ELGAR: The Dream of Gerontius
1899 war ein arbeitsames Jahr für Edward Elgar. Erst die Fertigstellung der „Enigma Variations“, dann Komposition und Aufführung des Liederzyklus „Sea Pictures“ mit der großen Clara Butt. Dabei hatte er eigentlich anderes zu tun. Bereits 1898 hatte er zugesagt, ein Chorwerk für das im Oktober 1900 stattfindende Birmingham Festival zu komponieren. Aber es war bereits Herbst 1899, als Elgar sich an die Komposition des „Dream of Gerontius“ machte.
Die Vorlage war ein langes Gedicht des vom Anglikanismus zum Katholizismus konvertierten und 1879 zum Kardinal erhobenen John Henry Newman, das Elgar schon 1885 kannte. Das Werk behandelt den Tod des Gerontius (was grob mit alter Mann übersetzbar ist) und den Weg seiner Seele zu Gott. Damit steht das Werk thematisch in einer Reihe mit Richard Strauss’ Tondichtung „Tod und Verklärung“ (1890) und Mahlers 2. Symphonie (1895).
Doch um eine Komposition realistischen Ausmaßes zu gewährleisten, musste Newmans Text gekürzt werden. Elgar übernahm zwar den größten Teil des „Prologs“ (= Teil 1), strich den sich anschließenden Text dann aber von rund 730 Zeilen auf 300 Zeilen zusammen. Schon im Februar kann Elgar an seinen Freund, Novellos Verlagsleiter Jaeger, schreiben: „I am setting Newman’s Dream of Gerontius – awfully solemn and mystic...“ Es folgt eine intensive Arbeitsphase, wobei er immer wieder Teile an Jaeger schickt, der das Werk in hohen Tönen lobt: „Oh! I am half undone, & I tremble after the tremendous exaltation I have gone through. I don’t pretend to know everything that has been written since Wagner breathed his last in Venice seventeen years ago, but I have not seen or heard anything since Parsifal that has stirred me, and spoken to me with the trumpet tongue of genius as has this part of your latest, & by far greatest work.” (zit. n. Nice, Davis: Edward Elgar. An essential guide to his life an works. London 1996. 46.)
Am 06. Juni 1900 ist der Klavierauszug fertig gestellt, es folgt die Ausarbeitung der Partitur und vor allem eine entscheidende Diskussion mit Jaeger, der nicht verstehen wollte, warum Elgar den Moment, in dem die Seele des Gerontius Gott schaut, kompositorisch nicht umgesetzt hatte.Jaeger an Elgar: „Since Parsifal nothing of this mystic, religious kind of music has appeared to my knowledge that displays the same power and beauty as yours. Like Wagner you seem to grow with your greater, more difficult subject and I am now most curious and anxious to know how you will deal with that part of the poem where the Soul goes within the presence of the almighty. There is a subject for you!” Elgar an Jaeger: “Please remember that none of the ‘action’ takes place in the presence of God. I would not have tried that, neither did Newman. The Soul says ‘I go before my God’ – but we don’t – we stand outside.” Doch Jaeger war nicht zufrieden: „I have tried and tried and tried, but it seems to me the weakest part of the work! Do re-write it!...It seems mere whining to me and not at all impressive.” (alles zit. n. Johnson, Stephen: The Dream of Gerontius. Begleittext zur Aufnahme unter der Leitung von Sir Colin Davis, 2006) Und noch mehr. Jaeger an Elgar: „But I grant you, it needed a Wagner or R. Strauss to do that, nobody could dare attempt it. No! as I know now, not even E.E.” (zit n. Kennedy, Michael: The life of Elgar. Cambridge 2004. 77) Elgar gab nach – vielleicht aus gekränkter Eitelkeit (?) – aber nur ein Stück weit und zeigt die Gegenwart Gottes „for one semi-quaver value ƒƒƒƒƒƒzzzz...the one glimpse into the Unexpressible.“ (zit. n. Nice, 46).
