Bach-Legenden – falsch, aber unausrottbar

  • Bach-Legenden – falsch, aber unausrottbar

    Über kaum einen Komponisten sind so viele Anekdoten, Geschichten und manchmal schon entstellende Behauptungen im Umlauf wie über Johann Sebastian Bach.
    Schuld daran ist nicht nur das 19. Jahrhundert, in dem die Bestrebungen, Bach zu einem besonders deutschen Musiker zu machen, erste kuriose Höhepunkte erreichten. Besonders Johann Nikolaus Forkel hat mit seinem „Über Johann Sebastian Bachs Lebens, Kunst und Kunstwerke“, das 1802 erschien, zwar Verdienstvolles getan, aber auch frei erfundene Begebenheiten eingestreut, um das Bach-Bild in die gewünschte Richtung zu lenken.
    Schuld ist auch der zweitälteste Sohn Johann Sebastians, Carl Philipp Emanuel, dem Deutschtum zwar reichlich egal war, der aber das Bild des Vaters manchmal gern marketingorientiert aufpolierte.


    In loser Folge hier die publikumswirksamsten Geschichten samt ihrer Richtigstellung.


    1: Die Kunst der Fuge – vom Sensenmann abgewürgt?


    „Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben.“ hat CPE Bach unter die unvollendete Fuge geschrieben, die am Schluss der ersten Druckausgabe steht.
    Auf dem Titelblatt ist zu lesen:
    „Der selige Herr Verfasser dieses Werkes wurde durch seine Augenkrankheit und dem kurz darauf erfolgten Tod ausser Stande gesetzet, die letzte Fuge, wo er sich bey anbringung des dritten Satzes namentlich zu erkennen giebet, zu Ende zu bringen:...“
    Wir wissen heute, dass Bach zuletzt sich noch mit verschiedenen Projekten befasst hat – u. a. der h-moll-Messe und den 18 Leipziger Chorälen – und die Kunst der Fuge, deren erste Fassung ja schon aus den frühen 1740er Jahren stammt, schon länger liegengeblieben war.
    Gevatter Tod hat also nicht dem Genius während der Arbeit die Feder aus der Hand gewunden – es lag schon ein bisschen Staub auf dem Manuskript, als Bach starb.


    Wahrscheinlich hätte er später eine Druckfassung der Kunst der Fuge komplettiert und möglicherweise als „Clavierübung V“ herausgebracht und als vor seinem Ruhestand letzten Jahresbeitrag für die „Correspondierende Societät der musicalischen Wissenschaften“ (= Mizlersche Societät), der u. a. auch Telemann, Händel und L. Mozart angehörten, eingereicht.


    Ebenso falsch, aber ebenso werbewirksam fährt die Anmerkung auf dem Titelblatt fort:
    „... man hat dahero die Freunde seiner Muse durch Mittheilung des am Ende beygefügten vierstimmig ausgearbeiteten Kirchenchorals, den der selige Mann in seiner Blindheit einem seiner Freunde aus dem Stegreif in die Feder dictiert hat, schadlos halten wollen.“
    Gemeint ist die zu den ‚18 Leipziger Chorälen’ gehörende Bearbeitung des Liedes „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ BWV 668.


    Allerdings hatte Bach schon 1739 bis 1742 diese Sammlung aus Überarbeitungen früherer Werke zusammengestellt und jetzt neben einigen Veränderungen, die aber eher Korrekturcharakter haben, die Titelzeile des ebenfalls auf diese Melodie schon lange und häufig gesungenen Textes „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ darüber gesetzt, um es für die erneute Überarbeitung der Sammlung der ‚18 Leipziger Choräle’, mit der er sich gerade beschäftigte, zu verwenden.
    Das Ergebnis firmiert unter BWV 668a, ist aber nicht mit der Komposition identisch, die die Familie an den Schluss der Kunst der Fuge hat setzen lassen. Das ist lediglich die etwas ältere Version 668, wie sie auch in den 18 Leipzigern von 1739-42 vorhanden ist. Es ging wohl schon direkt nach Bachs Tod mit den verschiedenen Bearbeitungen drunter und drüber.


