Kitsch - Werte und Normen in der Musik

  • So gesehen gibt es so etwas wie »Authentizität« eben selbst nur als historische Variable resp. als diskursives Konstrukt oder als Kreatur diskursiven Praktiken.


    Sei doch mal so nett, und erkläre mir, was "diskursiv" heißt.
    Im netten Web fand ich z.B., dass es das Gegenteil von intuitiv sei.
    Authentizität, wie es FQ oder die "Führungskräfte-Akademie" sieht, scheint aber eher etwas ziemlich Intuitives zu sein.
    Jemand wirkt authetisch oder nicht (ich frage mich, ob FQ mich authentisch fände, obwohl ich idR eher zu ehrlich bin als andersrum). So wie Charme. Eine Bauchkategorie.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)


  • Sei doch mal so nett, und erkläre mir, was "diskursiv" heißt.

    O.k., ganz kurz. Ich hab den Begriff »diskursiv« hier im Sinne der auf Michel Foucault zurückgehenden Diskurstheorie verwendet. Das ist nun tatsächlich eine ziemlich komplexe Geschichte , die sich kaum in ein Posting pressen läßt - ich versuch das trotzdem mal ganz verkürzt. Die Diskurstheorie geht davon aus, dass gesellschaftliche Wirklichkeit über »Diskurse« konstituiert oder eben diskursiv erzeugt wird. Ein Diskurs ist dabei ein - historisch-dynamisches, zugleich aber (und das ist nur vordergründig ein Widerspruch) relativ stabiles - Regelsystem, nach dem innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft »wahre Aussagen« produziert werden können. Dieses Regelsystem besteht nun nicht irgendwo auf einer abstrakten Ebene oder ist gar in einem Gesetzbuch oder in einem Regelkatalog festgelegt, sondern manifestiert sich immer wieder neu im regelgerechten Gerede. Damit fasst bzw. integriert der Diskurs gleichzeitig das nach diesem Regelsystem produzierte Aussagesystem, in dem sich der Regelapparat selbst manifestiert. Alles klar?

    Wenn man mal eine Definition versuchen wollte, die sich (relativ locker und unorthodox an Foucault anlehnt) könnte man das ungefähr so fassen:

    Der Begriff Diskurs beschreibt konventionalisierte und institutionell sanktionierte kollektive Rede, die in verschiedenen sozialen Milieus und Kommunikationssituationen unterschiedlicher Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit unterliegen kann. Der Diskurs selbst ist dabei als zirkuläre Größe zu begreifen: Er umfaßt zum einen die Menge aller Regeln, nach denen innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft wahre Aussagen formuliert werden können, und zum anderen sämtliche diesen Regeln gemäß formulierten Aussagen. Somit ist der Diskurs nicht jenseits seiner textuellen (oder medialen) Realisierung präsent, sondern wird gleichermaßen in den Aussagen produziert, wie er selbst diese Aussagen produziert. (©Algabal :D )


    Zitat

    Authentizität, wie es FQ oder die "Führungskräfte-Akademie" sieht, scheint aber eher etwas ziemlich Intuitives zu sein.
    Jemand wirkt authetisch oder nicht (ich frage mich, ob FQ mich authentisch fände, obwohl ich idR eher zu ehrlich bin als andersrum). So wie Charme. Eine Bauchkategorie.

    Dagegen ist auch nichts einzuwenden, den Begriff so zu sehen. Die Frage ist die Tauglichkeit dieses Begriffs von »Authentizität« im Hinblick auf das Problem, das Peter in seinem Eingangsposting angesprochen hat.

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Danke, ich denke, ich habe eine Ahnung.


    Dagegen ist auch nichts einzuwenden, den Begriff so zu sehen. Die Frage ist die Tauglichkeit dieses Begriffs von »Authentizitäts« im Hinblick auf das Problem, das Peter in seinem Eingangsposting angesprochen hat.


    Interessanterweise findet sich im Eröffnungsbeitrag

    Zitat

    Der Maßstab, den Feurich nun zugrunde legt, ist an Adorno orientiert. Er unterscheidet unterschiedliche grundlegende Handlungsabsichten
    […]
    ästhetisches Sich-Selbst-Äußern als Teil des expressiven Handelns das der subjektiven Wahrhaftigkeit bzw. der Authentizität.


    Wenn Wahrheit nach Deiner Begrifflichkeit ohnehin etwas Diskursives ist, dann sehe ich aber keinen Widerspruch zwischen diskursiv und intuitiv, eher würde die Intuition durch den Diskurs unbewußt gesteuert und "subjektive Wahrhaftigkeit" und "Authentizität" wären gleichermaßen diskursiv wie intuitiv.

    Ist das jetzt völliger Blödsinn?

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  • Die Diskussion von "Kitsch" über den Punkt der Authentizität ist sicherlich ein interessanter Aspekt, aber für mich kommt noch etwas ganz anderes hinzu. "Kitsch" ist für mich immer auch die versuchte Darstellung des Schönen bei mangelnder Ökonomie in der Verwendung der Mittel. Diese fehlende Kontrolle des Materials scheint mir ein wichtiges Kennzeichen des "Kitsches" zu sein.

    Nehmen wir als Beispiel mal die "Sissi"-Filme, sozusagen ein Inbegriff des Kitsches. Natürlich drückt sich hierdrin eine unglaubliche Weltflucht aus, und statt sich mit der traurigen Realität des Nazi-Übels auseinanderzusetzen, hat man sich in den 50er Jahren lieber eine irreale Phantasie-Version des österreichischen Kaiserreiches gebastelt. Aber macht das allein die Filme schon so kitschig? Oder ist es vielmehr der Umstand, daß die Schönung des Sujets vollkommen maßlos erfolgt und man heile Welt 90 min. lang vollkommen undosiert um die Ohren gehauen bekommt?

