Bononcini - moralisch vernichtet?

  • Bononcini - moralisch vernichtet?

    Zitat

    Und so haben wir es hier mit einem hochbegabten, mit aller Schulbildung des glücklichen Italien ausgestatteten Künstler zu thun, der durch Händel's Auftreten im eigentlichen Sinne künstlerisch gespalten und vernichtet wurde, und der dadurch, daß er sich dieses nicht gestehen, daß er dieser doch nicht durch menschliches Wollen hervor gerufenen Kraft trotzen wollte, moralisch sich selbst vernichtete.
    [F. Chrysander: G.F. Händel: 2. Band, S. 303]


    Manchmal ist es doch vorteilhaft - zumindest wie ich hoffe für die Mitwelt - wenn ich nicht von einem Booklet mit Informationen gefüttert werde. So hörte ich gestern eine vorzügliche Serenata von Giovanni Battista Bononcini, erfuhr aber nichts über den Komponisten. Einen halben Tag später habe ich ein wenig Material zusammen gefunden, das ich mit der Zeit auch noch auf ein paar festere Füße zu stellen gedenke.



    Das Auffälligste, dem man in dem Lebenslauf Bononcinis begegnete, ist der Plagiatsvorwurf in Bezug auf ein fünfstimmiges Madrigal von Lotti. Wenn man den unterschiedlichsten Quellen folgt, verwirrt sich die Gefechtslage (denn es handelte sich um ein Kriegsszenarium um die Vorherrschaft im musikalischen London zwischen Händel und Bononcini) immer mehr, so dass schon das MGG (1. Aufl.) feststellte


    Zitat

    aber erst die auch heute noch reichlich dunkle und schwer erklärbare Plagiataffäre – er soll ein Madrigal Lottis von 1705 als das seine ausgegeben haben – war seinem Rufe in England und weit darüber hinaus abträglich.
    [Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Bononcini (Familie). Musik in Geschichte und Gegenwart, S. 8961
    (vgl. MGG Bd. 02, S. 120) (c) Bärenreiter-Verlag 1986
    http://www.digitale-bibliothek.de/band60.htm ]


    Eine sehr umfängliche Darstellung der Geschichte gibt es bei Chrysander - wobei dieser eindeutig Partei ist. Das merkt man schon an der immer wieder im Sinne Händels opprotunistischer Darstellung.


    Zitat

    Es ist derselbe Bononcini, dem Händel später in England zehn Jahre und länger als unbezwinglicher siegreicher Nebenbuhler gegenüberstand.
    (Händel-Chrysander Bd. 1, S. 53)


    wenn auch weichlich


    Zitat

    Auch Bononcini und Ariosti waren in Folge ihrer weichlichen Natur nicht sehr weder für die Dramatik noch für die Komik ihrer Landsleute geschaffen;
    (Händel-Chrysander Bd. 2, S. 24 f.)


    dann ist er gedankenlos


    Zitat

    Man sage also, ob ein Bononcini nicht willkommen sein mußte, Er, der unter seinen Zeitgenossen unbestritten den Anspruch erheben durfte, eine wahrhaft gedankenlose Musik auf eine wahrhaft schöne Weise hervorbringen zu können! Und der Ruhm muß ihm bleiben, einer solchen Zeit diejenigen Töne gesungen zu haben, welche ihr gefielen.


    Manches andere kam hinzu, diesem Componisten eine persönliche Bedeutung zu verleihen. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte er in Italien und Deutschland einen berühmten Namen. In England waren mehrere Melodien »von Bononcini« in den Gesellschaftsgesang übergegangen, und obwohl diese zur guten Hälfte von Marc' Antonio componirt waren, wurde doch alles dem Einen Giovanni zugeschrieben. Schon im Jahre 1709 wiesen ihm die Engländer den nächsten Platz nach Scarlatti an, also die zweite Stelle im Gebiete der dramatischen Composition. An Caldara und Lotti dachte man in England viel weniger.
    (Händel-Chrysander Bd. 2, S. 66)


    dazu noch dünkelhaft und übermütig


    Zitat

    Bononcini wußte das Imponirende seiner Persönlichkeit noch zu verstärken durch Dünkel und Uebermuth, die ihn in den Augen der Gläubigen als edles Selbstbewußtsein so schön kleideten, auch für einige Zeit sich ganz wirksam erwiesen, ihm aber doch endlich einen ehrlosen Fall bereiteten.