    Der Text auf dem Titelblatt der Kunst der Fuge ist also auch nur gutes Marketing, einen Zusammenhang wollte Bach selbst sicher nie herstellen, denn die Choralbearbeitung ist ein völlig stilfremder Appendix.
    Es war eben noch eine leere Seite der Druckausgabe zu füllen, und das ist unter diesem eher gefühligen Vorwand mit eben dieser Choralbearbeitung für Orgel geschehen.

  • RE: Bach-Legenden – falsch, aber unausrottbar

    Gevatter Tod hat also nicht dem Genius während der Arbeit die Feder aus der Hand gewunden – es lag schon ein bisschen Staub auf dem Manuskript, als Bach starb.

    Lieber Hildebrandt,


    es ist fraglich, ob die unvollendete Fuge überhaupt von Bach als Bestandteil der "Kunst der Fuge" komponiert worden ist. Es handelt sich um eine Tripelfuge, bei deren erstem Thema man eine gewisse Verwandtschaft mit dem "Kunst der Fuge"-Thema


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    konstruieren kann, und zwar durch den Quintsprung aufwärts und den nachfolgenden Terzsprung abwärts (mit Durchgangsnote). Das ist allerdings viel weniger überzeugend als bei den übrigen Fugen bzw. Kanons, die das Thema variiert verwenden.


    Eine Legende dürfte auch sein, dass Bach diese unvollendete Fuge als Quadrupelfuge angelegt hat. Nachdem jedes der drei Themen einzeln exponiert und durchgeführt wurde (und sich dies von Thema zu Thema verkürzt) und die drei Themen kombiniert wurden, kann man sich schwerlich noch ein viertes Thema vorstellen - der Höhepunkt ist eigentlich schon erreicht, und die Frage, wie die Fuge denn nun fortzusetzen wäre, hat bisher niemand schlüssig und überzeugend beantworten können. Sehr wahrscheinlich ist die Fuge nur durch das Manuskript-Chaos nach Bachs Tod in die "Kunst der Fuge" hineingeraten; seine Söhne, die den Nachlass sichteten und den Druck vorbereiteten, kannten seine Pläne offenbar nicht.


    Viele Grüße von
    Fugato


  • Alles richtig, was Du schreibst, Fugato.


    Aber alles nicht zu beweisen. Immerhin hat der Carl Philipp seine Finger beim Druck im Spiel gehabt. Ebenso möglich, dass ihm, der es eigentlich hätte wissen müssen, ein paar Blätter aus Papas Arbeitsheften mit dieser ominösen abgebrochenen Fuge – absichtlich oder nicht – hineingeraten sind.
    Das wissen wir nicht genau. Deshalb habe ich das weggelassen.


    Plädieren wir doch gemeinsam dafür, dass die Kunst der Fuge 1742 eigentlich schon fertig war und Bach gar keine großen Änderungen mehr vornehmen, sondern vielleicht für den Druck nur die Reihenfolge ändern wollte, wie er es ja schon einmal bei den Kanonischen Veränderungen über "Vom Himmel hoch..." gemacht hat.
    Das wäre doch eine plausible These. :D


    Jedenfalls hat man damit eine komplette Fassung.

  • Lieber Hildbrandt,


    vor Äonen hatte ich mal den Kolneder (2. Auflage 83 [!]) durchgeackert.
    Seitdem hat sich in viel getan.
    Wie sieht es heute damit aus?


    audiamus


    .

    "...es ist fabelhaft schwer, die überflüssigen Noten unter den Tisch fallen zu lassen." - Johannes Brahms

  • Kolneder kann man immer noch gut als Grundlage verwenden, wenn man von der natürlich nicht mehr aktuellen Diskographie absieht.



    Mein letzter Stand bezieht sich auf Dirksen. Inzwischen – also seit 1994 – ist sicher das eine oder andere dazugekommen. Bei Gelegenheit werde ich das auch einmal zusammensuchen und ggf. dann berichten.


    [Blockierte Grafik: http://www.pieterdirksen.nl/Images/kdf.jpg]

  • Mein letzter Stand bezieht sich auf Dirksen. Inzwischen – also seit 1994 – ist sicher das eine oder andere dazugekommen. Bei Gelegenheit werde ich das auch einmal zusammensuchen und ggf. dann berichten.

    Da kann ich nicht mithalten - mein letzter Stand ist 40 Jahre älter (Leonhardt).


