Holst, Gustav - Musik jenseits von Mars und Neptun
8. September 1931: Der letzte Ton der Sopran-Solistin verschwebt im Kirchenschiff der Gloucester Cathedral. Einige im Publikum beginnen zögernd zu applaudieren. Die meisten aber sehen einander fragend an: Was, bitte, soll das gewesen sein? 20 Minuten zumeist statische und ziemlich dissonante Musik mit ein paar rauhen Orgelsätzen, ein paar grellen Akzenten von den Trompeten und Posaunen (die klangerweichenden Holzbläser fehlen, ebenso wie die romantischen Hörner, ganz), ein paar befremdliche Streicherlinien. Und Chöre. Chöre, die ganz entfernt an Choralsätze erinnern, aber diese Dissonanzen, diese Kadenzen zu Dreiklängen, die aber mit dem möglichst dissonantesten Ton wieder destabilisiert werden, shocking, das ist zuviel für die britische Seele, die sich ja zu dieser Zeit noch nicht einmal mit Mahler angefreundet hat. Welcher Komponist hat denn das verbrochen? Was? Gustav Holst? Man beginnt ganz automatisch das große Hymnenthema vor sich hinzusummen, das in der Orchestersuite "The Planets" den Jupiter krönt und mit dem Text "I vow to thee, my country" unterlegt fast eine Art zweite Nationalhymne darstellt . Derselbe Holst soll dieses seltsame Ding verbrochen haben? Doch Kenner zucken mitleidig die Achseln: Ja, der arme Holst, er hat sie nicht mehr alle, schon längst nicht mehr, es fällt ihm nichts mehr ein. Seinerzeit "The Planets". Und jetzt so grauenhaftes Zeug. Man raunt einander zu: Yes, diese Choral Fantasia ist wirklich awful, aber es gibt noch Schlimmeres. Wer "Egdon Heath" nicht gehört hat, weiß nicht, was wirklich schlimm ist.
So ist es geblieben. Bis zum heutigen Tag. "The Planets" füllen spaltenlang die CD-Kataloge. Es gibt seitenlange Analysen, es ist eines der wenigen Werke des 20. Jahrhunderts, das sich weltweit im Konzertrepertoire behauptet und das es geschafft hat, daß nahezu jeder halbwegs prominente Dirigent es irgendwann in seiner Karriere aufgeführt hat.
Hier soll aber von dem anderen Gustav Holst die Rede sein. Von dem Gustav Holst, der zu den brillantesten Köpfen zählt, auf welche die Musik Großbritanniens verweisen kann; von dem Gustav Holst, der einer der wahrhaft Großen des 20. Jahrhunderts war und der das singuläre Pech hatte, mit seinem wirkungsvollsten, keineswegs aber besten Werk einen Jahrhunderterfolg zu landen.
Gustav Holst wird am 21. September 1874 in Cheltenham geboren. Seine Vorfahren sind Letten und Schweden, sein voller Taufname ist Gustavus Theodore von Holst. Sein
Leben verläuft wenig spektakulär: Er studiert Komposition bei Charles Villiers Stanford und Posaune, ist in diversen Orchestern als Posaunist tätig, dann als Musiklehrer und schließlich als Kompositionsprofessor am Royal College of Music und der Universität in Reading. Am 25. Mai 1934 stirbt Holst in London. Seine Tochter Imogen ist als Komponistin, Dirigentin und Verfasserin musikdidaktischer Arbeiten hervorgetreten und war Assistentin von Benjamin Britten.
Holst litt ab seinem 17. Lebensjahr an einer chronischen Nervenentzündung im rechten Arm, die auch das Schreiben schmerzhaft machte. Beim Schreiben der Partituren stützt sich Holst daher die Hilfe von Assistenten. Von den "Planets" etwa existiert lediglich von "Merkur" eine Partitur in Holsts eigener Handschrift. Dennoch lässt es sich der Komponist nicht nehmen, bei größter Hitze Fahrradausflüge zu unternehmen. Und er lernt Sanskrit, da ihn die indische Kultur fasziniert und er einige Texte vertonen möchte - deren Übersetzungen ihm jedoch nicht geheuer sind. Also übersetzt er selbst aus der Originalsprache.