    Gegenbeispiel: Mozart, Klarinettenkonzert, 2. Satz. Wunderschön, aber m. E. nicht kitschig. Warum nicht? Weil Mozart seine Stilmittel dosiert einsetzt und nicht minutenlanges Streichergesülze bringt, und weil in der Kantilene der Klarinette nicht nur Streben nach eingängiger Schönheit zu finden ist, sondern auch eine melancholische Beimischung, eine Entrücktheit. Mozart dosiert seine Mittel, er geht bedacht mit ihnen um, und er fügt der Schönheit noch eine Geschmacksnote hinzu - kein Kitsch.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Wenn Wahrheit nach Deiner Begrifflichkeit ohnehin etwas Diskursives ist, dann sehe ich aber keinen Widerspruch zwischen diskursiv und intuitiv, eher würde die Intuition durch den Diskurs unbewußt gesteuert und "subjektive Wahrhaftigkeit" und "Authentizität" wären gleichermaßen diskursiv wie intuitiv.

    Ist das jetzt völliger Blödsinn?

    Nein, das ist überhaupt kein Blödsinn!

    Ich muss da mal was drüber nachdenken - aber mal so »aus der Hüfte geschossen«: die Vorstellung eines Konnexes von »subjektiver Wahrhaftigkeit« und »Authentizität« ist ein Ergebnis diskursiver Praktiken - auch die »intuitive Wahrnehmbarkeit« des »Authentischen« ist eine Kreatur des Diskurses, denn nur weil wir wissen (und dieses Wissen ist diskursiv erzeugt) dass »Authentizität« intuitiv wahrnehmbar sei, nehmen wir sie intuitiv wahr. Oder so ähnlich ...

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • "Kitsch" ist für mich immer auch die versuchte Darstellung des Schönen bei mangelnder Ökonomie in der Verwendung der Mittel.[...]Aber macht das allein die Filme schon so kitschig? Oder ist es vielmehr der Umstand, daß die Schönung des Sujets vollkommen maßlos erfolgt und man heile Welt 90 min. lang vollkommen undosiert um die Ohren gehauen bekommt?


    Maßlose Anhäufung von Schönheit scheint mir in der Kunst aber auch zu finden zu sein.
    Oder genügen hier und da ein paar Fliegen, um Melancholie zu erzeugen, und in das nur Kunst, weil man bei manchen Blüten christliche Symbolik vermuten kann?

    [Blockierte Grafik: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6d/Bouquet_(Jan_Brueghel_the_Elder).jpeg]
    Jan Brueghel, Alte Pinakothek

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  • Ich finde das Bild überhaupt nicht überladen oder gar kitschig. Der Blumenstrauß ist nur in der Mitte kanpp über dem Topf überbordend (was realistisch und nicht übertrieben ist), nach oben hin franst er sozusagen aus, und die abgefallenen Blüten kennzeichnen das Gebilde als vergänglich. Wenn Du zeigen willst, daß auch große Kunst Schönheit auf vollkommen maßlose Art und Weise darstellt, wirst Du wohl ein anderes Beispiel brauchen. ;+)

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Der Blumenstrauß ist nur in der Mitte kanpp über dem Topf überbordend (was realistisch und nicht übertrieben ist)


    Naja, realistisch ist da gar nichts (außer die fantastische Wiedergabe der Einzelblüte).
    Die Anordnung der Blüten erzeugt in der Fläche den maximalen Eindruck, ist räumlich unmöglich.
    Außerdem sind Blüten vereinigt, die zu unterschiedlichen Zeiten blühen.
    Natürlich ist das große Kunst, und die Anordnung der Blüten und sonstigen Details perfekt.
    Aber Ökonomie würde ich dem Bild nicht andichten. Und die Fülle ist durchaus maßlos, die beste Art, das zu rezipieren, ist, die Nase recht nahe an das Bild heranzuführen und sich in der Fülle zu verlieren, von Detail zu Detail zu wandern.

    Der Hinweis auf die Vergänglichkeit ist eher ein Einwand, den ich für richtig halte. Wie ist das bei den Sissi-Filmen, die gehen doch sogar schlecht aus, oder?

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  • Ohne sicher zu sein, ob ich die Details richtig verstehe, sehe ich die Gefahr, dass man mit Charakterisierungen "nur ein Konstrukt/Ergebnis diskursiver Praktiken usw." plausible und wichtige Unterscheidungen einreißt. Wenn das "nur ein..." nämlich entlarvend gemeint sein soll, muss man sagen, welche Strukturen demgegenüber "wahr", "authentisch", was auch immer sind, oder was das Material ist, dass derart diskursiv geformt wird. Wenn das "nur ein..." aber auf alles, was hier interessiert, zutrifft (was im Falle ästhetischer Unterscheidungen gar nicht unplausibel ist), kann man es "ausklammern und rauskürzen", dann ist es im Grunde geschenkt und wir suchen eben nach Kriterien, Abgrenzungen, Unterscheidungen _innerhalb_ dieser Konstrukte. Und die können nicht mit Hinweis auf den prinzipiellen Konstruktcharakter entlarvt oder dekonstruiert werden, weil der eh auf "alles" zutrifft.
    (Sorry, wenn das trivial ist oder ein Mißverständnis)