    Viele Grüße von
    Fugato


  • mein letzter Stand ist 40 Jahre älter (Leonhardt).


    Den brauchen wir bei einer der nächsten Folgen noch: "Bach hat keine Instrumentierung für die Kunst der Fuge festgelegt"


    Auf Leonhardt baut Dirksen auf und trägt neues Material zusammen. Am Ende kommt, was kommen muss.
    Außerdem hat er sich mit allerlei Literatur auseinandergesetzt, die zwischenzeitlich erschienen ist.
    Sehr empfehlenswert.

  • Aus gegebenem Anlass eine Programmänderung:


    2: Zu Lebzeiten weniger berühmt als Telemann?

    1722 starb der Leipziger Thomaskantor Johann Kuhnau. Als Nachfolger für diesen Posten bewarben sich unter anderem Georg Philipp Telemann, Johann Christoph Graupner und Johann Sebastian Bach.


    Telemann, damals Musikdirektor der Stadt Hamburg, war offensichtlich die erste Wahl des Leipziger Rats, weil er, so das Ratsprotokoll, "nun wegen seiner Music, in der Welt bekant wäre". Er hatte in Leipzig ein Collegium musicum gegründet und war auch als Organist in guter Erinnerung. Telemann stellte etliche Forderungen (u. a. Befreiung vom Lateinunterricht an der Thomasschule, der Aufgabe des Kantors war, und Leitung der Musik auch an der Universitätskirche), die ihm bewilligt wurden, sagte dann aber trotzdem ab, weil der Hamburger Rat ihm eine Gehaltserhöhung gab.


    Nach der Absage Telemanns wollte der Rat Graupner nach Leipzig holen. Graupner war selbst Thomasschüler gewesen und hatte Unterricht bei Kuhnau und dessen Vorgänger Johann Schelle gehabt. Er war Kapellmeister in Darmstadt und nicht abgeneigt, nach Leipzig zu gehen, aber Moritz Landgraf von Hessen wollte ihn nicht ziehen lassen und gab ihm eine erhebliche Gehaltszulage. Auch Graupner sagte ab.


    Als Bewerber waren nun noch Johann Friedrich Fasch (Kapellmeister in Böhmen), Georg Balthasar Schott (Organist an der Neuen Kirche) und Johann Sebastian Bach in der engeren Wahl. Offenbar war der Rat aber von den verbleibenden Kandidaten nicht sonderlich begeistert, was den Leipziger Ratsherrn Abraham Christoph Plaz (der gleichzeitig einer der drei Bürgermeister der Stadt war) zu der unsterblich gewordenen Bemerkung veranlasste: "da man nun die Besten nicht bekommen könne, so müße man mittlere nehmen".


    In Bezug auf Bach ist dies aus heutiger Sicht (!) natürlich ein Fehlurteil, wie es krasser nicht hätte ausfallen können. Es ist jedoch zu bedenken, daß Bach damals als Komponist wenig bekannt war, weil kaum etwas von ihm im Druck erschienen war. Er war zwar ein berühmter Orgelvirtuose, aber das Orgelspiel war nicht die Hauptaufgabe des Thomaskantors.


    Die damaligen Ereignisse um die Besetzung der Thomaskantorenstelle waren der Telemann-Rezeption in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gerade zuträglich. Bachfreunde, die "ihren" Meister teilweise geradezu fanatisch verehrten, stempelten Telemann als geschäftstüchtigen Vielschreiber ab, dem es nur darum gegangen war, beim Hamburger Rat ein höheres Gehalt herauszuschlagen. Sicher besteht ein deutlicher qualitativer Unterschied zwischen Bachs und Telemanns Musik, andererseits aber auch ein ebensolcher Unterschied zwischen Telemann und anderen Komponisten dieser Zeit. Erst im Zuge der historischen Aufführungspraxis wurde sein umfangreiches Schaffen wiederentdeckt und gewürdigt. Neben Bach und Händel wird er heute als einer der bedeutendsten deutschen Komponisten des Hochbarock angesehen.


    Wo hier nun das "Bach-Märchen" und die Legende sein soll, vermag ich noch nicht zu erkennen - darüber wäre jetzt zu diskutieren :D


    Viele Grüße von
    Fugato



  • 1722 starb der Leipziger Thomaskantor Johann Kuhnau. Als Nachfolger für diesen Posten bewarben sich unter anderem Georg Philipp Telemann, Johann Christoph Graupner und Johann Sebastian Bach.


