peter Bixius)

    Du bist zwar nicht Herr H.-J. Feurich, aber kannst Du ein einfaches Beispiel geben? Persönlich halte ich "Evidenz" für problematisch, teilweise tabuisiernd bzw. oft als Versuch einer Immunisierung. Viele vormals sog. "evidente" Urteile entpuppten sich nach neuer Erkenntnislage als falsch.

    Bis dann.

  • RE: Kitsch - Werte und Normen in der Musik

    "Im kunstgeschichtlichen Sinne läßt sich ein Werk dann als 'authentisch' [...] bezeichnen, 'wenn es [...] `authentischer´ Ausdruck dessen ist [...]

    Sowas hat Adorno geschrieben?

    Ein Pferd läßt sich dann als »weiss« bezeichnen, wenn die Farbe seines Fells »weiss« ist - kurz gesagt: dann ist es ein Schimmel ... ;+)

    Was heißt »authentisch«?

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • RE: RE: Kitsch - Werte und Normen in der Musik

    Sowas hat Adorno geschrieben?

    Davon gehe ich aus, ich brauchte nur den Feurich (der steht im Moment in der Bibliothek), um das Zitat zu verifizieren, denn zitiert habe ich nach ihm, sonst hätte ich die Belegstelle angegeben. In meinem Textkorpus von Adorno habe ich das Zitat nicht gefunden, was noch nichts zu sagen hat. Gefunden habe ich allerdings so etwas wie

    Zitat

    Noch stehen zureichende Analysen dessen aus, was mit Grund Kitsch genannt wird, der musikalischen Äquivalente von Verlogenheit; nicht minder solche des Wahrheitscharakters authentischer Werke. Nachzufragen ist auch den historischen, gesellschaftlichen, innermusikalischen Bedingungen musikalischen Bewußtseins.

    [Band 14: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie: Nachwort. Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 11906
    (vgl. GS 14, S. 428)
    http://www.digitale-bibliothek.de/band97.htm ]


    Zitat

    Was heißt »authentisch«?

    Gute Frage, ich habe mal über 50 Belegstellen bei Adorno abgeklopft (es gibt da auch ein dickes Paket an Hinweisen im Stichwortverzeichni der GS), in der Regel benutzt er es im Sinne von "wahrhaftig", "die Wirklichkeit unverzerrt wiedergebend", "echt". Für die Bedeutung bei der zitierten Stelle möchte ich mich noch einmal im Kontext vergewissern. Aber die Tautologie in dem Zitat kommt durch Deine Auslassungen zu Stande, die Fortsetzung "was - metaphorisch gesprochen - die Stunde geschichtsphilosophisch geschlagen hat" darf man mE nicht unterschlagen.

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • RE: RE: RE: Kitsch - Werte und Normen in der Musik

    Aber die Tautologie in dem Zitat kommt durch Deine Auslassungen zu Stande, die Fortsetzung "was - metaphorisch gesprochen - die Stunde geschichtsphilosophisch geschlagen hat" darf man mE nicht unterschlagen.

    Da hast Du schon recht - obgleich die Tautologie IMO nicht erst durch die Auslassung zustande kommt, sondern durch die Auslassung nur zugespitzt oder skelletiert wird.

    Dass etwas »authentisch« ist, wenn es »authentischer Ausdruck« von irgendetwas ist (und dabei ist es ganz gleich, ob das Werk authentisch ist, wenn es authentischer Ausdruck dessen ist, was i-eine Stunde geschlagen hat oder der Saft authentisch ist, wenn er authentischer Ausdruck einer reif vom Baume gefallenen Orange ist) ist schon ganz klar ein argumentatives In-Sich-Geschäft.

    Mit dem Begriff der »Authentizität« hab ich zudem - das weißt Du ja aus alten Zeiten - ohnehin so meine Probleme.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Kitsch - Werte und Normen in der Musik


    Mit dem Begriff der »Authentizität« hab ich zudem - das weißt Du ja aus alten Zeiten - ohnehin so meine Probleme.

    Das geht mir ebenso. Umso erstaunter war ich, wie viele Belegstellen ich über die Volltextsuche fand. Leider ist die GS nicht vollständig, ich vermute sogar, dass Feurich aus einem Papier zitiert hat, das nicht so leicht bibliographisch zugängig ist.