    Die historische Bedingtheit würde jemand wie Adorno ja keinesfalls leugnen. Der Kitschvorwurf besteht ja nicht zuletzt darin, dass Phrasen, Floskeln, Harmonien, die in einem anderen Kontext, zu einer anderen Zeit nicht kitschig waren sondern genuine :hide: Ausdrucksmittel, inzwischen so abgenutzt sind, dass bestimmte, vergleichsweise unoriginelle und auf bestimmte "billige" Effekte zielende Verwendungen dieser musikalischen Mittel eben zu Kitsch führen. Selbstverständlich geschieht solch eine Einordnung bei Adorno vor einer, wohl aus unserer Sicht zu starken und einseitigen Theorie über (musik)historische Abläufe. Das spricht aber nicht dagegen, dass ähnliche, etwas weniger enge Ansätze, unplausibel sein müssen. Und völlig unplausibel oder bloßes nachträgliches Konstrukt ist Adornos Einordnung ja keineswegs. Brahms hätte, ohne entsprechende Geschichtsphilosophie Tschaikowsky wohl ziemlich ähnlich bewertet; ebenso hat ein konservatiker Kritiker wie Tovey getan, der die Pathetique verteidigt, die 5. aber als "light music", die "great" zu sein vorgibt, eingeordnet, wenn ich recht erinnere.

    Kater Murr (Miauen ist authentisch)

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Die Diskussion von "Kitsch" über den Punkt der Authentizität ist sicherlich ein interessanter Aspekt, aber für mich kommt noch etwas ganz anderes hinzu. "Kitsch" ist für mich immer auch die versuchte Darstellung des Schönen bei mangelnder Ökonomie in der Verwendung der Mittel. Diese fehlende Kontrolle des Materials scheint mir ein wichtiges Kennzeichen des "Kitsches" zu sein.

    Leider habe ich gerade zu wenig Zeit. Deshalb nur für den Moment nur eine kurze und unausgereifte Bemerkungen zu Kunst vs. Kitsch im Kontext der Problemfelder »Authentizität« (etwa hinsichtlich echter oder vorgetäuschter Gefühle) und der Ökonomie in der Verwendung der Mittel.

    Wenn man die Frage der »Authentizität« einmal mit Blick auf die Differenz von »echten« und »falschen« bzw. dann »authentischen« und »vorgetäuschten« Gefühlen zum Kriterium einer Unterscheidung zwischen Kunst und Kitsch erheben wollte, müsste man dies ganz klar in einer historischen Perspektive tun und dabei das jeweils zeitgenössisch gültige Verständnis davon zugrunde legen, was ein »echtes« und was ein »vorgetäuschtes« Gefühl ist. Wenn man dies tut kommt etwa das Barock überhaupt nicht in den Verdacht des Kitsches, da es dort diese Differenz schlicht gar nicht gibt. Die barocke Ästhetik folgt der Affektenlehre, dem Gesetz von Rhetorik und Affekt, gewissermaßen also einer Grammatologie der Affekte (und nicht der Gefühle). Die Frage von »echten« und »falschen« Gefühlen stellt sich schlicht nicht, weil jeder Affekt einem grammatologischen Gesetz folgt. Die Barocke Logik wäre eher: jedes Gefühl ist vorgetäuscht und deshalb echt, ergo authentisch. Für uns vielleicht Paradox - aber wir sind halt echt weit weg von der Vormoderne.

    Wenn überhaupt könnte dieses »Gefühlskriterium« zur Unterscheidung von Kunst und Kitsch folglich ausschließlich für die Ästhetik der Moderne vor dem hier gültigen Authentizitätsdispositiv nutzbar gemacht werden. Allerdings bin ich mir nicht sicher inwiefern dieses Kriterium objektivierbar und damit tatsächlich auch operationalisierbar ist. Denn die »Gefühle« stehen ja nicht im Text, sind nicht ins Bild gemalt oder in eine Partitur geschrieben. Sie entstehen im performativen Akt der Rezeption/Interpretation (die wiederum von historischen und sozialen Rahmungen abhängen). So gesehen kann der Interpret jedes Werk verkitschen, indem er es emotional überlädt. »Kitsch« ist das Werk selbst dadurch aber noch lange nicht sondern nur seine konkrete situationale Interpretation/Rezeption/Präsentation.

    Inwiefern ist dieses »Gefühlskriterium« resp. das Kriterium der »Authentizität« einer Differenzierung von Kunst und Kitsch dann aber zuträglich? Ich denke überhaupt nicht.

    Derowegen sollte man vielleicht eher an informationstheoretisch argumentierende Definitionen von »Kunst« und »Kitsch« denken, wie sie u.a. Abraham Moles oder Vilém Flusser formuliert haben. Hier wird »Kunst« als Moment ästhetischer Information gefasst – Kitsch dagegen als ein Moment ästhetischer DesInformation. Das heißt, die Verwaltung des ästhetischen Status quo führt sukzessive zu einer Des-Information ästhetischer Formen (sie verlieren ihren Informationsgehalt), was zugleich wiederum mit einem Verlust der Fähigkeit einhergeht, Prozesse ästhetischer Kommunikation auszulösen. Die Reproduktion von etwas wird folgelogisch nicht als ästhetische Anschlusskommunikation sondern als eine Art Recyclingprozess aufgefasst, in dem keine neuen Informationen bereitstellt werden und der folglich selbst wiederum keine Anschlusskommunikation auslöst (sondern in der Wiederaufbereitung des immer gleichen kreist).