    Eine kleine Präzisierung: Graupner und Bach bewarben sich erst, nachdem Telemann seine Kandidatur zurückgezogen hatte, sie konkurrierten miteinander, aber eben nicht mit Telemann.

    Zitat

    Als Bewerber waren nun noch Johann Friedrich Fasch (Kapellmeister in Böhmen), Georg Balthasar Schott (Organist an der Neuen Kirche) und Johann Sebastian Bach in der engeren Wahl. Offenbar war der Rat aber von den verbleibenden Kandidaten nicht sonderlich begeistert, was den Leipziger Ratsherrn Abraham Christoph Plaz (der gleichzeitig einer der drei Bürgermeister der Stadt war) zu der unsterblich gewordenen Bemerkung veranlasste: "da man nun die Besten nicht bekommen könne, so müße man mittlere nehmen".


    In Bezug auf Bach ist dies aus heutiger Sicht (!) natürlich ein Fehlurteil, wie es krasser nicht hätte ausfallen können. Es ist jedoch zu bedenken, daß Bach damals als Komponist wenig bekannt war, weil kaum etwas von ihm im Druck erschienen war. Er war zwar ein berühmter Orgelvirtuose, aber das Orgelspiel war nicht die Hauptaufgabe des Thomaskantors.


    Der Ausspruch des Ratsherrn Plaz relativiert sich weiter, wenn man bedenkt, dass zu den Aufgaben des Thomaskantors auch schulischer Unterricht in Latein gehörte. Graupnner hatte da wesentlich bessere Voraussetzungen. Bach war insofern aus seiner Familientradition ausgebrochen, das er keine handwerklich-musikalische Lehre durchgemacht hat, und statt dessen erfolgreich das Gymnasium besucht hatte. Damit endete aber auch seine akademische Ausbildung. Graupner dagegen konnte ein Universitätsstudium aufweisen, was in den Augen der Leipziger Ratsherren mit Sicherheit einiges an Gewicht hatte.


    Bedenkt man das alles, kann man wohl verstehen, dass nach den "Besten", nämlich dem "weltberühmten" Telemann und dem bekannten Musiker mit Universitätsausbildung Graupner und deren Absage der "Mittlere", nämlich der vor allem als Orgelvirtuose bekannte Bach, gewählt wurde.


    Beste Grüße, Reinhard

    Der allgemeine Grund=Satz der gantzen Music, auf welchen die übrigen
    Schlüsse dieser Wissenschaft und Kunst zu bauen sind, besteht in
    folgenden vier Wörtern: Alles muß gehörig singen (nach Mattheson, 1739)

  • Wo hier nun das "Bach-Märchen" und die Legende sein sol


    Es gibt eine andere Sichtweise, die einiges für sich hat und die streng den Ereignissen folgt:



    11. August 1722: Der Leipziger Rat beruft Telemann als eindeutigen Spitzenkandidaten der Anwärterliste auf den Posten des Thomaskantors.
    August 1722: Telemann legt die Kantoratsprobe in Leipzig ab, der genaue Termin ist unbekannt.


    Telemann lehnt im November 1722 den Ruf endgültig ab. Sein Salär in Hamburg wird erheblich erhöht, die Leitung der Oper am Gänsemarkt und des Collegium Musicum wird ihm übertragen – offenbar überzeugende Argumente.


    Der Rat kann sich auf keine Rangfolge der Kandidaten einigen. Außerdem ist man uneins über der Frage, ob man einen guten Lehrer für die Thomasschule einstellen oder mit Dresden, Hamburg und Frankfurt um den Vorrang unter den kulturell bedeutsamen Städten konkurrieren und möglichst eine ‚musikalische Berühmtheit’ engagieren soll. Letztere Ansicht wird vor allem vom Leipziger Bürgermeister durchgesetzt, der sich dazu auch einiger Tricks bedient.


    21. Dezember 1722: Bach und Graupner kommen als neue Bewerber auf die Liste des Rates. Fasch wird gestrichen.
    Bach und Graupner werden zur Kantoratsprobe gebeten. Die Texte der Probenkantaten werden aus Leipzig zugesandt.
    Graupner ist zuerst dran und überzeugt, bevor Bach überhaupt an der Reihe ist, muss jedoch verzichten, weil sein Dienstherr ihn nicht entlassen will – womit man in Leipzig jedoch offensichtlich schon gerechnet hatte.


