Mahler: Symphonie Nr. 4 G-Dur – Eine verdächtige Idylle
I. Bedächtig. Nicht eilen
II. In gemächlicher Bewegung. Ohne Hast
III. Ruhevoll
IV. Sehr behaglich („Wir genießen die himmlischen Freuden“, Sopran-Solo nach Worten aus „Des Knaben Wunderhorn“)
Orchesterbesetzung: 4 Flöten (3. und 4. auch Piccolo), 3 Oboen (3. auch Englischhorn), 3 Klarinetten in B, A und C ( 2. auch Klarinette in Es, 3. auch Baßklarinette), 3 Fagotte (3. auch Kontrafagott), 4 Hörner, 3 Trompeten, Schlagwerk (Pauken, Große Trommel, Triangel, Schelle, Glockenspiel, Becken, Tam-tam), Harfe, Streicher
Spieldauer: ca. 54 Minuten
Entstehung: 4. Satz: 1892, 1.-3. Satz: 1899-1900, Instrumentierung: 1900/01
Uraufführung: München, 25.11.1901
Gustav Mahler ist das musikalische Idol meiner Jugend (dahinter 2. Charles Ives, 3. Igor Strawinski). Seiner Musik war ich schnell verfallen; am meisten faszinierten mich damals die düster-zerklüfteten Aspekte der Symphonien, vor allem die ersten beiden Sätze der 5., der Kopfsatz der 2. und die ganze 6. Symphonie, daneben der grandiose Kopfsatz der Dritten und Lieder wie Revelge und Wo die schönen Trompeten blasen. Mahlers Zerrissenheit, seine „Gebrochenheit“ zogen mich unwiderstehlich an.
Für die heiter-freundliche Stimmung der Vierten dagegen war ich damals weniger empfänglich. Das ist inzwischen - Mahler ist bei mir in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund geraten - anders: Zwei Begegnungen sind dafür verantwortlich: Einmal erlebte ich das Werk vor drei Jahren im Konzertsaal, in der kammermusikalischen Bearbeitung durch Erwin Stein (vgl. hier), die mich tief anrührte, mehr noch als viele Aufnahmen des Originals; dann lernte ich eine Einspielung kennen, die die Vierte endgültig wieder in meinen Fokus rückte, weil ich den besonderen Mahlerschen Tonfall hier in einer Weise getroffen fand, die mich vollends gewann:
Celestina Casapietra, Sopran; György Garay, Solovioline (2. Satz); Rundfunk-Sinfonie-Orchester Leipzig; Ltg.: Herbert Kegel (Berlin Classics, aufg. 1977/78):
Über dieser Symphonie liegt für mich etwas tief Geheimnisvolles, das ich gern ein wenig ergründen würde.
Am Anfang steht ein Gedicht:
ZitatAlles anzeigenDer Himmel hängt voll Geigen.
Bayerisches Volkslied.
Wir genießen die himmlischen Freuden,
Drum tun wir das Irdische meiden,
Kein weltlich Getümmel
Hört man nicht im Himmel,
Lebt alles in sanftester Ruh;
Wir führen ein englisches Leben,
Sind dennoch ganz lustig daneben,
Wir tanzen und springen,
Wir hüpfen und singen,
Sankt Peter im Himmel sieht zu.
Johannes das Lämmlein auslasset,
Der Metzger Herodes drauf passet,
Wir führen ein geduldigs,
Unschuldigs, geduldigs,
Ein liebliches Lämmlein zum Tod.
Sanct Lukas den Ochsen tut schlachten,
Ohn einigs Bedenken und Achten,
Der Wein kost kein Heller
Im himmlischen Keller,
Die Engel, die backen das Brod.
Gut Kräuter von allerhand Arten,
Die wachsen im himmlischen Garten,
Gut Spargel, Fisolen,
Und was wir nur wollen,
Ganze Schüssel voll sind uns bereit.
Gut Äpfel, gut Birn und gut Trauben,
Die Gärtner, die alles erlauben.
Willst Rehbock, willst Hasen?
Auf offner Straßen,
Zur Küche sie laufen herbei.
Sollt etwa ein Fasttag ankommen,
Die Fische mit Freuden anströmen,
Da laufet Sankt Peter
Mit Netz und mit Köder
Zum himmlischen Weiher hinein;
[Willst Karpfen, willst Hecht, willst Forellen,
Gut Stockfisch und frische Sardellen?
Sankt Lorenz hat müssen
Sein Leben einbüßen,]
Sanct Marta die Köchin muß sein.