Der junge Holst hat als großes Vorbild Richard Wagner, und er hat auch ein Problem, um das ihn andere Komponisten beneiden, das bei ihm aber zum Stolperstein wird: Er ist ein fabelhafter Melodiker. Es fällt ihm immer etwas ein, das ins Ohr geht, das man eventuell sogar nachpfeifen kann. Nur, daß Holst vorerst mit seinem Material ziemlich unkritisch umgeht. Er versieht es mit aparten Harmonien, einer mitunter zwischen Farbigkeit und Hypertrophie schwankenden Instrumentierung - und balanciert an der Grenze von reiner Unterhaltungsmusik und, ja, auch Kitsch. Eine "Suite de Ballet" (1899) ist ebenso übel wie die Symphony in F "Cotswolds" (1900). Sogar relativ spät, noch 1915, unterläuft Holst ein Geschmacksirrtum wie die "Japanese Suite".
Holsts zweiter Irrtum ist, daß er sich für einen begabten Librettisten hält und das Gegenteil davon ist. Darunter leidet seine musikalisch interessante Oper "Sita" (1906) ebenso wie die Parsifal-Parodie "The Perfect Fool" (1922), mit der sich Holst demonstrativ von Wagner lösen will, ohne zu merken, daß ihm das längst geglückt ist.
Andererseits gibt es auch in der Zeit vor den "Planeten" spannende Werke, die weit in die späte Phase des Komponisten vorausweisen. Da ist etwa "The Mystic Trumpeter" (1904) für Sopran und Orchester nach Walt Whitman: Das Modell ist zweifellos der Schlußgesang der Brünnhilde aus Wagners "Götterdämmerung". Dennoch geht Holst mit aparten Rhythmen und geradezu mystischen Akkordkombinationen eigene Wege. Auch die Werke aus dem Umkreis der Rig-Veda-Hymnen gehen eigene Wege, indem sie die fremde Kultur beschwören, ohne Exotizismen zu verwenden. Eher verschmilzt Holst die Kulturen zu einer ziemlich neuartigen Ausdruckshaltung. Auch das Orchesterwerk "Beni Mora" ist fabelhaft geglückt: Die Farben beschwören die arabische Kultur, sind jedoch weit entfernt von aufgesetzten Folklorismen.
Hauptwerk der ersten Schaffensphase ist aber die Kammeroper "Savitri" nach einer indischen Legende - zum einzigen Mal funktioniert auch Holsts eigener Text und ergibt ein Werk von einzigartiger Schonheit: Das Orchester wird gebildet aus drei Holzbläsern, doppeltem Streichquartett und Kontrabaß sowie einem kleinen Ensemble wortloser Frauenstimmen, die Solisten beschränken sich auf Sopran, Tenor und Bariton; das Werk dauert rund eine halbe Stunde. Der Inhalt ist, wie Savitri den Tod überlistet und ihren Mann Satyavan das Leben zurückgewinnt. Am Beginn und am Ende steht der unbegleitete Sologesang. Holst baut das Werk aus kleinen Floskeln auf, die sich immer mehr verdichten, zu einem überwältigenden Höhepunkt führen und dann wieder allmählich in Ruhe zurücksinken.
Und dann kommt "The Planets" (1916). Und alles, was Holst nachher schreibt, wird an diesem Werk gemessen. Nur: Holsts Ästhetik ist völlig anders geartet, "The Planets" ist ein Ausreißer. Holst strebt viel eher die konzentrierte kleine Form an, die er mit Delikatesse erfüllt, er steht einem weltoffenen, teils von fernöstlichem Gedankengut, teils von der britischen Folksmusik befruchteten Neoklassizismus näher als der Spätromantik. Während etwa Holsts Freund Ralph Vaughan Williams die Folkslieder in eine schwärmerische Pastoralmusik umformt, die vor dem Aug des Zuhörers die weite englische Landschaft mit ihren grünen Wiesen und dem tief hängenden Himmel erstehen läßt, werden die Volksmelodien bei Holst zu knorrigen, trotzigen Stücken, wie sie eigenbrötlerische Bauern singen würden. Man vergleiche nur Vaughan Williams "Greensleeves" mit Holsts "Brook Green Suite".
Obendrein interessiert sich Holst für Modalität und für die Überlagerung von Tonarten und Modi. Seine Bi- und polymodalen Werke , etwa das "Fugal Concerto" (1923) und das "Double Concerto" (1929), klingen frisch, herb und unpathetisch. Die Sätze sind knapp gefaßt, alles Überflüssige bleibt ausgespart.