    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • "Feurich stellt im weiteren fest, dass ästhetische Urteile Evidenzurteile sind: "Sie müssen unmittelbar sinnlich einleuchten. Nicht nur Aussagen über Erfahrungen, sondern auch die Erfahrungen selber müssen zur Diskussion stehen." (S. 49)" (zitiert nach Peter Bixius)

    Du bist zwar nicht Herr H.-J. Feurich, aber kannst Du ein einfaches Beispiel geben? Persönlich halte ich "Evidenz" für problematisch, teilweise tabuisiernd bzw. oft als Versuch einer Immunisierung. Viele vormals sog. "evidente" Urteile entpuppten sich nach neuer Erkenntnislage als falsch.

    Aber gibt's das nicht zumindest in der Geometrie? Man krakelt mit bröckeliger Kreide komische Striche, die ein mehr als kümmerliches Abbild der wirklichen Verhältnisse sind. Trotzdem leuchtet einem anhand dieses Beispiels etwa der Satz des Pythagoras unmittelbar ein.

    :wink:

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Feurich stellt im weiteren fest, dass ästhetische Urteile Evidenzurteile sind: "Sie müssen unmittelbar sinnlich einleuchten. Nicht nur Aussagen über Erfahrungen, sondern auch die Erfahrungen selber müssen zur Diskussion stehen." (S. 49)

    Nun gibt es nicht nur die sinnliche Lust, es gibt beim Kunstschönen eben auch das "Werk des Menschen", das zum Zweck der reflektierenden Betrachtung gemacht worden ist. Unter kognitiven Aspekten nimmt die Formanalyse eine bevorzugte Stellung ein, denn "in aller schönen Kunst besteht das Wesentliche in der Form" (Kant). (S. 51)


    Da ich mich mit
    diesem Thema gerade intensiv auseinandersetze:


    Kannst Du, lieber Peter, oder wer auch immer, mir bitte erklären, was hier mit dem "Werk des Menschen" im Gegensatz zum sinnlich Erfahrbaren gemeint ist? Ich dachte bisher, ein Kunstwerk sei immer sinnlich erfahrbar und ein Kunstwerk sei immer das Werk eines Menschen. Dass der Weg dann vom sinnlich Erfahrbaren zur kognitiven Reflektion und zu komplexen intellektuellen und psychsichen Reaktionen und Bewertungen führt, wusste ja schon Platon.
    Woher stammt und in welchem Zusammenhang steht das Kant-Zitat? Ich bitte ausserdem herzlich um die Belegstelle.

    Wenn das Wesentliche in der Form liegt, was ist dann die andere Seite, ergo das Unwesentliche?


    Was das "Authentische" angeht: ich hatte schon immer ein grosses Problem mit den Nicht-Authentischen. Besonders bei Menschen. Ergo auch bei Künstlern.

    Wie steht es mit authentischem Kitsch?

    Authentischer Kitsch, der ehrlich und aus vollem Herzen, sprich mit ganzer Überzeugung und ohne vorherrschende ausserkünstlerische Manipulations/Demagogikabsichten produziert wird, fällt nämlich dann nciht in die hier vertretene Theorie.

    Tschaikowsky ist wenn überhaupt Kitsch(was ich keinesfalls finde, Eugen Onegin st ein phantastisches Kunstwerk!) immerhin authentischer Kitsch.


    Puccini gehört für mich schon eher zum Kitschbegriff des Herrn Feurich.......

    F.Q.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Aber gibt's das nicht zumindest in der Geometrie? Man krakelt mit bröckeliger Kreide komische Striche, die ein mehr als kümmerliches Abbild der wirklichen Verhältnisse sind. Trotzdem leuchtet einem anhand dieses Beispiels etwa der Satz des Pythagoras unmittelbar ein.

    Der Satz nicht, aber die einzelnen Beweisschritte, ja. Nicht zuletzt daher kommt die Idee, es gäbe Urteile, die sich durch solch eine Eigenschaft auszeichnen. Die große Frage ist eben, wie oft so etwas außerhalb von Logik, Geometrie usw. vorkommt. Die Übertragung auf sinnliches Erscheinen (hier noch plausibel, ich kann bezweifeln, dass das Ruder geknickt ist, aber es scheint evidenterweise geknickt) und ästhetische Wertung geht sicher nicht ohne weiteres und müsste erläutert werden.