    Auf so mancherlei Ursachen also läßt sich Bononcini's Beliebtheit zurückführen. Hierzu kommt noch sein ausgezeichnetes Violoncellspiel, wodurch er für die Hausmusik des Adels ein gesuchter Gast wurde, und die Klugheit, welche er mit allen Italienern theilte, die musikalischen Schätze nicht, wie das sorglose deutsche Genie, hier- und dorthin zu verstreuen, sondern hübsch übersichtlich auf einem Haufen zu halten.
    (Händel-Chrysander Bd. 2, S. 67-68)


    In der Darstellung von Chrysander liest sich die Plagiatsaffäre so:


    1728 trat Bononcini der Akademie für alte Musik bei. Um seine Künstlerschaft zu beweisen, hat er der Akademie ein fünfstimmiges Madrigal überreicht. Drei Jahre später soll ein Mitglied der Akademie Lotti Duetti, Terzetti e Madrigali (1705) bekommen haben und darin unter der Nr. 18 den Text des Bononcinischen Madrigals entdeckt haben und mit dem Text auch die Musik. Er brachte das Werk flugs zur Aufführung und Bononcini soll sich nach Chrysander dagegen gewehrt haben:


    Zitat

    Das Stück wurde gesungen und Bononcini erhielt Kenntniß von diesem Doppelgänger, worauf er in einem Schreiben an die Akademie Lotti des Plagiats beschuldigte und an das kaiserliche Archiv in Wien appellirte, wo er das Madrigal vor dreißig Jahren auf Befehl des Kaisers Leopold componirt habe. Der Secretär der Akademie, Hawley Bishop, schrieb darauf an den Capellmeister Fux nach Wien, und unterm 9. Februar '31 an Lotti nach Venedig.
    (Händel-Chrysander Bd. 2, S. 294)


    Von nun an setzte eine unerbittliche Hetzjagd ein. Lotti wurde nicht nur gebeten, Stellung zu nehmen, er wurde auch aufgefordert Belege und gerichtlich beglaubigte Zeugenaussagen beizubringen. Der ganze Schriftwechsel mit Lotti wurde dann publiziert und gedruckt. Während Lotti noch darauf hinwies, dass es sich wohl um ein bedauerliches Missverständnis handele und es sich wohl bei der Kampagne um Rachegelüste handele, denn selbstverständlich sei Bononcini fähig Madrigale dieser Qualität zu schreiben


    Zitat

    Ich denke jedoch, daß sie die Ehre ihres Freundes nicht sehr zu Rathe gezogen haben, denn durch Abtrennung von der Akademie zeigen sie eine Rache, welche gerechtfertigt sein möchte, wenn der Streit um ein einziges Kind geführt würde, aber für ein Madrigal ist es wahrlich zu viel, da Hr. Bononcini gleich gute und bessere machen kann. Meine Freunde necken mich, daß eine Composition von mir bestritten wird, als ob es sich um den goldnen Apfel handle.
    (vgl. Händel-Chrysander Bd. 2, S. 296)


    "Zu Ende des Jahres 1731 war die in dieser Streitsache mit größter Gründlichkeit gesuchte Wahrheit also vollauf gefunden" (Chrysander, Bd. 2, 297 Hervorhebung vpn mir) und zeigte Wirkung:


    Zitat

    Aber der Briefwechsel war inzwischen gedruckt und in Aller Händen. Seinen großen Einfluß bei Marlborough's hatte er nach und nach untergraben; seinen Hochmuth, seine Großsprecherei, seine Mucken fand man anfangs originell, dann sonderbar, endlich lächerlich und zuletzt unerträglich. Durch die Madrigalgeschichte erschien er jedem als ein insolenter ehrloser Mensch, der keine Rücksichten der Achtung und Dankbarkeit nehmen, sondern die englischen Musikfreunde nur zu seinem Nutzen ausbeuten wollte.
    (Händel-Chrysander Bd. 2, S. 298)


    Wenn man der Darstellung Chrysanders folgt, so entdeckt man eine Reihe von psychologischen Widersprüchen. Heute neigt man wohl dazu, an eine Intrige zu denken, eine Falle, in die der sicher zu selbstbewusste Bononcini hinein getappt ist.