    »Kitsch« und auch »Kunst« werden hier somit gerade nicht als jeweilige Eigenschaften von Dingen aufgefasst, sondern als ästhetische Modi unserer Beziehungen zu den Dingen.
    »Kitsch« und »Kunst« wären also nicht eine zeitlose Eigenschaft von etwas, sondern je ein Zustand im Kontext von historisch und sozial bedingter ästhetischer Kommunikation.

    Wenn man eine solche Perspektive zugrunde legt, entginge man vielleicht auch dem Problem, dass jedwede Frage nach dem »Wesen« einer Sache, dem »Wesen der Kunst« oder dem »Wesen des Kitsches« – als Frage nach einer irreduziblen Eigenschaft – (IMO notwendig) Gefahr läuft, in einen »Jargon der Eigentlichkeit« zu münden. In diese Falle seines eigenen Theoriedesigns ist IMO auch Adorno mit seinem letztlich essentialistischen Kitschbegriff und der Verdinglichungstheorie irgendwie gestolpert.

    Noch was zum selber lesen in diesem Zusammenhang: Abraham Moles: Psychologie des Kitsches, München 1972 (zuerst Paris 1971).

    Adieu,
    Algabal

    p.s.: dieser Beitrag ist übrigens zum Teil recycled – und damit tendenziell kitschig … ;+)

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Wenn das "nur ein..." nämlich entlarvend gemeint sein soll, muss man sagen, welche Strukturen demgegenüber "wahr", "authentisch", was auch immer sind, oder was das Material ist, dass derart diskursiv geformt wird.

    Nee, ist nicht entlarvend gemeint sondern deskriptiv ;+) - also eher so:


    Zitat

    Wenn das "nur ein..." aber auf alles, was hier interessiert, zutrifft (was im Falle ästhetischer Unterscheidungen gar nicht unplausibel ist),

    :yes:

    Daraus folgt aber nicht das hier - oder nur zum Teil:

    Zitat

    kann man es "ausklammern und rauskürzen", dann ist es im Grunde geschenkt und wir suchen eben nach Kriterien, Abgrenzungen, Unterscheidungen _innerhalb_ dieser Konstrukte.

    Letzteres ist IMO genau richtig - ersteres (also das Ausklammern und Rauskürzen) nicht. Die Einsicht in das »nur ein ...« könnte nämlich etwa dazu beitragen, die Rahmenbedingungen zu reflektieren, die uns bestimmte Kriterien, Abgrenzungen, Unterscheidungen finden und für plausibel halten läßt.

    Zitat

    Und die können nicht mit Hinweis auf den prinzipiellen Konstruktcharakter entlarvt oder dekonstruiert werden, weil der eh auf "alles" zutrifft.

    Hm, IhWäschNe ... Entlarven wollnwer ja nix - das haben die Ideologiekritiker in den 1970ern schon bis zum Abwinken gemacht.

    Dekonstruieren aber vielleicht schon - da ist auch nix schlimmes dran. Allerdings - und da hast Du naklar recht - sind die Parameter der Dekonstruktion daselbst auch wiederum dekonstruierbar. Dafür muss man dann allerdings eine andere Beobachterposition einnehmen ...


    Zitat

    Miauen ist authentisch

    Wenn die Katze es tut oder wenn Du es tust?

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Mon dieu, wie soll ein Mensch da noch folgen? :faint: :stern:

    Maßlose Anhäufung von Schönheit scheint mir in der Kunst aber auch zu finden zu sein.

    Gottseidank! :fee:

    Wenn masslose Anhäufung von Schönheit ein Kriterium für Kitsch ist, dann nämlich ein noch Subkjektiveres als die Authentizität(was immer es nun sei) Wer bestimmt denn erstmal was Schönheit ist?
    Für mich ist z.B. die Parsifal Ouvertüre eine masslose Anhäufung von Schönheit. An der Grenze des gerade noch zu Ertragenden. Ist das nun Kitsch?
    Nach dieser Definition müsste ausserdem die gesamte Epoche des Baroch unter Kitsch fallen, da kann also was nicht stimmen.
    Für manche Kunstliebhaber ist Alles, was vor dem Kubismus geschaffen wurde, bereits masslos überladen.. was nun?


    Authentizität, wie es FQ oder die "Führungskräfte-Akademie" sieht, scheint aber eher etwas ziemlich Intuitives zu sein.
    Jemand wirkt authetisch oder nicht (ich frage mich, ob FQ mich authentisch fände, obwohl ich idR eher zu ehrlich bin als andersrum). So wie Charme. Eine Bauchkategorie.

    Nein, das ist keine "Bauch" kategorie. Schonmal was von emotionaler Intelligenz gehört? Die ist im Grosshirn verankert und nicht in den Eingeweiden. Es handelt sich dabei auch nicht um einen Instinkt sondern um einen kognitifen und hoch komplexen Mechanismus.


    Zur Authentizitätsprüfung kannst du gerne antreten. Allerdings nur wenn du über ein Mindestmass an Charme verfügst. Wovon aber mit grösster Wahrscheinlichkeit auszugehen ist. Wer sich Putto nennt..... :angel:


    Auf Dein weiteres Geknurre antworte ich mal lieber nicht … ;+)

    Was ein Beweis für authentischen Charme ist.....

    eine Darstellung ist zu einem bestimmten Zeitpunkt dann »authentisch«, wenn sie mit den zu diesem Zeitpunkt gültigen Deutungsfolien kompatibel ist bzw. einem gültigen Deutungsrahmen nicht auf signifikante Weise widerspricht. Das betrifft nicht allein die semantische Dimension einer Darstellung sondern ganz klar auch ihre strukturellen und ästhetischen Dimensionen.

    und darauf kann ich nicht antworten, weil mir das eindeutig zu komplex und andererseits auch zu beliebig ist. Und meine DiskussionsKapazitäten in diesem Rahmen hier weit übersteigt. Ich bedanke mich aber für die auf mich sehr authentisch wirkenden Bemühungen, mir die Sache aus Deiner Sicht zu erklären.