    Kater Murr

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Was das "Authentische" angeht: ich hatte schon immer ein grosses Problem mit den Nicht-Authentischen. Besonders bei Menschen. Ergo auch bei Künstlern.

    Und ich hatte schon immer ein grosses Problem damit, wenn Dinge holterdipolter durcheinandergeworfen werden ;+) : Oben war die Rede vom »Begriff der Authentizität« - und solange der Begriff nicht geklärt ist, ist die Rede von »authentischen Menschen« (was bitte soll das sein? - Was wären »unauthentische Menschen«?), »authentischen Künstlern« und »authentischer Kunst« (das Gegenbild zu diesem Ideal war ja mal - nur so zur Erinnerung - eine zeitlang die »verjudete« oder »entartete Kunst«) ein ziemlich stumpfer (oder ziemlich fataler) Kampfbegriff.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Authentischer Kitsch, der ehrlich und aus vollem Herzen, sprich mit ganzer Überzeugung und ohne vorherrschende ausserkünstlerische Manipulations/Demagogikabsichten produziert wird, fällt nämlich dann nciht in die hier vertretene Theorie.

    Tschaikowsky ist wenn überhaupt Kitsch(was ich keinesfalls finde, Eugen Onegin st ein phantastisches Kunstwerk!) immerhin authentischer Kitsch.

    Ich hätte da jetzt eher an Alexander Marcus gedacht. :hide:

    :wink:

    P.S.

    Zitat

    Kannst Du, lieber Peter, oder wer auch immer, mir bitte erklären, was hier mit dem "Werk des Menschen" im Gegensatz zum sinnlich Erfahrbaren gemeint ist? Ich dachte bisher, ein Kunstwerk sei immer sinnlich erfahrbar und ein Kunstwerk sei immer das Werk eines Menschen. Dass der Weg dann vom sinnlich Erfahrbaren zur kognitiven Reflektion und zu komplexen intellektuellen und psychsichen Reaktionen und Bewertungen führt, wusste ja schon Platon.
    Woher stammt und in welchem Zusammenhang steht das Kant-Zitat? Ich bitte ausserdem herzlich um die Belegstelle.

    Wenn das Wesentliche in der Form liegt, was ist dann die andere Seite, ergo das Unwesentliche?

    Sinnlich erfahrbar im weitesten Sinne muss sowohl das Kunstwerk wie auch ein Gegenstand der sinnlichen Lust sein. Mir wurde Kants Unterscheidung zwischen Kunstschönem und sinnlicher Lust (steht in der Kritik der Urteilskraft, glaube ich) mal an der Differenz zwischen einem Apfel und einem gemalten Apfel erläutert. Den realen Gegenstand findet man appetitlich und man isst ihn auf, während der Genuss des gemalten Apfels sich an der Ausführung des Sujets aufhält.

    Aber der gemalte Apfel wird eigentlich nicht nur aufgrund von formalen Kriterien reizvoll gefunden werden, sondern die Lust auf einen leckeren Apfel wird mitschwingen. Sonst wäre der "gemeinte" sinnliche Gegenstand völlig gleichgültig, und es gäbe keinen nennenswerten Unterschied zwischen gegenständlicher und abstrakter Malerei.

    Wie weit Kant das Kunstschöne der sinnlichen Lust entgegensetzt, weiß ich aber nicht.

    :wink:

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  • Und ich hatte schon immer ein grosses Problem damit, wenn Dinge holterdipolter durcheinandergeworfen werden ;+) : Oben war die Rede vom »Begriff der Authentizität« - und solange der Begriff nicht geklärt ist, ist die Rede von »authentischen Menschen« (was bitte soll das sein? - Was wären »unauthentische Menschen«?), »authentischen Künstlern« und »authentischer Kunst« (das Gegenbild zu diesem Ideal war ja mal - nur so zur Erinnerung - eine zeitlang die »verjudete« oder »entartete Kunst«) ein ziemlich stumpfer (oder ziemlich fataler) Kampfbegriff.