    Das MGG wertet seine Künstlerschaft ganz anders - und seine Satzkunst auch. Doch zu Bononcini vor der Plagiatsaffäre im nächsten Beitrag-


    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Anlass für meine Beschäftigung mit Bononcini ist die Kantate "La nemica d'Amore fatta amante" in der schönen Célébration-Box von Zig-Zag-Territoires. Wie bei einer so preiswerten Box üblich, gibt es nur ein Booklet, das grob über die Aufnahme informiert. Will man mehr wissen, ist man auf eigene Recherchen angewiesen, man muss sich sozusagen die fehlenden Texte im Booklet selbst schreiben. Wenn ich die Ergebnisse meiner Recherchen in einem Forum mitteile, so hoffe ich auch anderen zu nutzen, die wie ich die Einspielung erworben haben.


    Giovanni Bononcini war in seiner Zeit vor London ein außerordentlich beliebter und geschätzter Komponist. Allein die Zahl seiner Kantaten, in der Regel von Fürsten, Kardinälen, Diplomaten bestellt, beläuft sich auf etwa 300 - damit kann sich nur Alessandro Scarlatti messen.


    Die Serenata "La nemica d'Amore fatta amante" wurde zur Eröffnung des Palazzo Colonna am 10.8.1693 in Rom uraufgeführt. Bononcini war zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt. Nach einer zeitgenössischen Quelle war diese Aufführung ein Riesenerfolg. Dieser Erfolg verdankte sich seiner leichten Schreibweise, die den Melodien gleichermaßen Eleganz und Ausdruck verliehen. Dazu kam eine geschickte und variantenreiche Behandlung des Basses. Der Reichtum der Komposition zeigt sich schon gleich in der einleitenden Sinfonia, komponiert in Art eines Concerto grosso mit dem Wechsel von Soli und Tutti. Die Eingangsarie wird etwa von einem Orchester-Ritournelle beendet. Und so zieht sich durch das ganze Werk die Einfallsfreudigkeit Bononcinis, Höhepunkte sind u.a. die Arie der Clori "Tortorella innamorata", die von einem Violinsolo begleitet wird und die Arie des Tirsi mit einem Solo-Violoncello - übrigens das Instrument des Komponisten, auf dem er brillierte.


    Was die Serenata auszeichnet, ist die Fähigkeit Bononcinis, den Text musikalische auszudeuten.


    Im Folgebeitrag werde ich versuchen, den Inhalt der Serenata wiederzugeben.


    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Das Auffälligste, dem man in dem Lebenslauf Bononcinis begegnete, ist der Plagiatsvorwurf in Bezug auf ein fünfstimmiges Madrigal von Lotti. Wenn man den unterschiedlichsten Quellen folgt, verwirrt sich die Gefechtslage (denn es handelte sich um ein Kriegsszenarium um die Vorherrschaft im musikalischen London zwischen Händel und Bononcini) immer mehr, so dass schon das MGG (1. Aufl.) feststellte


    Übrigens übernahm Händel in seine "Aci, Galateo e Polifemo" eine komplette Arie - also ohne irgendwelche Bearbeitung - aus dem Werk "Polifemo" von Bononcini (Aria von Polifemo: "Precipetoso nel mar"). Händel hätte man gesagt werden sollen: Wer in einem Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen...


    LG
    Tamás
    :wink:

    "Vor dem Essen, nach dem Essen,


    Biber hören nicht vergessen!"