Am 3. August 1900 stellt er die Partitur fertig und notiert an das Ende ein Zitat von John Ruskin, das Elgars immense Identifikation mit dem Werk und seiner Thematik verdeutlicht: „This is the best of me; for the rest, I ate, and drank, and slept, loved and hated, like another; my life was as the vapour and is not; but this I saw and knew; this, if anything of mine, is worth your memory.” (zit. n. Nice, 46)
Doch Elgar war spät dran, denn nun galt es die Partitur an Novello zu geben, Stimmen und Chorstimmen zu schreiben und diese, wiederum Korrektur zu lesen. So kam es, dass alle Ausführenden, inklusive des Dirigenten Hans Richter, den Notentext tatsächlich erst einige Tage vor der Uraufführung zu sehen bekamen. Es gab nur eine Gesamtprobe am 29. September 1900. Etwas flapsig, aber nicht falsch, formulieren es Tim Lihoreau und Darren Handley in ihrem „The Friendly Guide to Elgar“ (London 2007): „The finished work, The Dream of Gerontius, is, as any chorus member will tell you, a big sing. It is a complex and tough work that needs careful, musical and meticulous preparation.” (78)
Aber die Vorbereitung war so schlecht, wie sie nur eben sein kann, sodass die Aufführung in Birmingham zu einem Debakel wurde. Die Solisten sangen quasi vom Blatt, der Chor war überfordert, man munkelte sogar, dass einige der Sänger das Ganze boykottierten, und auch ein Hans Richter konnte die Aufführung nicht retten. Nichtsdestotrotz erkannte die Kritik, das Elgar ein Meisterwerk vorgelegt hatte. Dennoch verfiel Elgar – zumindest für einen Augenblick – in Niedergeschlagenheit: „Providence denies me a decent hearing of my work: so I submit – I always said God was against art & I still believe it: anything obscure or trivial is blessed in this world...I have allowed my heart to open once – it is now shut against every religious feeling & every soft, gentle impulse for ever.” (zit. n. Kennedy, 79)
Und doch: Der „Gerontius“ wurde schnell populär, woran nicht zuletzt der deutsche Dirigent Julius Buths einen Anteil hat, der das Werk 1901 beim Niederrheinsichen Musikfest aufführte. Es war – 2500 Zuhörer waren versammelt – ein kolossaler Erfolg. Heute ist das Werk in Großbritannien ein Repertoirestück, ebenso populär wie bspw. Händels „Messiah“. In Deutschland hingegen kommt es selten zu Gehör.
Ich habe in letzter Zeit vergleichend die folgenden fünf Aufnahmen gehört. Wie üblich haben alle ihre Stärken und Schwächen.
Die klassisch gewordene Einspielung unter Sir John Barbirolli ist – will man nur einen „Gerontius“ im CD-Regal stehen haben - sicherlich die beste Wahl. Hier wird ein ausgesprochen gefühlvoller Gerontius präsentiert, wobei es mir bisweilen etwas zuviel der Weihe ist. Barbirolli war – wie Elgar – Katholik und konnte sich evtl. aus diesem Grund besonders in den bisweilen eben weihevollen Text Newmans und dessen einfühlen. Tatsächlich stört mich neben diesem nur gelegentlich auftretenden Manko nur der recht hohe Rauschpegel. Richard Lewis ist sich der Dramatik und emotionalen Breite wie Tiefe seiner Partie bewusst und zeichnet einen überzeugenden Gerontius. Kim Borgs mächtiger Bass eignet sich gut, sowohl für die feierliche Partie des Priesters als auch für die qualvoll-zerrissene des „Angels of Agony“. Dame Janet Baker singt einen ganz herrlichen Engel und ihr „Softly and gently“ gilt vielen noch immer als absolute „benchmark“.
An Brittens Einspielung gefällt mir das deutlich zügigere Tempo (es ist die zügigste mir vorliegende Aufnahme). Dies wird nicht nur im „Softly and gently“ deutlich, das so aber kaum gedehnt wirkt (Britten wollte wohl die Möglichkeit des Verfallens ins Kitschige umgehen). Vielmehr klingt es hier fast volksliedartig, ja eben wie ein Wiegenlied. Yvonne Minton gibt ohnedies einen sehr klangschönen, klar-silbrig klingenden Angel. Allein sie ist es wert, die Aufnahme zu hören. Brittens Intimus Peter Pears ist hingegen nicht mehr so recht auf der Höhe seiner Kunst. Es gelingt im nicht immer, den geforderten Lyrizismus wie die ebenso geforderte Dramatik der Partie umzusetzen, wenngleich auch er recht schöne Momente hat. An John Shirley-Quirks Darstellung der Bass-Partie gibt es nichts zu rütteln. Ein rein technisches Manko ist allerdings, dass der Chor in den großen Fortissimi meist leicht übersteuert ist.
Richard Hickox präsentiert ebenfalls einen ordentlichen, wenngleich etwas gesichtslosen „Gerontius“. Meines Erachtens hat das mit seiner Auswahl der Solisten zu tun (Arthur Davies als Gerontius, Felicity Palmer als Angel und als Bass Gwynne Howell), die sicherlich ihr bestes geben, aber über ein gewisses Maß an Durchschnittlichkeit nicht hinauskommen. Aus meiner Perspektive eine eher blasse Angelegenheit.
