Bach-Legenden – falsch, aber unausrottbar
Über kaum einen Komponisten sind so viele Anekdoten, Geschichten und manchmal schon entstellende Behauptungen im Umlauf wie über Johann Sebastian Bach.
Schuld daran ist nicht nur das 19. Jahrhundert, in dem die Bestrebungen, Bach zu einem besonders deutschen Musiker zu machen, erste kuriose Höhepunkte erreichten. Besonders Johann Nikolaus Forkel hat mit seinem „Über Johann Sebastian Bachs Lebens, Kunst und Kunstwerke“, das 1802 erschien, zwar Verdienstvolles getan, aber auch frei erfundene Begebenheiten eingestreut, um das Bach-Bild in die gewünschte Richtung zu lenken.
Schuld ist auch der zweitälteste Sohn Johann Sebastians, Carl Philipp Emanuel, dem Deutschtum zwar reichlich egal war, der aber das Bild des Vaters manchmal gern marketingorientiert aufpolierte.
In loser Folge hier die publikumswirksamsten Geschichten samt ihrer Richtigstellung.
1: Die Kunst der Fuge – vom Sensenmann abgewürgt?
„Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben.“ hat CPE Bach unter die unvollendete Fuge geschrieben, die am Schluss der ersten Druckausgabe steht.
Auf dem Titelblatt ist zu lesen:
„Der selige Herr Verfasser dieses Werkes wurde durch seine Augenkrankheit und dem kurz darauf erfolgten Tod ausser Stande gesetzet, die letzte Fuge, wo er sich bey anbringung des dritten Satzes namentlich zu erkennen giebet, zu Ende zu bringen:...“
Wir wissen heute, dass Bach zuletzt sich noch mit verschiedenen Projekten befasst hat – u. a. der h-moll-Messe und den 18 Leipziger Chorälen – und die Kunst der Fuge, deren erste Fassung ja schon aus den frühen 1740er Jahren stammt, schon länger liegengeblieben war.
Gevatter Tod hat also nicht dem Genius während der Arbeit die Feder aus der Hand gewunden – es lag schon ein bisschen Staub auf dem Manuskript, als Bach starb.
Wahrscheinlich hätte er später eine Druckfassung der Kunst der Fuge komplettiert und möglicherweise als „Clavierübung V“ herausgebracht und als vor seinem Ruhestand letzten Jahresbeitrag für die „Correspondierende Societät der musicalischen Wissenschaften“ (= Mizlersche Societät), der u. a. auch Telemann, Händel und L. Mozart angehörten, eingereicht.
Ebenso falsch, aber ebenso werbewirksam fährt die Anmerkung auf dem Titelblatt fort:
„... man hat dahero die Freunde seiner Muse durch Mittheilung des am Ende beygefügten vierstimmig ausgearbeiteten Kirchenchorals, den der selige Mann in seiner Blindheit einem seiner Freunde aus dem Stegreif in die Feder dictiert hat, schadlos halten wollen.“
Gemeint ist die zu den ‚18 Leipziger Chorälen’ gehörende Bearbeitung des Liedes „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ BWV 668.
Allerdings hatte Bach schon 1739 bis 1742 diese Sammlung aus Überarbeitungen früherer Werke zusammengestellt und jetzt neben einigen Veränderungen, die aber eher Korrekturcharakter haben, die Titelzeile des ebenfalls auf diese Melodie schon lange und häufig gesungenen Textes „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ darüber gesetzt, um es für die erneute Überarbeitung der Sammlung der ‚18 Leipziger Choräle’, mit der er sich gerade beschäftigte, zu verwenden.
Das Ergebnis firmiert unter BWV 668a, ist aber nicht mit der Komposition identisch, die die Familie an den Schluss der Kunst der Fuge hat setzen lassen. Das ist lediglich die etwas ältere Version 668, wie sie auch in den 18 Leipzigern von 1739-42 vorhanden ist. Es ging wohl schon direkt nach Bachs Tod mit den verschiedenen Bearbeitungen drunter und drüber.
Der Text auf dem Titelblatt der Kunst der Fuge ist also auch nur gutes Marketing, einen Zusammenhang wollte Bach selbst sicher nie herstellen, denn die Choralbearbeitung ist ein völlig stilfremder Appendix.
Es war eben noch eine leere Seite der Druckausgabe zu füllen, und das ist unter diesem eher gefühligen Vorwand mit eben dieser Choralbearbeitung für Orgel geschehen.