Nicolas Gombert (um 1495-um 1560) - Meister des Klangstroms
1. Leben
Es gibt nur wenige gesicherte Daten über das Leben von Nicolas Gombert. Geboren wurde er um 1495, vermutlich in einem kleinen Dorf nahe Lille. Nach einem Hinweis von Heinrich Finck (1556) nimmt man an, dass Gombert von Josquin Despez (um 1450-1521) musikalisch ausgebildet wurde.
Ab 1526 gehörte Gombert als Sänger (und vermutlich auch Komponist) der Hofkapelle Kaiser Karls V. an, die eine der bedeutendsten der damaligen Zeit war. 1529 wurde Gombert vom Kaiser zum "Maistre des enfants de la chapelle" ernannt, er war damit zuständig für die Ausbildung, Erziehung und Versorgung der Chorknaben. Von 1530 bis 1532 reiste der Chor im Gefolge des Kaisers durch Italien, Süddeutschland, die Niederlande und Spanien. 1533 reiste Gombert in die Niederlande, um weitere Sänger für die Hofkapelle zu rekrutieren. 1537 wird sein Name letztmalig in den Rechnungsbüchern des kaiserlichen Hofes erwähnt. 1538 nahm Gombert wahrscheinlich an einem Treffen der drei bedeutendsten Hofkapellen (von Karl V., Franz I. und Papst Paul III.) teil, an dem 70 Sänger beteiligt waren.
1540 fand die steile Karriere Gomberts ein abruptes Ende: Nach einem Hinweis von Hieronymus Cardanus (Theonoston, 1560) hatte sich Gombert, der Priester war, sexuell an einem Chorknaben vergangen, worauf die Todesstrafe stand. Gombert wurde stattdessen vom Kaiser auf die Galeeren verbannt. Dies wird heute angezweifelt, weil Gombert die harte körperliche Arbeit auf den Galeeren sehr wahrscheinlich nicht überlebt hätte und während dieser Zeit auch nicht hätte komponieren können. Man vermutet, dass die Schilderung Cardanus' die offizielle Darstellung war, während Gombert tatsächlich nach Südspanien ins Exil geschickt wurde und sich für einige Jahre zurückziehen musste. Mit den dort entstandenen Kompositionen besänftigte Gombert Karl V., der ihn begnadigte, ihm aber eine Rückkehr an den Hof verbot. Ab etwa 1547 lebte Gombert dann in Tournai, wo er vermutlich 1560 starb (das Todesjahr wird zwischen 1556 und 1561 angenommen).
2. Werke
Gombert komponierte hauptsächlich geistliche Chormusik, wobei die Motette seine bevorzugte Kompositionsform war. 1539 und 1541 erschienen vier Bücher mit vier- und fünfstimmigen Motetten Gomberts im Druck. Da der Notendruck damals sehr aufwendig, teuer und in dieser Zeit überhaupt erst möglich geworden war, kann man davon ausgehen, dass Gombert von seinen Zeitgenossen als Komponist hoch geschätzt war. Neben diesen vier Büchern (die, wie damals üblich, in Stimmen und nicht in Partitur gedruckt wurden) sind weitere Motetten in Sammlungen und Handschriften überliefert.
Gombert komponierte ferner neun Messen (acht davon sind überliefert), von denen eine vermutlich 1530 bei der Krönung Karls V. in Bologna aufgeführt wurde. Überliefert sind ausserdem acht Magnificats sowie in Sammeldrucken etliche weltliche Lieder (Chansons).
Gombert war zu Lebzeiten ein berühmter Komponist, dessen Werke auch noch von den nachfolgenden Generationen hoch geschätzt wurden. So komponierte Claudio Monteverdi noch 1610 eine sechsstimmige Messe im Stil Gomberts. Trotz der herausragenden Qualität seiner Musik ist Gombert heute praktisch vergessen.
3. Besondere Merkmale von Gomberts Musik
Wer zum ersten Mal ein Werk von Gombert hört, wird sehr wahrscheinlich den Eindruck eines sich schwermütig dahinbewegenden dunklen Klangstroms haben, und in der Tat entspricht seine Musik kaum dem, was man von Vokalmusik der Renaissance gewohnt ist und erwartet. Besonders deutlich wird dies auch im Vergleich zur Musik von Gomberts vermutlichem Lehrer Josquin Desprez:
- Während Desprez Wert auf Textverständlichkeit legt, spielt sie bei Gombert eine untergeordnete Rolle. Der Text strukturiert das Werk (in der Motette "Media Vita" etwa ist jeder Textzeile ein eigenes Motiv zugeordnet) und färbt seine Grundstimmung, wird aber nicht ausgedeutet.
- Desprez benutzt Pausen, um die Musik zu gliedern und den Satz aufzulockern. Bei Gombert gibt es praktisch überhaupt keine Pausen, selbst nicht zwischen einzelnen Abschnitten eines Werkes. Die Musik strömt ohne hörbare Zäsuren dahin.
- Bei Desprez ist Vierstimmigkeit die Norm, Gombert erweitert den Satz auf fünf, sechs und mehr Stimmen (bis zur Zwölfstimmigkeit).
- Gombert treibt die von Desprez übernommene Technik der Imitation von Motiven auf die Spitze - zum einen durch eine enorme Verdichtung, zum anderen durch grösstmögliche Abwechslung, denn nicht nur die Motive selbst werden ständig variiert, sondern auch die Abstände, in denen sie in den verschiedenen Stimmen einsetzen. Genau dies erfordert vom Hörer eine enorme Konzentration und Anstrengung, um diese kunstvolle motivische Arbeit überhaupt als solche erkennen zu können.
- Gomberts Musik ist kontrapunktisch angelegt. Der Verlauf der Stimmen ist wichtig, der sich durch den Verlauf ergebende Zusammenklang (Harmonik) eher von untergeordneter Bedeutung. Selbst in Gomberts weltlichen Werken gibt es kaum in erster Linie harmonisch konzipierte Abschnitte, allerdings ist die Kontrapunktik hier weniger komplex (wenn auch nicht weniger kunstvoll) als in den geistlichen Werken. Die sich ergebenden Zusammenklänge sind natürlich weit entfernt von Stufen- oder Funktionsharmonik und wirken deshalb auf den heutigen Hörer befremdend, wenn nicht gar "falsch".
- Gombert macht im Gegensatz zu Desprez ausgiebigen Gebrauch von Dissonanzen, je nach Charakter des Werkes.
- Gombert bevorzugt oft tiefere Stimmen (besonders den Bass), wodurch der Chorsatz dunkel wirkt.
Schliesslich schwingt in der Schwermütigkeit von Gomberts Musik das Lebensgefühl seiner Zeit mit: Der anfängliche Optimismus der Renaissance und des Humanismus bekam in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts tiefe Risse durch die Plünderung Roms (Sacco di Roma, 1527), durch die Kirchenspaltung und die sich daran anschliessenden Konflikte, die bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts andauern sollten. Die Menschen empfanden sich als "in die Welt hineingeworfen" und den in ihr wirkenden Kräften ausgeliefert, kaum etwas erschien sicher - also durchaus ein "modernes" Lebensgefühl.
Viele Grüße,
Fugato