    Kater Murr (Miauen ist authentisch)

    Das nun ist für mich eine höchst interessante und serh anregende Sache! (Woran man den geistigen Horizont erkennt....... :pfeif: :rolleyes: )

    Das Miauen einer Katze kann gar ncihts anderes als authentisch sein, weil die Katze keine Möglchkeit hat, nciht zu miauen, wenn es denn Anlass zum Miauen gibt.
    Das Nicht- Authentische ist also mit hoch differenzierten kognitiven Funktionen verbunden . siehe z.B. dem EQ....

    Die Katze ist immer authentisch, der Mensch kann aber unauthentisch sein und die Produktionen des Menschen, darunter die Kunstwerke, ebenso. Wenn Katzen nun Kunst machen würden wäre die immer authentisch?
    Aber sie machen ja keine, weil ihnen das Ästhetische als Kategorie fehlt. Ergo sind Ästhetik und Authentizität ganz eng verbunden. Und wie's dann weitergeht, muss ich noch rausfinden. Selberdenken heisst die Devise,n'est-ce pas?
    Ich danke jedenfalls dem authentischen Kater!

    F.Q.

    Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem und die Heilung eine musikalische Auflösung (Novalis)

  • Hallo FQ,

    Nein, das ist keine "Bauch" kategorie. Schonmal was von emotionaler Intelligenz gehört? Die ist im Grosshirn verankert und nicht in den Eingeweiden. Es handelt sich dabei auch nicht um einen Instinkt sondern um einen kognitifen und hoch komplexen Mechanismus.


    "Bauch" und Intuition meinen ja nicht Instinkt.
    Das, was ich so auf die Schnelle zur "emotionalen Intelligenz" finde, passt natürlich sehr gut zu der "Authentizität" aus der Führungskräfte-Seite.
    Die Frage ist aber, wieviel von dieser "emotionalen Intelligenz" durch ausformulierte Gedankenreihen marschiert, und wieviel davon eben intuitiv stattfindet. Und die Formulierung auf der Führungskräfte-Seite scheint mir nicht angetan zu sein, zu langen Gedankenreihen aufzufordern.

    Gerade was sehr komplex ist, lösen wir mitunter besser intuitiv. Zum Beispiel die Frage, ob etwas Kunst oder Kitsch ist. Oder wie wir einen Menschen einschätzen. Bei einfacheren Dingen wie Mathematik können wir auch mit weniger Intuition auskommen.
    :D

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Meine Lieben,

    Kunst und Kitsch lassen sich gar nicht so leicht trennen, wie man gerne möchte. Daher gibt es auch in der Kunstgeschichte keine wirklich befriedigende Definition von Kitsch, weil das eben etwas ist, was sich begrifflich dauernd verändert. In 2000 Jahren wird der röhrende Hirsch auf dem Wandbehang nicht mehr als Kitsch empfunden, weil sein inzwischen sein Alter- und Dokumentationswert den Qualitätswert sozusagen überlagert. Übrigens gibt es gute und schlechte röhrende Hirsche. :D
    Als ein Kriterium für Kitsch habe ich selbst einmal versucht, die fehlende Distanz anzusprechen. Man kann alles darstellen, auch höchst Gewagtes. Wenn der Betrachter aber nicht in einer gewissen Distanz gehalten wird, gerät das Resultat peinlich. Distanz meint jetzt nicht nur äußere Distanz, sondern auch innere (und die kann auch durch expressionistische, veristische etc. Bloßlegungen erzeugt werden).

    Die "Sissi"-Filme, lieber Symbol, enthalten natürlich eine ganze Menge kitschiger Elemente, aber sie pauschal als Kitsch abzutun, wäre vom kunsthistorischen Standpunkt aus eine unzulässige Pauschalierung. Sie sind ja nicht nur handwerklich gut gemacht. Ich habe schon wiederholt Referate bzw. Diplomthemen über solche Filme vergeben, darunter auch die "Sissis", was teilweise zu recht interessanten Erkenntnissen geführt hat. Allerdings ist das eine schwierige Materie, und wir stehen noch recht am Anfang.

    :wink:

    Waldi

    ______________________

    Homo sum, ergo inscius.

  • Was ein Beweis für authentischen Charme ist.....

    Ja, nicht wahr? Das war fast so authentisch charmant, wie der Beitrag auf den ich da geantwortet hab. Ich lerne halt ziemlich schnell ...

    Zitat

    und darauf kann ich nicht antworten, weil mir das eindeutig zu komplex und andererseits auch zu beliebig ist.

    Komplex ist das schon – aber beliebig ist es überhaupt nicht. Es verschiebt einfach auf ziemlich unbeliebige Art und Weise die Perspektive: nämlich von einem a-historischen und positiv konnotierten »Authentizitäts«-Begriff, der ein mehr oder minder fixes Verhältnis von Sein und Schein beschreiben soll, hin zu einer Betrachtung von historisch wandelbaren Konzeptualisierung des Verhältnisses von Schein und Sein und den daraus abgeleiteten Wertungen.

