Brahms, Johannes: Klavierkonzerte Nr.1 und 2

  • Igor Levit hat im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik-Festivals das zweite Brahms-Konzert gespielt (mit dem NDR Elbphilharmonie-Orchester unter Alan Gilbert). Die Aufzeichnung des Konzerts ist in der 3sat-Mediathek verfügbar:

    Schleswig-Holstein Musik Festival 2022
    Den Solopart übernimmt der im russischen Nischni Nowgorod geborene Pianist Igor Levit. Begleitet wird er vom NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung…
    www.3sat.de

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich habe mal eine Frage an die Brahms-Kenner. Im letzten Satz des zweiten Konzerts gibt es diese schnellen, kurzen Terzenläufe in der linken und rechten Hand. Werden die tatsächlich so gespielt wie notiert? Mein Eindruck (ohne wirklich pingelig hingehört zu haben) ist, dass die meisten Pianisten hier etwas vereinfachen, um nicht "schummeln" zu sagen. Stimmt das, oder habe ich Gemüse in den Ohren?

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich habe mal eine Frage an die Brahms-Kenner. Im letzten Satz des zweiten Konzerts gibt es diese schnellen, kurzen Terzenläufe in der linken und rechten Hand. Werden die tatsächlich so gespielt wie notiert? Mein Eindruck (ohne wirklich pingelig hingehört zu haben) ist, dass die meisten Pianisten hier etwas vereinfachen, um nicht "schummeln" zu sagen. Stimmt das, oder habe ich Gemüse in den Ohren?

    Du meinst die Stellen, wenn die Holzbläser das zweite Thema spielen und das Klavier mit den Doppel-Terzen begleitet? Die werden normalerweise schon so gespielt wie notiert, allerdings bei einigen Pianisten nicht mit aller Klarheit. Die meisten Pianisten mogeln hingegen ein bisschen bei dem D-Dur-Terzenlauf in T. 266/267, der von der rechten Hand "pp leggiero sempre" in Septolen zu spielen ist, während die linke in Sextolen die Basis gibt. An der Parallelstelle in T. 32/33 fehlen diese Passagen links, so dass man die Terzen ganz bequem mit zwei Händen spielen kann, aber hier brauchte man entweder eine dritte Hand, oder es geht hart an die Grenze der Unspielbarkeit. Keine Ahnung, was Brahms sich dabei gedacht hat :). Man kann es allerdings kaum bis gar nicht hören, wenn der Pianist hier ein paar Unterterzen auslässt. Auch bei Igor Levit..., aber lassen wir das. Wenn Du diese Stelle wie auch die o.g. mit den Doppelterzen mal wirklich glasklar hören willst, dann nimm die Aufnahme mit Arrau (und Haitink). Der war einfach ein so grundehrlicher Künstler, dass er wohl vor Scham im Boden versunken wäre, wenn er da ein paar Töne weggelassen hätte, die Brahms geschrieben hat.

  • Ich habe mal eine Frage an die Brahms-Kenner. Im letzten Satz des zweiten Konzerts gibt es diese schnellen, kurzen Terzenläufe in der linken und rechten Hand. Werden die tatsächlich so gespielt wie notiert? Mein Eindruck (ohne wirklich pingelig hingehört zu haben) ist, dass die meisten Pianisten hier etwas vereinfachen, um nicht "schummeln" zu sagen. Stimmt das, oder habe ich Gemüse in den Ohren?

    Du meinst die Stellen, wenn die Holzbläser das zweite Thema spielen und das Klavier mit den Doppel-Terzen begleitet? Die werden normalerweise schon so gespielt wie notiert, allerdings bei einigen Pianisten nicht mit aller Klarheit. Die meisten Pianisten mogeln hingegen ein bisschen bei dem D-Dur-Terzenlauf in T. 266/267, der von der rechten Hand "pp leggiero sempre" in Septolen zu spielen ist, während die linke in Sextolen die Basis gibt. An der Parallelstelle in T. 32/33 fehlen diese Passagen links, so dass man die Terzen ganz bequem mit zwei Händen spielen kann, aber hier brauchte man entweder eine dritte Hand, oder es geht hart an die Grenze der Unspielbarkeit. Keine Ahnung, was Brahms sich dabei gedacht hat :). Man kann es allerdings kaum bis gar nicht hören, wenn der Pianist hier ein paar Unterterzen auslässt. Auch bei Igor Levit..., aber lassen wir das. Wenn Du diese Stelle wie auch die o.g. mit den Doppelterzen mal wirklich glasklar hören willst, dann nimm die Aufnahme mit Arrau (und Haitink). Der war einfach ein so grundehrlicher Künstler, dass er wohl vor Scham im Boden versunken wäre, wenn er da ein paar Töne weggelassen hätte, die Brahms geschrieben hat.