Kein Musik ist ja nicht auf Erden,
Die unsrer verglichen kann werden,
Eilftausend Jungfrauen
Zu tanzen sich trauen,
Sankt Ursula selbst dazu lacht,
Cäcilia mit ihren Verwandten,
Sind treffliche Hofmusikanten,
Die englische Stimmen
Ermuntern die Sinnen,
Daß alles für Freuden erwacht!
Im naiv-kindlichen Volksliedton werden die Freuden des Paradieses gepriesen, mit teilweise fast anzüglichen Bildern, wenn etwa lustvoll vom Schlachten des „lieblichen Lämmleins“ geschildert wird. (Mahler hat die Stelle mit den Fischen, einschließlich der Anspielung auf den Martyrertod des heiligen Laurentius, der auf glühenden Kohlen zu Tode geröstet wurde, nicht mitvertont.) Schon dieses Gedicht enthält Züge der fast 100 Jahre später entstandenen Komposition: heiter-verspielte Glücksphantasien in kindlicher Übertreibung; die Als-ob-Fröhlichkeit, ein Frohsinn, dem nicht so recht zu trauen ist.
Das Gedicht stammt aus der 1806/08 erschienenen Sammlung „Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder“ – ein Werk, das Gustav Mahler so sehr inspirierte, daß er insgesamt 24 Lieder daraus vertonte, für Singstimme mit Klavier, auch mit Orchesterbegleitung. In die ersten vier Symphonien sind mehrere dieser Lieder eingearbeitet, teils als Orchesterzitat (1. und 2. Symphonie), teils mit Verwendung der Singstimme (2., 3. und 4. Symphonie).
Bereits 1892 hatte Mahler diesen Text vertont; als „Eine Humoreske (Nr. 4) für eine Singstimme mit Orchester“ sollte das Lied ursprünglich, unter dem Titel „Das himmlische Leben“, einem Zyklus von fünf „Humoresken“ angehören, der später als „Lieder aus des Knaben Wunderhorn“ erscheinen sollte. Dazu kam es nicht; statt dessen bildete es im Entwurf von 1896 den krönenden Abschluß der 3. Symphonie, Titel: „Was mir das Kind erzählt“. Tatsächlich enthält es literarisch wie musikalisch einige Bezüge zu dieser Symphonie, die dadurch siebensätzig und damit vermutlich zu groß proportioniert geworden wäre; Mahler beließ es schließlich dabei, seine Dritte mit dem langsamen Orchestersatz ausklingen zu lassen; das „himmlische Leben“ (auch dieser Titel wurde eliminiert) wurde schließlich zur Keimzelle der Vierten, indem Mahler in den Sommermonaten 1899 und 1900 (Mahler war damals Leiter der Wiener Hofoper: hier Näheres) die ersten drei Sätze komponierte und das Particell der Symphonie erstellte; mit der Instrumentierung beschäftigte Mahler sich im Winter 1900/01; jedenfalls mußte lange vor dem folgenden Herbst die gesamte Partitur vorgelegen haben, denn am 25. November 1901 leitete der Komponist selbst – mit dem Kaim-Orchester (dem Vorläufer der Münchner Philharmoniker) – die Uraufführung in München.
Die Reaktionen von Publikum und Kritik waren zwiespältig: von Enttäuschung ist die Rede angesichts der hohen Erwartungen, die sich nach der Aufnahme etwa der metaphysisch hochambitionierten Zweiten gebildet hatten: spätromantisches Pathos, Leidenschaft, Emphase fehlen in der Vierten; deren Orientierung an klassischen Modellen schien eher zu verwirren. In der Tat: Der erste Satz führt schon zu Beginn in eine idyllische Welt ein, die man mit einer heiteren Schlittenfahrt assoziieren könnte: Schellen (Adorno: „Narrenschellen), dazu gackernde Flöten, die ersten Violinen (denen in der Vierten wieder mehr klassische Dominanz eingeräumt wird als in den ersten drei Symphonien) führen ein Thema ein, das sich übertrieben-verspielt à la Haydn gebärdet, klassisch-viertaktik, mit klarem G-dur-Schluß, dann das Seitenthema, natürlich in der D-dur-Dominante; Posaunen und Tuba fehlen gänzlich: Mahler scheint eine Rokoko-Maske aufgesetzt zu haben. Die Gliederung in Exposition, Durchführung und Reprise mit Coda ist, für Mahler untypisch, relativ klar und durchsichtig. Einen Höhepunkt bildet das Ende der Durchführung: ein „absichtsvoll infantiles, lärmend lustiges Feld“, in das Trompetenfanfaren (die schon den Trauermarsch der Fünften leise ankündigen!) eingearbeitet werden: „So wie jenes Lärmfeld machen Kinder Lärm, die auf Töpfe schlagen und womöglich sie zusammenhauen“ (Adorno). Am Ende noch ein von Haydn her bekannter Scherz: Das Hauptthema noch einmal wie im Zeitraffer, bevor – ich empfinde es als grotesk – der Satz mit einer Schlußkadenz schließt, die mir wie ein „Super-Mozart“ vorkommt.
