WAGNER: Parsifal - Staatstheater Stuttgart, 28.03.2010 (Premiere)
Gestern hatte die Neuinszenierung von Wagners letzter Oper in Stuttgart Premiere; auch für mich war es eine Premiere, denn noch nie zuvor hatte ich eine Regiearbeit des umstrittenen Katalanen erlebt.
- Chor der Staatsoper Stuttgart
- Staatsorchester Stuttgart
- Musikalische Leitung: Manfred Honeck
- Regie: Calixto Bieito
- Bühne: Susanne Gschwender
- Kostüme: Mercé Paloma
- Licht: Reinhard Traub
- Chor: Michael Alber
- Dramaturgie: Xavier Zuber
- Gurnemanz: Stephen Milling
- Amfortas: Gregg Baker
- Parsifal: Andrew Richards
- Klingsor: Claudio Otelli
- Kundry: Christiane Iven
- Titurel: Matthias Hölle
- 1. Gralsritter: Heinz Göhrig
- 2. Gralsritter: Mark Munkittrick
- Vier Knappen: Yuko Kakuta, Diana Haller, Torsten Hofmann, Hans Kittelmann
- Blumenmädchen: Julia Borchert, Petra van der Mieden, Tina Hörhold, Yuko Kakuta, Agata Wilewska, Michaela Schneider
Im Einführungsvortrag verwies der Dramaturg auf Ort und Zeit der Handlung, so wie sie in Stuttgart gedeutet wurde: eine zerstörte Welt, in der alle materialistischen und egoistischen Ideale ihr Ende gefunden hatten, angesiedelt in einer ungewissen Zukunft. Das Bühnenbild verdeutlichte dies: links ein Wald, von dem nur noch abgestorbene Stämme übrig sind (auch die schwinden im Verlauf der drei Akte) und rechts eine ins Nichts führende Brücke aus Beton, Teile sind herabgestürzt, eine Zerstörung, die sich im 3. Akt fortgesetzt hat.
Dort lebt eine Gesellschaft von verelendeten Männern, einerseits von latenter Gewalt beherrscht (die auch immer wieder ausbricht), andererseits sich nach spiritueller Erlösung sehnend: "Wo ist Gott?" steht auf einem Plakat, das im 1. und 3. Akt gelegentlich gezeigt wird - eine Frage, die auch als Motto dieser Inszenierung dienen könnte, einer Inszenierung, die nach meiner Wahrnehmung von einer tiefen Religiosität geprägt ist.
Die Regie trachtet danach - so der Dramaturg -, die einzelnen Figuren in einer Weise auszuleuchten, daß sie "in ihren Grundfesten erschüttert" werden. Die Gralsritter und Knappen werden ganz individuell herausgearbeitet: Eindrucksvoll fand ich einen, der immer wieder eine Axt schwenkend herumrannte.
Gurnemanz hat eine doppelte Rolle: Er hält an den Idealen dieser Gemeinschaft fest, an den Ritualen, die die Heilsversprechen retten sollen - und er ist ein Garant der Ordnung, er versucht, Struktur zu schaffen und Gewaltexzesse zu verhindern, etwa wenn er dazwischen geht, wenn zwei Knappen versuchen, die ankommende Kundry zu vergewaltigen. Um seine Ziele zu erreichen, schreckt er vor massiven manipulatorischen Handlungen nicht zurück.
Amfortas ist ein kräftiger und keineswegs siecher Mann; seine Wunde ist offensichtlich anderer Art. Er leidet, wenn ich es richtig verstehe, daran, daß er an die sinnstiftenden Rituale nicht mehr glaubt. Ein resignierender Nihilist?
Auch Titurel liegt nicht im Grab, sondern wankt oben auf der zerstörten Brücke herum, blind und verloren.
Parsifal ist tatsächlich ein junger Mann, naiv und gelegentlich blöde grinsend - wieweit er am Ende wirklich sehend ist und klug geworden, das bleibt offen.
Klingsor: kein wirklicher Kontrast zu den Rittern; auch er ein Verlorener, der nach Sinn sucht? Der 2. Akt hat konsequenterweise kein eigenes Bühnenbild.
Die Blumenmädchen: mißbrauchte Mädchen, dressierte Puppen, die während des ganzen 2. Aktes herumlungern, auch in der Verführungsszene.
Bleibt Kundry: für mich der einzige "normale" Mensch in der ganzen Oper, auch in der Szene mit Parsifal eher eine mütterliche Verführerin im Blümchenkleid. Sie bleibt am Ende übrig, schwanger, wie es scheint. Eine letzte Hoffnung?
Zur Inszenierung gäbe es noch einiges zu schreiben; ich begnüge mich hier damit, ein paar Motive anzudeuten: Zu dicht, zu voll an Ereignissen war der Abend. Da außer mir noch mindestens 6 weitere Capricciosi anwesend waren, wird das eine oder andere hier sicher noch eingebracht werden. Besonders der Schluß und damit so etwas wie die Quintessenz der Inszenierung verdient es, noch nöher beleuchtet zu werden.
Am berührendsten fand ich den 1. Akt: Die Verwandlungsszene etwa: Die äußere Welt bleibt hier völlig unverändert, die eigentliche Wandlung ist Illusion, sie findet im Inneren Parsifals statt, der von Gurnemanz mit Drogen manipuliert wird. Zuvor Gurnemanz' Erzählung, die ja eigentlich recht langatmig ist, für Regisseure eine echte Herausforderung. Bieito löst das glänzend, indem er Kinder in Engelskleidern auftreten läßt, zu denen Gurnemanz spricht. Um die Brutalität Klingsors zu verdeutlichen, reißt er einem Jungen die Kostüme herunter; der wird später als erlegter Schwan präsentiert (schon dieser Akt ist inszeniert). Ich kann das hier nur andeuten; wie die Regie hier Dichte und Emotionalität offenbarte, das war unglaublich spannend und keine Sekunde langweilig!
Das musikalische Niveau war erstaunlich hoch: Auch das Orchester wußte die langen Bögen zu spannen, das war intensiv und ergreifend. Großartig auch der Chor, besonders im 3. Akt!
Von den Sängern möchte ich herausheben: Stephen Milling, der einen souveränen und klar artikulierenden Gurnemanz präsentierte, Gregg Baker, dessen Amfortas fast zu schön klang (die extremen Leidensextasen, die die Rolle sonst nahelegt, hörte ich da kaum heraus), Andrew Richards, der den Titelhelden stimmlich solide und körperlich überzeugend gab, und Christiane Iven als Kundry (sie sang, glaube ich, auch die Altstimme aus der Höhe am Ende des 1. Akts: "Durch Mitleid wissend..."): Stimmlich schön und eine stets präsente und glaubwürdige Darstellung.
Es war ein großer Abend!