    Bach führt die Kantaten BWV 22 und 23 Anfang Februar 1723 auf und wird, da er auch die „Lehrprobe“ als Lateinlehrer an der Thomasschule bestanden hatte, am 22. April einstimmig vom Rat gewählt. Zuvor hatte auch Graupner brieflich sich für Bach eingesetzt, und der Bürgermeister votierte abschließend für Bach, indem er davon sprach, dass es nötig wäre, „auf einen berühmten Mann bedacht zu sein“.


    Sehr viel ausführlicher kann man das bei Wolff nachlesen, aus meiner arg gerafften Zusammenfassung kann man aber auch erkennen, dass Bach durchaus nicht dritte Wahl war.

  • Die Legende "h-moll Messe"

    Ich darf vielleicht ein wenig provozieren... :o:
    Seit langem bin ich der Auffassung, dass zwar das Werk, das wir heute als "Messe in h-moll" kennen ein wunderbares Stück Musik ist, doch eigentlich keine "Messe" sei. So auch nicht "Krone der Kirchenmusik", "Die herrlichste Messe aller Zeiten" und so weiter. Messe in der Form, wie bei der h-moll Messe, also in 5 Teilen (von Kyrie bis Agnus) gab es damals eigentlich nur bei der Römisch-Katholischen Kirche. Doch diese Messe ist nich römisch-katolisch, schon weil im Gloria eine protestantische Textvariante benutzt wird.
    Aber das wichtigste: das Werk ist nie und nimmer ein liturgisches Werk. Niemand könnte die h-moll Messe als bestandteil einer Liturgie sich vorstellen. Und seien wir mal ehrlich: bis Beethoven kam, war die konzertane Aufführung einer Messe etwas absurdes. Bach hatte sicherlich nie daran gedacht dieses Werk in derer mehr als anderthalbstündigen Ausmaßen in Fürstenhöfen, nicht zu sagen auf einer Opernbühne :D aufzuführen. In einer protestantischen Liturgie ist das Zyklus auch unvorstellbar.
    Was nun?


    Schöne Musik, keine Frage, aber Kirchenmusik? Nö, das ist sie nicht.

    "Vor dem Essen, nach dem Essen,


    Biber hören nicht vergessen!"



    Fugato

  • Da könnte man die oft gelesene Behauptung, es sei das letzte Werk gewesen, an dem er arbeitete, in Ahnung seiner bevorstehenden Himmelfahrt, um seinen Schöpfer angemessen zu begrüßen, gleich hinzufügen ...

  • Guten Tag,


    Bachs Amtsnachfolger Georg Christoph Biller meinte in einem Interview, dass Bach seine h-moll-Messe zur Feier der Einweihung der Dresdner Hofkirche 1751 komoniert hätte.


    Für Teile der Messe wurden verschiedendlich spezielle Anlässe, z.B. Einweihung des Umbaues der Leipziger Thomasschule etc., vorgeschlagen; letzte Beweise fehlen (bisher).




    Gruß :wink:


    Deio

    " Ein Kluger bemerkt alles, ein Dummer macht über alles eine Bemerkung !"


    (Heinrich Heine)

  • Wenn ich mich richtig erinnere, hatte Bach eine Reinschrift des Kyrie und Gloria beim sächsischen Hof eingereicht, um von August dem Starken (der, um König von Polen werden zu können, zum Katholizismus konvertiert war) den Titel "Hofcompositeur" zu erhalten. Bach erhoffte sich durch diesen Titel eine bessere Position in den Verhandlungen mit dem Leipziger Rat.


    Tschabrendeki hat insofern recht, als diese Messe wohl von Bach nicht von vornherein als Gesamtwerk konzipiert war. Er stellte sie vielmehr aus Vorhandenem zusammen, überarbeitete einiges und komponierte einiges neu hinzu. Was ihn dazu motiviert hat, ist strittig - hier gibt es unterschiedliche Theorien bis hin zu der Behauptung, er sei kurz vor seinem Tod zum Katholizismus konvertiert.