    Vielen Dank für die Erläuterungen! Ja, die o.g. Stelle meinte ich. Dann ist es also wahrscheinlich dem Tempo, zum Teil der Klarheit des Spiels und meinen Schweinsohren geschuldet, dass ich meinte, dass diese Stelle nicht wie notiert gespielt wird. Die Sextolen-Septolen-Stelle ist mir auch aufgefallen, das ist wirklich heftiges Material. Man muss Brahms zugute halten, dass er das Stück selbst gespielt hat, aber natürlich wissen wir nicht, ob er eventuell auch geschummelt hat. Grins1 Danke auch für den Hinweis auf Arrau/Haitink, die Aufnahme werde ich mir mal anhören.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Man muss Brahms zugute halten, dass er das Stück selbst gespielt hat, aber natürlich wissen wir nicht, ob er eventuell auch geschummelt hat.

    Wir wissen es nicht konkret bei diesem Stück, aber es ist sehr naheliegend, denn schon aus jungen Jahren gibt es Rezensionen, in denen er mehr oder weniger dezent für mangelnde pianistische Präzision kritisiert wurde. So schrieb z.B. Eduard Hanslick nach Brahms' ersten Wiener Konzerten: "Brahms schien an dem Abend ganz besonders gut disponiert. Damit will keineswegs gesagt sein, daß jede Passage spiegelhell blinkte, und jeder Sprung haarscharf traf. Seine Technik ist wie ein kräftiger, hochgewachsener Mann, der aber etwas schlendernd und nachlässig gekleidet einhergeht."

    Es wäre also sehr verwunderlich, wenn er, als er rund zwanzig Jahre später von Ende 1881 bis Februar 1886 das B-Dur-Konzert auf Tourneen spielte, dessen "pianistische Perversionen" (Alfred Brendel) bis in alle Details beherrscht hätte, denn geübt hat er sicherlich nicht mehr viel.

  • Wir wissen es nicht konkret bei diesem Stück, aber es ist sehr naheliegend, denn schon aus jungen Jahren gibt es Rezensionen, in denen er mehr oder weniger dezent für mangelnde pianistische Präzision kritisiert wurde. So schrieb z.B. Eduard Hanslick nach Brahms' ersten Wiener Konzerten: "Brahms schien an dem Abend ganz besonders gut disponiert. Damit will keineswegs gesagt sein, daß jede Passage spiegelhell blinkte, und jeder Sprung haarscharf traf. Seine Technik ist wie ein kräftiger, hochgewachsener Mann, der aber etwas schlendernd und nachlässig gekleidet einhergeht."

    Es wäre also sehr verwunderlich, wenn er, als er rund zwanzig Jahre später von Ende 1881 bis Februar 1886 das B-Dur-Konzert auf Tourneen spielte, dessen "pianistische Perversionen" (Alfred Brendel) bis in alle Details beherrscht hätte, denn geübt hat er sicherlich nicht mehr viel.

    Brahms hatte dabei natürlich auch den Vorteil, dass das Stück neu und noch nicht Teil des Kanons war. Somit konnte auch niemand sein Spiel mit dem des Pianisten xy vergleichen, und der Notentext war vermutlich nur einigen Eingeweihten geläufig.