    Ein Beispiel dafür, dass das Authentizitätsdispositiv eben nicht zu allen Zeiten überhaupt Gültigkeit hatte (und deswegen kaum dazu gereicht, das »Wesen« der Kunst zu fassen oder zwischen Kunst und Kitsch differenzieren zu können) hab ich ja oben in PostNr. 50 gegeben.

    Dass die Einschätzung eines einzelnen »Kunstwerks« als »authentisch« ebenfalls historisch kontinget ist, also etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt als authentisches Kunstwerk begriffen wird, unter veränderten (kultur)historischen und/oder sozialen und/oder politischen Rahmenbedingen jedoch als blühender Kitsch erscheint, lässt sich gleichfalls an zahlreichen Beispielen sehr schön nachweisen. Darauf hat Waldi gerade ebenfalls hingewiesen und es zudem auch schön illustriert.

    Zitat

    Ich bedanke mich aber für die auf mich sehr authentisch wirkenden Bemühungen, mir die Sache aus Deiner Sicht zu erklären.

    Bitte sehr! Gern geschehen …

    Adieu,
    Algabal

    Keine Angst vor der Kultur - es ist nur noch ein Gramm da.

  • Zitat

    In 2000 Jahren wird der röhrende Hirsch auf dem Wandbehang nicht mehr als Kitsch emopfunden, weil sein inzwischen sein Alter- und Dokumentationswert den Qualitätswert sozusagen überlagert.

    Das ist jetzt ein interessanter Aspekt. Das Beispiel ist nun natürlich in die Zukunft gerichtet. Wir haben aber sowas tatsächlich schon in den Museen. Wenn man einen beliebigen Wallfahrtsort aufsucht, dann findet man dort auch die einschlägigen Devotionalien, denen man zum allergrößten Teil einen erheblichen "Kitsch-Status" zuweisen muß (Massenproduktion, billiges Material, billige Machart...). Derartige Devotionalien gab es allerdings auch schon in der Antike. Wenn es nun nur der Alters- und Dokumentationswert dieser Figürchen wäre, dann wären sie nur interessant für wissenschaftliche Sammlungen. Man findet sie aber regelmäßig zum großen Teil in Kunstmuseen und auf dem Kunstmarkt. Das läßt eigentlich nur den Schluß zu, daß Kitsch - ebenso wie Kunst - lediglich im Auge des Betrachters, bzw. kontextabhängig entsteht. Die antiken Devotionalien sind einfach ihres ursprünglichen Kontextes beraubt, die zeitgenössischen (bzw. das röhrende Rotwild vor Gebirgskulisse) besitzen ihn noch... Deswegen gilt das eine als Kitsch und das andere nicht.

    viele Grüße

    Bustopher


    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Lieber Matthias, das heisst doch dann logischerweise dass nach dieser Auffassung alles zu Kitsch wird, das nicht herrschende Ungerechtigkeiten und Probleme anprangert. .

    Nee, das ist ein Mißverständnis. Es gibt auch für Adorno jede Menge Kitschwerke voll der besten Absichten. Es geht gerade um die Verteidigung der künstlerischen Freiheit, das Material zu organisieren, ohne sich dabei außerkünstlerischen Herrschaftslogiken zu unterwerfen. Wo in der Moderne nicht am Entwicklungsstand des Materials angeknüpft und Kunst absolut, d.h. Mittel und Ziel Zweck in sich selbst sind, dort findet aber die Unterwerfung unter kunstfremde Herrschaftslogiken und fremdgesetzte Zwecke statt: Es entsteht Kitsch oder sonstwie mehr oder weniger schlechtes "Falsches". Also auch wenn der proklamierte Zweck der Sozialismus ist, die gewählten Mittel aber deswegen "fasslich" einfach, "volkstümlich" - (Brecht."Das Volk ist nicht tümlich.") sein sollen, dann entsteht sehr wahrscheinlich Kitsch oder Mist und schlimmer noch, es ist selbst Ausdruck, Ergebnis und "Verschleierung", da Entthematisierung von altem Falschen und reproduziert dieses. Denn es reproduziert die alten Herrschaftsverhältnisse in ihrer alten Arbeitsteilung: Wir oben denken, was für euch Dumme unten gut genug ist, euch langsam "hebt". Statt dessen käme es gerade darauf an, Autonomie und Freiheit der Kunst auszuweiten und darüber nachzudenken, wie alle die Möglichkeit bekommen können, am Besten der Kunst teilzuhaben, damit alle große Kunst genießen und sich von ihr anregen lassen können, statt nach der Arbeit in der sog."Freizeit", in völlig falscher, euphemistischer Hassbegriff für Adorno, nicht mehr nur noch zu reiner Unterhaltung fähig sind.

    Indem in großen Kunstwerken eine Befreiung von fremden Zwecken gelingt, sind sie gerade widerständig. Damit dies gelingt, reflektieren sie ihre Zeit, sonst könnte in ihnen nicht das Material in einen gelungeneren Zusammenhang gebracht werden. Ob dies explizit oder implizit geschieht, dem Künstler selbst bewußt ist oder nicht, vielleicht sogar seinen unmittelbar eigenen Klasseninteressen als z.B. gut verdienender, erfolreicher Künstler, so gesehen, objektiv widerspricht, ist völlig schnuppe.