    Fugato

  • So weit ich die Quellen verstehe, war Händel, der sich zu der Zeit der Affäre in Paris aufhielt, nicht selbst in die Intrige verwickelt. Es waren wohl eher seine Anhänger, die die Gunst der Stunde zu nutzen wussten.


    Es ist schon interessant, wie sich um diese Zeit ein Bewusstsein für Plagiate entwickelt. Hier kann man noch den Sonderfall nehmen, dass Bononcini ein (fremdes) Werk vorlegte, um sich selbst würdig vorzustellen. Warum er nicht ein eigenes nahm, ist für mich im Moment noch nicht nachzuvollziehen. Er hätte sich (wie Michael Haydn an Mozart) an seinen Bruder wenden können, der auch ein ausgezeichneter Komponist war. Ob da eine Falle gestellt wurde,in die Bononcini gutgläubig herein lief, ist für mich die Frage. Dass die Falle zuklappte, vernichtete auf jeden Fall Bononcinis Existenz.


    Liebe Grüße Peter

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    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Deine Einführung in dieses „Plagiatsthema liest sich sehr spannend und interessant. :tee: Danke dafür. Es zeigt sich daran mal wieder, wie „alt“ dieses, heute noch viel drastischer sich äußernde Problem ist.


    Auf weiter Beiträge hoffen und sich freuend
    corda vuota

  • Es ist die Frage, ob diese "Plagiatsaffaire" überhaupt eine war, oder ob nicht erst Chrysander et al. eine konstruiert haben. Es ist ein immer wiederkehrendes Element der Musikerbiographen des 19. Jhs. daß sie, um ihren Genius in ein besonders strahlendes Licht zu setzen, die Unbillen der Umgebung und die Unfähigkeit der übrigen Zeitgenossen ganz besonders betont haben. Das findet man nicht nur bei Chrysander, sondern auch bei Spitta & Forkel (Bach), Jahn (Mozart), Baini (Palestrina)... Wir wissen heute, daß vieles davon jeglicher Grundlage entbehrt. Die ältere Sekundär- und Teriärliteratur hat das allerdings reichlich unkritisch übernommen und so lange Zeit wissenschaftliche Pseudofakten geschaffen. Auch die MGG 1 ist davon noch nicht frei, die MGG 2 sieht das bei Bononcini sehr viel distanzierter, genaugenommen streift (und diskreditiert) sie die "angebliche" Affaire nur in einem Nebensatz.


    Der wahre Grund, warum Bononcini London verlassen hat, war wohl eher ein Angebot aus Lissabon, das allerdings nicht das gehalten hat, was Bononcini sich davon erwartet hat.

    viele Grüße


    Bustopher



    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Was die angebliche Kontroverse mit Händel betrifft, der Chrysander und in seinem Gefolge die ältere Musikwissenschaft einen so weiten Raum gewähren: Das ist mittlerweile weitestgehend entkräftet: Lowel Lindgren, Dissertation Ann Arbor 1974

    viele Grüße


    Bustopher



    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Lieber Bustopher,


    vielen Dank für die Hilfestellungen, die mich in meinen Vermutungen bestätigen. Dass Chrysander ein Parteigänger war, wird aus den Zitaten - so glaube ich - ersichtlich. Ich habe dabei noch die Berliner Episode der ersten Begegnung der beiden Komponisten weggelassen. Die Tage setze ich mich in die UB, da kann ich Deinen Hinweisen nachgehen. Wenn das so eindeutig widerlegt ist, werde ich das im Bononcini-Artikel bei wikipedia entsprechend korrigieren, bzw. zumindest relativieren.


    Liebe Grüße Peter

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    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Nachdem ich nun in der aktuellen Händelliteratur gestöbert habe: Relativiert wird das Konkurrenzverhältnis von Bononcini und Händel, es wird ua. unter Hinsicht des gegenteiligen Nutzens einer ästhetischen Frontstellung gesehen. Unwidersprochen steht da aber auch weiter der Plagiatsvorwurf gegen Bononcini


    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

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