    Ich habe gerade mal in das Finale mit Arrau/Haitink reingehört. Das ist in der Tat alles sehr sauber gespielt, aber im Tempo (für meinen Geschmack) auch reichlich betulich. Ich frage mich, ob man sich auf dieses Tempo verständigt hat, damit Arrau die heiklen Passagen (insbesondere den fast unspielbaren Lauf) so spielen konnte, ob dies also dem Bestreben nach Exaktheit geschuldet war.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich habe gerade mal in das Finale mit Arrau/Haitink reingehört. Das ist in der Tat alles sehr sauber gespielt, aber im Tempo (für meinen Geschmack) auch reichlich betulich. Ich frage mich, ob man sich auf dieses Tempo verständigt hat, damit Arrau die heiklen Passagen (insbesondere den fast unspielbaren Lauf) so spielen konnte, ob dies also dem Bestreben nach Exaktheit geschuldet war.

    Nein, das glaube ich auf keinen Fall. Oder wenn Exaktheit, dann die der Tempobezeichnung (nach den beiden ersten Allegro-Sätzen in diesem Finale nur Allegretto), der Charakterisierung (grazioso) und sogar der - bei Brahms nicht allzu wichtigen - Metronomzahl.(104), die Arrau hier bei aller Freiheit ziemlich genau trifft. Dieses Finale ist ja insgesamt eher heiter entspannt, paradoxerweise trotz der immensen technischen Schwierigkeiten auch nicht wirklich virtuos, sondern eher spielerisch leicht. Und deshalb so schwer... Dass Arrau, wenn es nötig und angemessen war, auch durchaus eine virtuose "Pranke" zeigen konnte, hört man z.B. bei manchen seiner Schumann-Einspielungen und sogar im Finale der Hammerklaviersonate. Sein Ruf als "Langsamspieler" ist zum großen Teil falsch, mindestens einseitig.

  • Sein Ruf als "Langsamspieler" ist zum großen Teil falsch, mindestens einseitig.

    .... oder missverstanden ....

    Ich habe bei seinen Aufnahmen oft den Eindruck, daß er bewußt herausnimmt, um Details im Notentext oder in seiner Detailgestaltung transparent werden zu lassen - quasi auch ein wenig als Gegenentwurf zur "Virtuosenkultur". Vielleicht hänge ich mich zu sehr damit aus dem Fenster wenn ich vermute, daß seine Erfahrungen in Amerika mit dem Hype um Virtuosen wie Horowitz nicht ganz unbeteiligt daran sein könnten.

  • Ich habe bei seinen Aufnahmen oft den Eindruck, daß er bewußt herausnimmt, um Details im Notentext oder in seiner Detailgestaltung transparent werden zu lassen - quasi auch ein wenig als Gegenentwurf zur "Virtuosenkultur". Vielleicht hänge ich mich zu sehr damit aus dem Fenster wenn ich vermute, daß seine Erfahrungen in Amerika mit dem Hype um Virtuosen wie Horowitz nicht ganz unbeteiligt daran sein könnten.

    Letzteres finde ich etwas spekulativ, aber dass zumindest der reifere Arrau nie mit Virtuosität "glänzen" wollte, liegt wohl auf der Hand. Aber man darf sich nicht täuschen lassen: Im Vordergrund stand bei ihm fast immer die Gestaltung harmonischer Spannungsverläufe, deutlich vor dem rhythmischen Puls. Dadurch wirken seine Tempi manchmal ausgespielter, breiter, als sie objektiv sind. Und über Horowitz sagte er im Interview ganz eindeutig "Ihn würde ich einen großen Pianisten nennen". Und:
    "Oh, ich war ungeheuer von ihm beeindruckt! Ich hatte nur selten derart eruptives Klavierspiel gehört. Ich weiß noch, ich saß mit meiner Mutter in der ersten Reihe des Beethoven-Saals und war fassungslos vor Staunen, was er zustande brachte, trotz dieser unglaublichen Steifheit der Arme. Den ersten Satz der b-Moll-Sonate werde ich nie vergessen. Das Seitenthema! Meine Mutter, die sehr musikalisch war und der es keiner recht machen konnte - an diesem Abend war sie hingerissen. Auf dem Heimweg sagte sie: 'Du solltest Dich ans Klavier setzten und üben - er spielt besser als du!'"