    Jedoch ist alle Kunst in der Klassengesellschaft auf Leichenbergen errichtet, wie das Walter Benjamin ungefähr formuliert hat. Adorno folgt ihm. Kunst ist in der Klassengesellschaft, so gesehen, immer Luxus für wenige; aber wo ihr Zweck wird, Luxus zu sein, unterwirft sie sich fremden Herrschaftszwecken, genauso, wie wenn ihr Zweck wird, Unterhaltung zu sein, und hört auf große Kunst zu sein. Große Kunst arbeitet an diesem Widerspruch. Kritische Kunsttheorie versucht, diesen Widerspruch kenntlich zu machen. Das macht Adornos Theorie zu einer kritischen und historisch.materialistischen und unterscheidet seine Theorie von unkritischer Verteidigung von "l'art pour l'art"-

    Das versucht Adorno nachzuweisen und wo er auch wirklich eng am Material arbeitet, finde ich das auch oft sehr gelungen.

    Zitat

    Die meisten Operetten und Opern müssten demnach so furchtbarer Kitsch sein, das man sie gleich verbieten sollte.
    Alles was Unterhaltung ist, darf von anständigen Menschen nciht genossen werden.

    Nee, verbieten soll man gar nichts, aber mit tiefschwarzem Blick geduldig begründet kritisieren. Auch gegen Unterhaltung ist nichts zu sagen, nur gegen Werke, die vorgeben Kunst zu sein, deren Zweck aber reine Unterhaltung oder nur Luxus oder Distinktion gegen andere ist. Ich schrieb ja schon, dass Adorno die E-U-Unterscheidung scharf und außerordentlci hellsichtig kritisiert hat, in "Einführung in die Musiksoziologie", kann ich nur empfehlen, ist nämlich mit etwas Geduld sehr lesbar, gar nicht fast hermetisch schwierig, Aber statt sich in Werken mit Kunstanspruch billig vertrösten zu lassen, ging er dann lieber in den Zirkus. :D

    Auch gegen Genuss von großer Kunst ist gar nichts zu sagen, aber man sollte eben auch über ihre Vorraussetzungen reflektieren. Dann kann die Bereicherung durch sie um so größer sein.

    Also, liebe Fairy, genieße auch weiter deinen Schumann-Liederkreis nach Eichendorff nach Herzenslust. Das war auch einer von Teddys Favoriten. :thumbup:

    Zitat

    Genuss gibts erst, wenn das Paradies zurückerobert worden ist.

    Das also nicht, aber wo uns so ganz unangekränkelter Genuss ohne die Mühe der Aneignungsarbeit nahegelegt wird, ist besonders kritisch nachzudenken, z.B. auch darüber, warum wir ausgerechnet das so sehr genießen. Adornos perspektivischer Horizont, eine Gesellschaft, in der sich angstfrei von allen vermeidbaren Angstgründen leben läßt, ist jedenfalls so kompromißlos antitotalitär, wie es überhaupt nur geht. Max Weber, der solche Perspektiven auch für unerreichbar utopisch hielt, hielt es gleichzeitig für geradezu lebensnotwendig für eine entwicklungsfähige Gesellschaft, dass in ihr auch solche Menschen wirken können, die von so einer Perspektive aus mit radikal schwarzem Blick rücksichtslos kritisieren.

    Zitat

    Hat eigentlich mal irgendjemand Adorno Unmenschlichkeit vorgehalten?

    Dazu besteht, so verstanden, kein Grund.

    Zitat

    Gilt diese seine Haltung nur für menschenverachtende Regime oder überhaupt und allgemein?

    Bei aller bestehenden Notwendigkeit, Regime zu differenzieren, und das würde ich sicher schärfer tun wollen, als es auch Adorno tat, fand er unseres menschenverachtend genug. Wenn ich mir z-B. die EU-Flüchtlingspolitik anschaue, mag ich ihm nicht widersprechen. :stumm:

    "Kitsch" ist für mich immer auch die versuchte Darstellung des Schönen bei mangelnder Ökonomie in der Verwendung der Mittel. Diese fehlende Kontrolle des Materials scheint mir ein wichtiges Kennzeichen des "Kitsches" zu sein.

    Das ist durchaus auch ein Moment von Adornos Überlegungen.

    Aber ich bin gar kein Adornit, möchte bloß dem heute so beliebten Adorno-Bashing entgegenwirken und ihn möglichst stark machen, weil es sich m.E.schon lohnt, sich mit ihm auseinanderzusetzen und da auch einiges für andere Ansätze abzuholen ist.

    Insofern kann ich Algabal Ausführung nahezu überall zustimmen. Mit Jan Mukarovsky :juhu: und Foucaults Diskurs-Theorie kann man bei mir sowieso nur offene Türen einrennen. Jedoch versuche ich, Foucaults Diskurstheorie, etwas modifiziert mit Pecheux u.a., auch gegen Foucault mit einer Ideologie-Theorie, welche die geschichtsphilosophisch- teleologischen Annahmen der alten Ideologiekritik als Kritik am "falschen Bewußtsein" abgeworfen hat, zu verbinden. Aber das würde hier zu weit führen.

    wir suchen eben nach Kriterien, Abgrenzungen, Unterscheidungen _innerhalb_ dieser Konstrukte. Und die können nicht mit Hinweis auf den prinzipiellen Konstruktcharakter entlarvt oder dekonstruiert werden, weil der eh auf "alles" zutrifft.

    Stimmt, aber Algabals sehr guter Diskurs-Definition würde ich die Betonung hinzufügen, dass es auch nicht-diskursive Praktiken bei Foucault gibt, welche jedoch immer mit diskursiven Praktiken verbunden sind und nur in diskursiven Praktiken kommunikabel sind. Insofern gibt es jedoch gerade auch bei Foucault "Nicht-Identität" und so etwas, was Adorno "Objektüberhang" des Materials genannt hat. Foucault war kein Idealist, dem die Welt nur aus "Text" besteht.