Sir Colin Davis’ Einspielung gefällt mir recht gut. Davis hat den dramatischen Charakter des Werkes, das sich ja kompositorisch stark an Wagner anlehnt, stets im Blick, wobei auch die kontemplativen Abschnitte überzeugend umgesetzt werden. Besonders der Dämonenchor überzeugt durch seine grelle Wiedergabe. Der Berlioz-Experte Davis weiß schließlich, wie krasse musikalische Effekte auszusehen haben. Aber auch die Besetzung ist recht luxuriös. Davis Rendall als Gerontius wäre vielleicht nicht meine erste Wahl gewesen (sein Vibrato wirkt mir bisweilen etwas sehr forciert), aber dennoch gibt er dem Gerontius ein gut erkennbares Gesicht. So schafft es Rendall dessen Fragen, Ängste und Hoffnungen, später die Gleichmut seiner Seele schlüssig wiederzugeben. Alastair Miles ist einer der besten Bässe, die gegenwärtig im Königreich zu haben sind. Starke Stimme, dennoch flexibel, sehr textverständlich und nicht so mulmig, wie es die Bässe früherer Generationen oft waren. Besonders seinen „Angel of Agony“ finde ich sehr beeindruckend. Auch Anne Sofie von Otters Engel ist so richtig etwas für das verwöhnte Ohr und sie kann problemlos mit Janet Bakers Darstellung der Partie mithalten. Nur im „Softly and gently“ will der Funke nicht so recht überspringen, was aber nicht so sehr an von Otters Gesang liegt, sondern an der Tatsache, dass Sir Colin hier extrem langsam schlägt und den Liedcharakter des Stückes völlig überdehnt. Was hier wohl tiefempfunden sein soll, ist am Ende lediglich etwas zäh.
Sir Adrian Boult empfinde ich immer als einen der nüchternsten Elgar-Dirigenten. Sicher, er kannte Elgar wahrscheinlich seit etwa 1905 und ja, Elgar schrieb ihm nach einer Aufführung seiner zweiten Symphonie, er glaube seine Musik sei bei Boult in guten Händen. Aber dennoch: Oft fehlt mir bei Boults Interpretationen der Musik Elgars die Emotionalität, die Tatsache, dass sich Elgar unter all dem Empire-Klang doch meist nahe am Rande des Abgrundes bewegt. Aber das ist – wie ich oben ja schon schrieb – nicht unbedingt die britische Sicht auf Elgar. Das Besondere an Boults Einspielung aus dem Jahre 1975 ist für mich auchnicht so sehr dessen Dirigat oder dessen Gesamtanlage, die ordentlich, partiturgetreu und in ihrer Partiturtreue durchaus solide ist, sondern die Besetzung der Titelrolle mit Nicolai Gedda. Ich mochte den leichten, lyrischen und doch strahlenden Klang von Geddas Stimme schon immer. Namentlich in seiner Darstellung der Tenor-Partie in Giulinis legendärer Einspielung von Verdis „Requiem“ ist Gedda kaum zu schlagen. Und eben das dort gezeigt Maß an Grandezza lässt Gedda auch der Gerontius-Partie angedeihen, die in ihrer Anlage ja wirklich eine der großen Tenor-Partien der Jahrhundertwende ist. Man hört hier einfach schnell, dass Gedda ein anderes Kaliber hat, als die meisten der auf CD gebannten Interpreten. Da sprechen zum Aufnahmezeitpunkt rund 30 Jahre Bühnenerfahrung aus Gedda, der 1975 bereits 50 Jahre alt ist, worunter die Elegenz, Flexibilität und der insgesamt frische Ton seiner Stimme in keiner Weise leiden. Auch wirkt Gedda nie angestrengt, das hohe Register war ohnedies seine Domäne, sei es kraftvoll, sei es im Pianissimo, Gedda kann’s. Dazu kommen zum Aufnahmezeitpunkt eben auch 50 Jahre Lebenserfahrung, die der Gestaltung eines Charakters am Rande des Todes gut tun. Das ist ganz ähnlich wie bei Richard Lewis, der ebenfalls 50 Lenze zählte, als er den Gerontius mit Barbirolli einspielte. Allerdings ist er bei aller inneren Schlüssigkeit seiner
Darstellung stimmlich nicht mehr auf der Höhe, die Gedda präsentiert. Neben Gedda singen Helen Watts und Robert Lloyd, die ihre jeweiligen Partien zwar solide, aber mitnichten außergewöhnlich gestalten.
Welche Einspielungen kennen die Capricciosi und wie stehen Sie zu Elgars bekanntestem oratorischen Werk?
Agravain