Der zweite Satz könnte den Titel „Freund Hein spielt zum Tanz auf“ tragen: „der Tod streicht recht absonderlich die Fiedel und geigt uns in den Himmel hinauf“, so Bruno Walter 1901, kurz nach der Uraufführung. Die vier Saiten der ersten Violine sind einen Ganzton höher gestimmt (Mahler: "wie eine Fiedel"), mit dem Ziel eines besonders schrillen und scharfen Effekts. Das skurril-phantastisch Scherzo enthält zwei Trios mit heiter-rustikalen und zuletzt ins Sentimentale gehenden Stimmungen; es „erhält seine besondere Farbe durch das Wechselspiel zwischen dem Ausdruck des Unheimlichen und des Idyllischen, durch die naive Drastik, mit der das Treiben der abgeschiedenen Seelen auf der Todeswiese sowohl von der grausigen wie von der friedvoll behaglichen Seite geschildert wird“ (Bekker).
Der dritte Satz („seelische(r) Angelpunkt des Werkes“, Bekker) ist ein ausgedehnter Variationensatz mit zwei Themen: „Schlicht singend hebt es an, in ständig sich steigernder Selbstenthüllung der Variationenkunst führt es hinauf zu den Höhen jenes Traumlandes, von dem die Vordersätze nur einen matten, irdisch gefärbten oder verworrenen Absatz bieten“ (Bekker). Nach einiger Zeit erfährt der Prozeß eine mehrfach ruckartige Beschleunigung, die Musik gerät in einen heftigen Strudel, sinkt dann aber wieder in Ruhe zurück und scheint sich leise auszusingen. „Der Satz ist eigentlich schon zu Ende, da bricht, gänzlich unerwartet, ein rauschendes E-Dur-Klangfeld in die G-Dur-Ruhe ein, über dem Trompeten und Hörner das große Thema aus dem Kopfsatz intonieren. Ist der Glanz vorbei, kehrt die Musik zur Ruhe zurück“ (Werbeck).
Diese Stelle ist für mich das Zentrum des ganzen Werks, darüberhinaus eine der mich am tiefsten bewegenden und erschütternden Stellen symphonischer Musik überhaupt – es ist wie ein Wunder, was da geschieht, „ein Moment von erschütternder Wirkung, dieses gewaltige Aufflammen des ganzen Klanges, das Wogen der Streicherarpeggien, der Harfenglissandi, die feierlich strahlende Pracht der Bläserharmonien“ (Bekker).
Doch was geschieht hier eigentlich? Ist es wirklich der Blick auf das Jenseits, der sich hier auftut? Die „visuelle Enthüllung der ‚Himmlischen Stadt’, die sich in den Augen des Kindes wiederspiegelt, mit dem sich der Komponist selbst identifiziert hat“(Redlich)? In diese Richtung geht auch Paul Bekker, dessen Glorifizierung mir allerdings verdächtig ist. Immerhin assoziiere auch ich hier, wenn auch nicht gänzlich anders, eine grandiose Sterbeszene, wie sie Berichten über Nahtoderlebnissen entspricht: der plötzliche Einfall einer Lichtwelt, die die Wahrnehmung zu einem riesigen Panorama weitet: „Sehr zart und innig“ und schließlich „Gänzlich ersterbend“ (so Mahlers Spielanweisungen) fällt alles wieder zusammen zu einem verklärenden Schein, und mir scheint es, als ob hinter einer milchig weißen Fläche kaum wahnehmbare, nur schwach konturierte Schemen sichtbar werden.
Ein „Wunder“ tut sich auch auf, wenn man in die Partitur blickt (Ziffer 12, Takte 315-317): eine auch graphisch höchst ansprechende Klangfläche mit 12-fach geteilten Streichern, von denen die 2. Violinen, Violen und Celli acht unterschiedliche 32tel-Bewegungen ausführen.