  • Und über Horowitz sagte er im Interview ganz eindeutig "Ihn würde ich einen großen Pianisten nennen". Und:
    "Oh, ich war ungeheuer von ihm beeindruckt! Ich hatte nur selten derart eruptives Klavierspiel gehört. Ich weiß noch, ich saß mit meiner Mutter in der ersten Reihe des Beethoven-Saals und war fassungslos vor Staunen, was er zustande brachte, trotz dieser unglaublichen Steifheit der Arme. Den ersten Satz der b-Moll-Sonate werde ich nie vergessen. Das Seitenthema! Meine Mutter, die sehr musikalisch war und der es keiner recht machen konnte - an diesem Abend war sie hingerissen. Auf dem Heimweg sagte sie: 'Du solltest Dich ans Klavier setzten und üben - er spielt besser als du!'"

    Naja, solche Aussagen kann man ja interpretieren wie man will. Insbesondere die zweite Aussage erinnert mich vom Stil her fast an manche von Schostakowitsch in seinen Briefen. ;)

    maticus

    Social media is the toilet of the internet. --- Lady Gaga

    Ich lieb‘ den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein.
    Wenn ringsum nur Schande herrscht und nur Zerstören,
    so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören.
    Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein.
                       --- Michelangelo Buonarroti (dt. Nachdicht. J. Morgener)

  • Naja, solche Aussagen kann man ja interpretieren wie man will. Insbesondere die zweite Aussage erinnert mich vom Stil her fast an manche von Schostakowitsch in seinen Briefen. ;)

    Ich bin sicher, dass Arrau für Schostakowitsch'sche Hintergründigkeiten viel zu ehrlich war. Im selben Interview hat er sich z.B. äußerst negativ über Paderewski und sehr kritisch über Rachmaninow (als Pianist) geäußert und erschrak sofort danach über sich selbst. Nein, seine Bewunderung für Horowitz war echt, was aber natürlich nicht bedeutet, dass er dessen Art Klavierzuspielen nachgeeifert hätte. Die musikalischen Persönlichkeitsunterschiede waren meines Erachtens in dieser Zeit insgesamt weit größer als heute. Arrau, Horowitz, Gilels, Rubinstein, Michelangeli und viele andere kann man problemlos nach wenigen Takten identifizieren, von jemandem wie Gould ganz zu schweigen. Das kann ich heute noch bei den "großen Alten" wie Sokolov oder Barenboim, aber viele der Jüngeren unterscheiden sich eher im Repertoire (was insgesamt heute deutlich breiter ist als zur Zeit der genannten) oder in der optischen Vermarktung als in der künstlerischen Aussage.

    Aber um mal wieder auf das Thread-Thema zurückzukommen: Levits B-Dur-Konzert fand ich insgesamt sehr stark, nur manchmal etwas verhetzt. Das Adagio braucht für mich am Anfang eine Spur mehr Ruhe, sehr schön war aber dann die Passage mit den beiden Klarinetten vor der Reprise. Im ersten Satz war ich erstaunt, dass er die Stelle mit den punktierten Akkorden fast sportlich nahm. Punktierte Rhythmen können ja interessanterweise sowohl etwas Vorwärtsdrängendes haben (z.B. im zweiten Satz der Schumann-Fantasie, in der dritten Variation aus Beethovens op. 111, in den Finalsätzen der c-moll-Sonate von Schubert, des d-moll-Streichquartetts usw.) oder auch im Gegenteil wie Bremskräfte wirken. In dem Fall muss man die jeweils kurze Note mit mehr Gewicht spielen, als wenn sie sich immer wieder dem Fluss entgegenstellt und ihn zum Stocken bringt, so wie z.B. in der Einleitung zur Egmont-Ouvertüre. Die meisten Brahms-Punktierungen gehören für mich zu diesem Typ.

  • Werter Christian

    Es ist für mich immer wieder erhellend, Deine fundierten Ausführungen zu lesen: grosses Kompliment an einen ausgewiesenen Fachmann!

    Alles Liebe und Gute wünscht Dir

    der Walter aus Bern.

  • Werter Christian


    Es ist für mich immer wieder erhellend, Deine fundierten Ausführungen zu lesen: grosses Kompliment an einen ausgewiesenen Fachmann!


    Alles Liebe und Gute wünscht Dir

    der Walter aus Bern.

    Oh, vielen Dank, lieber Walter! Mir beschert die Pandemie gerade einen Zwangsaufenthalt zu Hause und deshalb ziemlich viel Zeit...