    Es ist natürlich die Frage, wie man "Kirchenmusik" definiert. Daß christliche Glaubensinhalte zu dieser Musik gehören, ist sicher unstrittig; die Frage ist, in welchem Rahmen Bach an eine Aufführung gedacht hat. Dabei sollte man nicht die heutigen Maßstäbe anlegen - die Matthäus- und Johannespassion wurden ja auch trotz ihres Umfangs in der Kirche aufgeführt.


    :wink: Fugato


  • Lieber Fugato,

    Sicher besteht ein deutlicher qualitativer Unterschied zwischen Bachs und Telemanns Musik,

    ich glaube, darüber wäre erst einmal zu diskutieren :)



    Liebe Grüße


    Andreas, der auch Fasch keinesfalls zu den Mittelmäßigen zählen würde

  • Bachs Amtsnachfolger Georg Christoph Biller meinte in einem Interview, dass Bach seine h-moll-Messe zur Feier der Einweihung der Dresdner Hofkirche 1751 komoniert hätte.


    Für Teile der Messe wurden verschiedendlich spezielle Anlässe, z.B. Einweihung des Umbaues der Leipziger Thomasschule etc., vorgeschlagen; letzte Beweise fehlen (bisher).

    Hmm... Bach war ja schon um 1750 tot... Und damals wurden keine Bewerbungen augeschrieben für solche Anlässe. Und: Hasse war damit beauftragt, die Einweihungsmesse zu schreiben. Also: Legende.


    Wenn ich mich richtig erinnere, hatte Bach eine Reinschrift des Kyrie und Gloria beim sächsischen Hof eingereicht, um von August dem Starken (der, um König von Polen werden zu können, zum Katholizismus konvertiert war) den Titel "Hofcompositeur" zu erhalten. Bach erhoffte sich durch diesen Titel eine bessere Position in den Verhandlungen mit dem Leipziger Rat.


    Tschabrendeki hat insofern recht, als diese Messe wohl von Bach nicht von vornherein als Gesamtwerk konzipiert war. Er stellte sie vielmehr aus Vorhandenem zusammen, überarbeitete einiges und komponierte einiges neu hinzu. Was ihn dazu motiviert hat, ist strittig - hier gibt es unterschiedliche Theorien bis hin zu der Behauptung, er sei kurz vor seinem Tod zum Katholizismus konvertiert.

    Ich möchte noch einmal bekräftigen: die h-moll Messe ist keine katholische Messe. Liest den Text des Sanctus!
    "... Pleni sunt coeli gloria eius." - die katholische Messe hat da: "...gloria tua"!!!
    So aber haben die Protestanten den Santus gesungen.
    Q.e.d.: die h-moll Messe - besser gesagt, ihre Teile gehören zur Lutherischen Liturgie, nicht zur Katolischen.
    Oder:
    Zitat aus dem Booklet zu 2ten Herreweghe-Einspielung: das Osanna war "in der Leipziger Liturgie nicht Teil des Sanctus, sondern ein eigenständiger Abschnitt [...]"
    Also das Werk gehört zur Leipziger - Lutherischer - Liturgie, nicht zur Katoholischen. Das zeigt auch, dass der Sanctus ursprünglich (und ohne Osanna!) eine Weihnachtskantate war. So ist er auch aufgeführt worden in 1724.


    In Venedig (gelegentlich auch in Rom; s. Pergolesi: Missa Romana) war es Pflege, nur die Messteile Kyrie und Gloria (oder nur Gloria!) in Musik zu setzen - diese aber in Kantatenform (s. Vivaldis Glorien, Lotti: Missa sapientiae). So, wie auch die "Missa" der h-moll Messe gesetzt ist. In dieser Form eine ganze Messe zu setzen: daran hat niemand ernsthaft dedacht: sie wäre ja zu lang gewesen (so wie das mit der h-moll Messe geschieht).
    Wenn man in katholischen Landen eine ganze Messe setzen wollte, hat man meitens die Gloria als dreiteilig, das Credo als drei- oder vierteilig gesetzt.
    Die Tradition, an der Bach anknüpft passt also nur für die Aufführung einzelner Messteile, aber nicht für eine "Missa tota".