    Adieu,
    Algabal


    Ich bin zwar nicht FQ, aber ein "authentischer Mensch" wird wohl einer sein, der sich nicht verstellt, also sich so gibt, wie er zumindest glaubt, zu sein.
    :D
    Wie kann man das auf ein Kunstwerk umlegen? Kann ein Künstler vorhaben, etwas zu schaffen, was vorgibt, etwas anderes zu sein, als es ist?
    Ist eine "vordergründig hingemurkste Polyphonie" eine "vorgetäuschte geistige Tiefe"?
    Soweit meine unmaßgeblichen Gedanken-Versuche hierzu.
    :wink:

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)


  • Ich bin zwar nicht FQ, aber ein "authentischer Mensch" wird wohl einer sein, der sich nicht verstellt, also sich so gibt, wie er zumindest glaubt, zu sein.

    Ah, so im Sinne einer Deckungsgleichheit von Augenschein und tatsächlichem Sein.

    Wie mißt man dann Authentizität? Gibt es authentische Lügner ? - etwa wenn jemand den Anschein macht, er würde lügen und er es dann auch tatsächlich tut/getan hat? Dann wäre er so als Mensch unheimlich authentisch (Deckungsgleichheit von Schein und Sein), obgleich seine Aussagen, in denen Schein und Sein auseinanderklaffen, ziemlich unauthentisch sind.

    Ich glaube, man täte besser daran diesen Begriff - wenn man ihn denn so fasst - besser i-wo zu vergraben. Vielleicht wäre es mal sinnvoll darüber nachzudenken, wie so etwas wie »Authentizität« als gesellschaftlich anschlussfähiges Kriterium überhaupt konstruiert ist und gemäß welcher Regeln soetwas wie »Authentizität« dann produziert werden kann.

    Einfach so gegeben ist »Authentizität« jedenfalls nicht - und zwar weder als Schein noch als Sein.

    Soweit meine unmaßgeblichen Gedanken-Versuche hierzu.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Gibt es authentische Lügner ?

    Ich würde sagen "DIE AKADEMIE für Führungskräfte" würde das bejahen:
    http://www.die-akademie.de/glossarbegriff…Authentizit%E4t
    :D

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  • Ich würde sagen "DIE AKADEMIE für Führungskräfte" würde das bejahen:
    http://www.die-akademie.de/glossarbegriff…Authentizit%E4t
    :D

    Demnach besitzt der Lügner eine Glaubwürdigkeit zweiter Ordnung, insofern als er seine Unglaubwürdigkeit glaubwürdig zu präsentieren weiss und somit »seine gesamte Erscheinung authentisch« ist, da bei ihm »rationale und emotionale, verbale und nonverbale, sichtbare und nicht sichtbare Signale und Informationen übereinstimmen« ...

    Hier ist der Mensch als Lügner authentisch, nicht aber der Lügner als Mensch - oder ist es umgekehrt?

    Mein Beispiel oben ging aber anders - da ging's um True Lies ...

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Nein, die authentische Führungskraft glaubt an ihre Lügen, während sie diese von sich gibt.

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  • Nein, die authentische Führungskraft glaubt an ihre Lügen, während sie diese von sich gibt.

    Dann lügt sie nicht.

    Es grüßt Gurnemanz

    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Nein, die authentische Führungskraft glaubt an ihre Lügen, während sie diese von sich gibt.

    :juhu:

    Damit wäre die Führungskraft aber nur beim Blick in den Spiegel authentisch. Das wäre so eine Art One-(Wo)Man-Authentizität. Das ist aber nicht das, was Fairy meint - glaube ich ...

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Für mich ist das kein "diskursives Konstrukt" sondern tatsächlich die Übereinstimmung von Augenschein und Sein.
    Was ein authentischer Mensch ist?
    Einer, den man an dem, was er sagt oder tut oder sonstwie nach aussen aussendet, messen kann.
    Was ein un-authentischer Mensch ist?
    Sag ich besser nicht.
    Politische Tâtigkeit und alles Andere, was taktisches Larvieren verlangt ist wohl der sicherste Weg unauthentisch zu werden.
    Jemand, der überzeugt ist, dass er die Wahrheit sagt und mit sich im Einklang ist, objektiv aber lügt, ist authentisch. Er verkauft nichts nach aussen, was im Widerspruch zu seiner eigenen Wahrheit und seinem Sein steht. Wer bewusst lügt, ist nciht authentsich. Was ist daran kompliziert?
    Wagner war wahrscheinlich total authentisch, um mal einen Komponisten zu nennen.

    Ich möchte aber wirklich noch mal bitten, meine Fragen oben zu Peters Eingangspost beantworten, die sind mir wichtig. Dank schonmal an Tyras.
    F.Q.

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