    Übrigens noch einmal zu den "Brahms-Punktierungen", bei denen die jeweils kurze Note eher gewichtig ist: Ein gutes Beispiel dafür ist der Mittelteil im langsamen Satz der G-Dur-Violinsonate, aber auch manche Passagen im Finale der dritten Symphonie (ab T. 30), das Akkordthema im Kopfsatz des Violinkonzerts usw. Ich hätte bisher die Akkordstelle im Kopfsatz des B-Dur-Konzerts auch in diese Kategorie gerechnet, aber Levit versteht das eben anders. Wichtig ist ja nur, dass man sich über die Bedeutung der punktierten Rhythmen in jedem einzelnen Fall Gedanken macht und sie dann entsprechend gestaltet. Diese Schubertschen "Galopp-Rhythmen" (die auch bei Beethoven vorkommen, z.B. im Finale von op. 31/3 oder im letzten Satz der Kreutzer-Sonate) gibt es nach meinem Eindruck bei Brahms selten bis nie; bei ihm sind die von punktierten Rhythmen charakterisierten Stellen in den meisten Fällen gewichtig und stabil. Bei Schumann wiederum sind sie oft zuckend (Anfang des Klavierkonzerts), verrückt (letztes Stück der Kreisleriana), wild (Scherzo im d-moll-Trio), oder sogar (bei den berühmten Sprüngen in der C-Dur-Fantasie) sich quasi selbst überschlagend.

  • Letzteres finde ich etwas spekulativ

    ist mir durchaus bewußt ....

    Und über Horowitz sagte er im Interview ganz eindeutig "Ihn würde ich einen großen Pianisten nennen".

    Ich denke schon, daß Arrau seine Kollegen mit hohem Anspruch, aber fair beurteilt haben wird. Den hohen Anspruch konnte er sich ja dabei durchaus leisten.
    (Interessant in diesem Zusammenhang finde ich, daß er ausgerechnet Kempff, welcher ja nun auf seinem klassischen Repertoireterrain seine Lorbeeren gewann, sehr hoch schätzte. Kempff, kein Tastenakrobat, seine Interpretation von Beethovens Sonaten weltweit geschätzt, aber eben im Gestaltungsentwurf ziemlich von Arrau verschieden.)

    seine Erfahrungen in Amerika mit dem Hype um Virtuosen wie Horowitz

    Damit meinte ich weniger die Kollegen selbst, als den öffentlichen Umgang mit den Pianisten, die Medienresonanz auf sie.

    Immerhin hat Horowitz sehr anschaulich beschrieben, zu welch einem Leistungsdruck diese immer weiter getriebenen Superlativen der Beschreibung seiner Fähigkeiten geführt haben.

    Er erzählte von einem Konzert, in welchem ein Zuhörer mit seiner Partnerin fast unter dem Flügel gesessen habe und beim Vortrag der Polonaise op.53 von Chopin quasi taktweise anmerkte, das sei noch gar nichts, sie solle warten, Horowitz werde noch um Vieles besser werden ..... (no comment necessary).

  • Wichtig ist ja nur, dass man sich über die Bedeutung der punktierten Rhythmen in jedem einzelnen Fall Gedanken macht und sie dann entsprechend gestaltet.

    Bedeutet das, daß es keine gesicherte Ausführungsvorschrift oder -tradition gibt und jeder Künstler schauen muß, wie es am besten in seine Werkgestaltung passt?

    Immerhin erklärt es - wenn ich es richtig verstehe - warum bei einigen Interpretationen des B-Dur KK der vierte Satz etwas überspitzt ausgedrückt wie ein Elfentanz daherkommt und es schwer hat, gegen das gewaltige Panorama des ersten Satzes ein Gewicht zu setzen ...

  • Damit meinte ich weniger die Kollegen selbst, als den öffentlichen Umgang mit den Pianisten, die Medienresonanz auf sie.

    Immerhin hat Horowitz sehr anschaulich beschrieben, zu welch einem Leistungsdruck diese immer weiter getriebenen Superlativen der Beschreibung seiner Fähigkeiten geführt haben.

    Damit hast Du natürlich recht. Arrau sagte über seine Anfänge in den USA: "Ich fühlte mich - in musikalischer Hinsicht - sehr fremd. Als ich zum ersten Mal hier war, fand ich die Kriterien, nach denen Musiker beurteilt wurden, einfach unmöglich." Damit meinte er ganz sicher auch die Hysterie um Horowitz' Virtuosität.