    Oben gelang es schon zu zeigen, das die h-moll Messe eine Luterisch konzipierte Messe sei.
    Kyrie und Gloria - zusammen die eigentliche "Missa", wie das Bach vermerkt. Also eine "Missa brevis", wie wir seine andere Messen auch kennen, bloß größer, solemniter.
    Credo
    - besser gesagt das "Symbolum Nicenum", wie es Bach nennt. Das zeigt dann auch, dass hier wir nicht ganz mit einem gewöhnlichen Credo zu tun haben. Wieder kantatenartig gesetzt, wie die Credos von Vivaldi oder Lotti (letztere könnte Bach auch gekannt haben). Aber auch diese waren nicht als Teil einer Messe gedacht, sondern als alleinstehende Sätze.
    Sanctus - wie oben schon gezeigt: ganz "einfach" eine Weihnachtskantate, wie man das in Lepizig pflegte.
    Osanna - Benedictus cum Osanna - Interessant, das Bach das so einteilte. Eine Möglichkeit wäre anzunehmen, das da um eine Kantate handelt: Eröffnungschor: Osanna - Mittelteil: Benedictus - Schlusschor: Osanna
    Agnus Dei - Könnte wieder ruhig um eine Kantate handeln. Man mag auch den Text sich ansehen! Nur: "Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis" Und: nur einmal! (in der katholische Liturgie wird zweimal mit: "miserere nobis" ausgerufen, und noch einmal mit "dona nobis pacem". Letzteres fehlt hier.
    Dona nobis pacem - so. Getrennt vom Agnus Dei. Und nur auf den Text: "Dona nobis pacem", also ohne "Agnus Dei, qui.. usw.!
    Von der Katolischen Liturgie her ist die h-moll Messe ein Nonsens.


    Bach aber kannte die katholische Liturgie, hat ja Messen von Palestrina, Kerll, Lotti, Fux, Zelenka usw. studiert. Wenn er also eine katholische Messe zu schreiben vorgehabt hätte, hätte er das auch wahrscheinlich tun können.


    Fazit: wenn die h-moll Messe Bach sich wirklich als zyklische Messe gedacht hat, dann nur für die lutherische Liturgie; noch wahrscheinlicher aber handelt es sich um ein Compendium von nicht zusammenhängender Sätzen, die alleine, oder nach belieben kombieniert, doch nicht als Ganzes aufgeführt werden können.


    Als Einweihungsmesse - überhaupt: als Messzyklus nach katholischer Liturgie - ist sie unvorstellbar. (ich bin kein Cecilianer: man möge nur die h-moll Messe mit katholischen Barockmessen vergleichen!)

    "Vor dem Essen, nach dem Essen,


    Biber hören nicht vergessen!"



    Fugato

  • Guten Tag,


    ersts Kompliment für den fundierten Beitrag.


    Bachs h-moll-Messe wäre eigentlich einen eigenen Thread wert !


    Hmm... Bach war ja schon um 1750 tot... Und damals wurden keine Bewerbungen augeschrieben für solche Anlässe. Und: Hasse war damit beauftragt, die Einweihungsmesse zu schreiben. Also: Legende.


    Bach wußte, als der die Messe zusammenstellte ja noch nicht, dass er schon 1750 sterben würde ?!


    Zitat

    Ich möchte noch einmal bekräftigen: die h-moll Messe ist keine katholische Messe.


    Interessant aber, dass im Nachlaßverzeichnis von Carl Philipp Emanuel Bach sie als
    "Die große catholische Messe" aufgelistet war.


    Gruß :wink:


    Deio

    " Ein Kluger bemerkt alles, ein Dummer macht über alles eine Bemerkung !"


    (Heinrich Heine)


  • Bach wußte, als der die Messe zusammenstellte ja noch nicht, dass er schon 1750 sterben würde ?!

    Eben das zeigt, dass er auch sie nicht als Einweihungsmesse plante. :P



    Interessant aber, dass im Nachlaßverzeichnis von Carl Philipp Emanuel Bach sie als
    "Die große catholische Messe" aufgelistet war.

    Ja. Und er hat auch der Kunst der Fuge ein Choral hinzugefügt. Das sagt also garnichts. Nochmals: statt "gloria tua" - gloria eius"! Wie es in der protestantischen Liturgie vorgeschrieben ist!


    :wink: Tamás

    "Vor dem Essen, nach dem Essen,


    Biber hören nicht vergessen!"



    Fugato

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