1917 komponiert Holst das erste jener Werke, die ihn aus dem 20. Jahrhundert als einen der Großen herausheben: "A Hymn to Jesus" ist vom Gestus der religiösen Hymne denkbar weit entfernt. Weite Teile des Werkes verharren in gespannter Ruhe, man meint, die Nervenstränge der Musik vibrieren zu hören. Die Höhepunkte sind frei von triumphierendem Pathos, die Leuchtkraft der Musik weist ins Transzendentale, ohne sich herkömmlicher "Paradiesklänge" (Dreiklänge in hohen Streichern und Flöten etc.) zu bedienen. Die Musik ist herb, ihre Größe liegt in ihrer Intensität, nicht in ihrer Dynamik.
1924 schreibt Holst jenes Werk, das als zweiter Höhepunkt seines Schaffens gelten muß: Die "First Choral Symphony" (der nie eine Second folgte). Das Werk ist für Sopran Solo, Chor und großes Orchester geschrieben, die Texte stammen von John Keats. Sie umfaßt vier Sätze, von denen der erste sechs Abschnitte hat, der vierte sieben, der dritte ist zweigeteilt und der zweite, "Ode to a Grecian Urn" ist ein einziger Block, der auch separat aufgeführt werden kann. In diesem Werk summiert Holst sein gesamtes Können: Es gibt herbe solistische Linien, vorantreibende Rhythmen in ungeraden Taktarten (das Bacchanal des ersten Satzes macht etwa viel Gebrauch von 7/8) und statische Abschnitte, in denen die Zeit aufgehoben scheint, Quartenakkorde türmen sich auf, grelle Dissonanzen und tonale Oasen von eigentümlich herber Schönheit lösen einander ab.
1927 läßt Holst das seltsamste Werk folgen, das bis dahin in Großbritannien komponiert wurde: "Egdon Heath". Es ist eine Klanglandschaft, inspiriert von Thomas Hardys Roman "The Return of the Native" (1878). Hardy ist der große Tragiker der englischen Literatur. Wie kein zweiter verbindet er persönliche Schicksale mit Landschaften. In der Romantik scheinen die Landschaften in der Regel die Schicksale der Gestalten zu spiegeln. Bei Hardy ist die Landschaft am Menschen desinteressiert. Der Mensch ist in die Weklt geworfen, er nimmt sie wahr, sie aber ihn nicht. In Haolsts Musik erscheint solch eine Landschaft. Sie ist nicht sonderlich düster, nicht bedrohlich. Die Musik schildert sie auch nicht auf die herkömmliche Weise von Landschaftsmusiken. Es ist eine überwiegend leise Musik, herb, ausgespart. Wie die Landschaft agiert diese Musik nicht und sie reagiert nicht. Sie ist. "Egdon Heath" und die "Choral Fantasia" sind die Extrempunkte von Holsts Schaffen. Es sind Werke, deren Schönheit sich nur dem konzentrierten Hörer erschließt, der eigentlich ein Horcher sein und versuchen muß, sich diese Musik, die so weit entfernt von der mitreißenden Gestik der "Planeten" ist, anzueignen.
Doch Holst gönnt sich und dem Zuhörer auch im späteren Werk zwei herrliche Entspannungen: Die rund 50 Minuten dauernde Oper "At the Boar's Head" schildert Sir John Falstaff im Wirtshaus. Die melodien sind ausschließlich englische Volkslieder, der herbe, pikante Satz weist auf Brittens "Beggar's Opera"-Version voraus. Noch höher steht "The Wandring Scholar" (1930), eine prickelnde Komödie nach einem französischen Stoff - Spieldauer knapp 30 Minuten. Und die habens in sich: Das Orchester, bestehend aus Holzbläsern, Hörnern und Streichern, kichert und lacht und treibt das Geschehen voran. Die Singstimmen sprudeln den Text heraus, ariose Entladungen - kein Gedanke, hingestreute melodische Formeln allenfalls, nur so zum Kontrast. Ein Meisterwerk - und erfolglos. Denn wer "The Planets" geschrieben hat, möge, please, auch seine Opern in diesem Stil schreiben. Auch, wenn diese Musik dann nur talentiert wäre, während Holst sich tatsächlich längst in den Gefilden der Genialität bewegte.