    Bedeutet das, daß es keine gesicherte Ausführungsvorschrift oder -tradition gibt und jeder Künstler schauen muß, wie es am besten in seine Werkgestaltung passt?

    Hier ging es ja um die punktierten Akkorde im ersten Satz, ab T. 154, die zuerst vom Klavier, dann vom Orchester gespielt werden (im oben verlinkten Video ab 8'38''). Notiert ist jeweils Achtelnote, Sechzehntelpause, Sechzehntelnote, alles mit Staccato-Punkten, das Ganze im Forte bzw Mezzoforte (Orchester). Das ist das einzige, was "gesichert" ist. Ich würde sagen, dass die Vollgriffigkeit der Akkorde, die Staccato-Punkte vor allem auf den kurzen Noten, und die Tatsache, dass das alles in die "ben marcato"-Stelle mit durchgehenden Sechzehntel-Akkorden führt, für eine eher gewichtige als leichtfüßige Ausführung spricht, mit Betonung der Pausen als Elemente einer rhythmischen Spannung die sich dann in der folgenden Stelle entlädt. Aber natürlich kann man das auch anders verstehen. Levit spielt deutlich überpunktiert, fast doppelt punktiert, was streng genommen nicht dem Notentext entspricht, aber natürlich als Interpretation legitim ist. Die Spannung, die er damit aufbaut, ist eher in Erwartung von Virtuosität, der Klang fast mit schlagzeugartiger Härte. Das ist nicht mein Brahms-Bild, aber das muss es ja auch nicht sein. Die ganze Stelle, vor allem auch die Sprünge danach, klingt für meine Ohren bei ihm wütend und aggressiv und entwickelt einen ungeheuren Sog zum nächsten Tutti. Am Ende von Brahms' allerletztem Klavierwerk, der Rhapsodie op. 119 Nr. 4, gibt einen ähnlichen Wutausbruch (den Julius Katchen unvergleichlich dramatisch gespielt hat). Auch die Stelle ist geprägt von punktierten Rhythmen, wobei da die kurzen Noten noch teilweise durch Akzente geschärft sind. Beim B-Dur-Konzert bin ich nicht ganz überzeugt, dass das so zu verstehen ist.

    Immerhin erklärt es - wenn ich es richtig verstehe - warum bei einigen Interpretationen des B-Dur KK der vierte Satz etwas überspitzt ausgedrückt wie ein Elfentanz daherkommt und es schwer hat, gegen das gewaltige Panorama des ersten Satzes ein Gewicht zu setzen ...

    Ich glaube nicht, dass der letzte Satz das überhaupt versucht. Er ist wie gesagt im Tempo zurückgenommen (Allegretto), über weite Strecken auch in der Dynamik, der Grundcharakter ist "grazioso", und sein erstes Thema schwebt harmonisch quasi in der Luft (Es, D7, Es, F, C7 usw.). Sein zweites Thema erinnert an einen Ungarischen Tanz, sein drittes ist heiter und spielerisch. Er ist von allen orchestralen Finalsätzen bei Brahms eindeutig der entspannteste, heiterste.

  • Hier ging es ja um die punktierten Akkorde im ersten Satz, ab T. 154, die zuerst vom Klavier, dann vom Orchester gespielt werden (im oben verlinkten Video ab 8'38''). Notiert ist jeweils Achtelnote, Sechzehntelpause, Sechzehntelnote, alles mit Staccato-Punkten, das Ganze im Forte bzw Mezzoforte (Orchester). Das ist das einzige, was "gesichert" ist. Ich würde sagen, dass die Vollgriffigkeit der Akkorde, die Staccato-Punkte vor allem auf den kurzen Noten, und die Tatsache, dass das alles in die "ben marcato"-Stelle mit durchgehenden Sechzehntel-Akkorden führt, für eine eher gewichtige als leichtfüßige Ausführung spricht, mit Betonung der Pausen als Elemente einer rhythmischen Spannung die sich dann in der folgenden Stelle entlädt. Aber natürlich kann man das auch anders verstehen. Levit spielt deutlich überpunktiert, fast doppelt punktiert, was streng genommen nicht dem Notentext entspricht, aber natürlich als Interpretation legitim ist. Die Spannung, die er damit aufbaut, ist eher in Erwartung von Virtuosität, der Klang fast mit schlagzeugartiger Härte. Das ist nicht mein Brahms-Bild, aber das muss es ja auch nicht sein. Die ganze Stelle, vor allem auch die Sprünge danach, klingt für meine Ohren bei ihm wütend und aggressiv und entwickelt einen ungeheuren Sog zum nächsten Tutti.