Im vierten Satz verläßt Mahler das klassizistische Schema: Das ist kein Finale im herkömmlichen Sinn, sondern – statt der bis dahin üblichen Sonaten- oder Rondoform – ein im Ton relativ schlicht gehaltenes Lied mit reduziertem Orchester: In der Partitur findet sich als „Anmerkung f. d. Dirigenten: Es ist von höchster Wichtigkeit, daß die Sängerin äußerst diskret begleitet wird“. Die vier Strophen (die 4. ist gekürzt mit der 3. zusammengefaßt, die 2. – mit der Schlachtung von Lämmlein und Ochsen, merkwürdig brutal! – führt einen Seitengedanken ein, während 3./4. und 5. die 1. variieren) sind durch vermittelnde Orchesterritornelle verbunden, die teilweise lärmend dazwischenfahren (auch das Schellengeläut des ersten Satzes kehrt wieder) und für Aufregung sorgen. Schon die Orchestereinleitung zeigt die charakteristische Mischung aus spielerischer Feierlichkeit und kindlichem Übermut.
Die letzte Strophe („Kein Musik ist ja nicht auf Erden...“) kehrt zum Eingangstempo zurück, mit der Anweisung: „Sehr zart und geheimnisvoll bis zum Schluß“: das „Paradies als Mysterium“ (Werbeck)? Jedenfalls folgt den letzten Worten der Solistin, in denen von freudigem Erwachen die Rede ist, ein leises Verklingen mit tiefen Harfenklängen und schließlich in den Kontrabässen, in der „falschen“ Tonart E-Dur (statt G-Dur) – mit der Anweisung „morendo“: ersterbend.
Wie läßt sich die 4. Symphonie verstehen? Gibt es so etwas wie ein poetisches Programm?
Im Unterschied zu den ersten drei Symphonien, bei deren Erstaufführungen poetische Untertitel und außermusikalische Programme veröffentlicht wurden (offensichtlich mit Zustimmung des Komponisten), hatte Mahler anläßlich der Erstveröffentlichung der Partitur 1902 alle programmatischen Spuren getilgt. „Briefe Mahlers, sowie die Erinnerungsbücher seiner Witwe, belehren uns aber darüber, dass die Symphonie als Wunschtraum eines Kindes konzipiert worden war und dass es gewisse tonpoetische Elemente in seinem vokalen Finalsatz enthält, der in bunten Farben ein himmlisches Schlaraffenland entstehen lässt“ (Redlich). Für Bekker ist sie eine „traumhafte Fahrt hinauf zur paradiesischen Himmelswiese“: „jener letzte Aufenthaltsort [...], wo jeder Wunsch in Erfüllung geht, und die Geister im seligen Spiel tanzen und singen.“
Mit dieser optimistisch-verklärenden Sicht, die auch heute noch vertreten wird, konkurriert eine pessimistischere Sicht (die auch mir plausibler erscheint), in der die Idylle, die die Vierte ausbreitet, als gefährdet bzw. unerreichbar erscheint: In Anlehnung an Adorno („Ein Meisterwerk wie die Vierte Symphonie ist ein Als-Ob von der ersten bis zur letzten Note“) meint Werbeck: „[...] treffender ist diese Musik wohl nie charakterisiert worden. Sie spielt mit uns. Die heile Welt, die sie so plakativ vorgaukelt, karikiert sie umso gründlicher. Will Mahler das Bild einer ungetrübten Gegenwelt entwerfen, bedient er sich der schockierenden Seiten, die ihm die reale Welt bot. Immer ist das Schöne durch das Hässliche, die Freude durch Trauer grundiert. Darin liegt das ‚humoristische’, wie Mahler es, wohl in Anlehnung an Jean Paul, verstand [...]. Und wahrscheinlich hat er diese Doppelbödigkeit, die Gebrochenheit von Weltlauf und Idylle, nie eindrücklicher auskomponiert als in der IV. Symphonie.“
Wie hört und seht Ihr die 4. Symphonie Gustav Mahlers?
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Verwendete Literatur:
- Gustav Mahler, Symphony No. 4 G major/G-Dur/Sol majeur, hrsg. von Hans F. Redlich. Mainz 1966 (Partitur mit Einführung)
- Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von L. Achim von Arnim und Clemens Brentano, nach dem Text der Erstausgabe von 1806/08. München o. J.
- Paul Bekker, Gustav Mahlers Sinfonien. Tutzing 1969 (Reprint von 1921)
- Theodor W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik. Frankfurt/M. 1960
- Walter Werbeck, IV. Symphonie in G-Dur. Werkbetrachtung und Essay. In: Renate Ulm (Hrsg.), Gustav Mahlers Symphonien. Entstehung – Deutung – Wirkung. Kassel 4. Aufl. 2007