    Ebenso läßt sich m.E. mit F. und über ihn hinaus auch manchmal gegen ihn, m.E. internes Funktionieren und der "Status" eines bestimmten Diskurses deutlicher gegenüber anderen abgrenzen und eventuell auch verteidigen, etwa dem der Wissenschaft, wo er "wirklich" wissenschaftlich funktioniert, d. h. Erkenntniseffekte produziert, oder eben dem der Kunst, bei dem dann eben Adorno, stark gemacht und kritisch gelesen, für mich wieder interessant wird.

    Aber natürlich können wir uns dem Kitsch auch phänomenologisch und z. B. über den Sprachgebrauch nähern und darüber mit je eigenen Bordmitteln philosophieren.

    Richard Clayderschrank ist wohl für uns alle Kitsch. :D Wieso? Was noch? Was sind Gemeinsamkeiten?

    Oder, was ist oder gilt eigentlich als verwerflich am Kitsch?

    :wink: Matthias

  • Liebe Capricciosi!

    Gerade in der Musik schlage ich vor, dass ein Kriterium für Kitsch die Inkongruenz von musikalischen Mitteln und Inhalt ist. Z.B. ist ein Volkslied in einem Arrangement für Gitarre passend, ein Volkslied in einem Arrangement für großes sinfonisches Orchester hingegen absolut kitschgefährdet und wird in den meisten Fällen ziemlich ins Auge gehen (Canteloube schafft es bei seinen "Chants d'Auvergne" m.E. zumeist, den Kitsch gerade noch zu umgehen, aber manche Stellen sind da auch hart an der Grenze).

    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Als ein Kriterium für Kitsch habe ich selbst einmal versucht, die fehlende Distanz anzusprechen. Man kann alles darstellen, auch höchst Gewagtes. Wenn der Betrachter aber nicht in einer gewissen Distanz gehalten wird, gerät das Resultat peinlich. Distanz meint jetzt nicht nur äußere Distanz, sondern auch innere (und die kann auch durch expressionistische, veristische etc. Bloßlegungen erzeugt werden).

    Das glaube ich auch, dass fehlende Distanz ein wesentliches Moment von Kitsch ist, bzw. von einem sinnvollen Sprachgebrauch von "Kitsch". "Das Bekannte ist darum noch nicht erkannt" formulierte Hegel. Kunst kann Risse produzieren im Verhältniss zum Bekannten und herausfordern, sich mit dem, was "Schein" ist, am Bekannten auseinanderzusetzen. Die Mittel können dabei ganz unterschiedlich sein und sind nicht dogmatisch festlegbar.

    Diese Überlegung verweist auch wieder auf die Historizität und Kontextgebundenheit von Kunst - Kitsch- Unterscheidungen und den Prozesscharakter von Kunst: Der abbildhaft, idealisiert gemalte röhrende Hirsch, zwischen sehr andere Objekte gehängt, kann schon wieder interessante Konzept-Kunst sein. ( Und Konzept-Kunst gefälliger Kitsch.)

    :wink: Matthias

  • Keine Angst, zur Bedeutung von "Authentizität" will ich mich nicht genauer äußern - ist mir einfach zu vage. (Offenkundig ist Adornos Definitionsversuch zirkulär.) Was "Kitsch" betrifft, glaube ich, dass der Künstler bei verschiedenen Rezipientengruppen jeweils andere Wirkungen im Sinne hat. Oder er wendet sich gar nicht erst an diejenigen, die das betr. Werk kitschig finden würden (es sei denn, er zitiert ironisch). Allerdings baut ein Kitsch-Konzept gegebenenfalls auf so vielem auf, was erst zu klären wäre - ich will nur auf eins hinweisen, was mich bei Diskussionen oft wundert:


    Zitat


    Nun gibt es nicht nur die sinnliche Lust, es gibt beim Kunstschönen eben auch das "Werk des Menschen", das zum Zweck der reflektierenden Betrachtung gemacht worden ist. Unter kognitiven Aspekten nimmt die Formanalyse eine bevorzugte Stellung ein, denn "in aller schönen Kunst besteht das Wesentliche in der Form" (Kant). (S. 51)


    Warum so oft die Annahme eines konträren Gegensatzes zwischen Intellekt und Sinnlichkeit - genauer: zwischen Formanalyse und sinnlicher Wahrnehmung? Wahrnehmung ist immer auch Wahrnehmung von Gestalten (einschließlich 'Strukturen'). Wer bezweifelt, dass für Musikdarbietungen (und Produkte in anderen Künsten) intellektuelle Einsichten spezifische Ziele sind, braucht nicht einen 'Sinnenrausch' zum Maßstab des Kunstgenusses zu erheben. Vielmehr scheint sich die Formwahrnehmung oft eher 'präreflexiv' abzuspielen. Der Grammatiker Eisenberg bringt für Sätze das schöne Beispiel: Die syntaktische Struktur eines Satzes - wenigstens teilweise - wahrzunehmen, heißt nicht, ihn anzustarren. Doch sicher bedarf es auch nicht gleich einer wissenschaftlichen Analyse - vielmehr gebrauchen wir im Alltag Sätze auch in Hinblick auf je eine Struktur. (Daher ist "Lore erschoss den Mann im Mond" mehrdeutig je nach zugeordneter Struktur und auch für jemanden, der keine wissenschaftliche Beschreibung anstrebt.) Höre ich, wie (und mit welchen Wirkungen) ein Thema variiert wird, ist das weder Sinnenrausch noch bloßes intellektuelles Vergnügen.

    Ich bin weltoffen, tolerant und schön.

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