    Diese Stelle, insbesondere die nach den punktierten Akkorden folgenden Sprünge mit dem Ausgang ins Tutti, ist mir auch aufgefallen. Ich finde Levits Gestaltung hier in sich sehr konsequent und bewundere, mit welchem vorwärtsdrängenden Schwung er in die Sprünge geht (das muss man so erstmal spielen können), aber mir persönlich ist da fast etwas zu viel Drive drin. Es wird gegen Ende der Stelle (kurz vor dem Tutti) geradezu etwas hektisch, wodurch m. E. eher Dramatik eingebüßt als gewonnen wird. Das ist aber alles Klagen auf sehr hohem Niveau, insgesamt finde ich Levits Darbietung des Konzerts sehr bemerkenswert, nur halt an einigen Stellen etwas zu gehetzt.

    Auf youtube hat jemand den Notentext der Fassung für zwei Klaviere mit der Zimerman/Bernstein-Aufnahme kombiniert - ich mag das hier nicht verlinken, weil mir die Rechtslage bezüglich der Verwendung der Aufnahme nicht klar ist. Zimerman spielt die Stelle ausgeglichener, trotzdem sehr dramatisch und wirkungsvoll, nur halt nicht ganz so nach Wahnwitz klingend wie Levit.

    LG :wink:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich finde Levits Gestaltung hier in sich sehr konsequent und bewundere, mit welchem vorwärtsdrängenden Schwung er in die Sprünge geht (das muss man so erstmal spielen können), aber mir persönlich ist da fast etwas zu viel Drive drin. Es wird gegen Ende der Stelle (kurz vor dem Tutti) geradezu etwas hektisch, wodurch m. E. eher Dramatik eingebüßt als gewonnen wird. Das ist aber alles Klagen auf sehr hohem Niveau, insgesamt finde ich Levits Darbietung des Konzerts sehr bemerkenswert, nur halt an einigen Stellen etwas zu gehetzt.

    Ja, so höre ich das auch, und über das pianistische Niveau kann man sich wohl kaum streiten. Aber ich glaube, dass bei diesem "vorwärtsdrängenden Schwung" im Konzert sowohl für den Pianisten als auch für die Zuhörer ein anderes Maß "richtig" sein kann, als beim nachträglichen, entspannten Zuhören am Bildschirm (unter anderem deshalb bin ich ja gar kein so großer Freund davon, Konzerte für CDs mitzuschneiden). Insofern gefällt es mir eigentlich grundsätzlich, dass Levit sich hier auf die Live-Situation mit allen Risiken und Gefühlsausbrüchen ganz unmittelbar einlässt, das Publikum im Saal anspricht und mitreißt, statt eine gepflegte, nach allen Seiten wohl abgewogene "Auf-Nummer-Sicher-Fassung" für das TV zu spielen.

  • Insofern gefällt es mir eigentlich grundsätzlich, dass Levit sich hier auf die Live-Situation mit allen Risiken und Gefühlsausbrüchen ganz unmittelbar einlässt, das Publikum im Saal anspricht und mitreißt

    bewundernswert

    "Auf-Nummer-Sicher-Fassung"

    Fällt mir angesichts der Herausforderungen dieses Konzertes schwer anzunehmen, daß es eine solche Fassung wirklich geben kann ..

    Hier ging es ja um die punktierten Akkorde im ersten Satz, ab T. 154, die zuerst vom Klavier, dann vom Orchester gespielt werden (im oben verlinkten Video ab 8'38''). Notiert ist jeweils Achtelnote,......

    Vielen herzlichen Dank für deine Erläuterungen hierzu. Das war sehr lehr- und hilfreich (und - nebenbei bemerkt - auch motivierend im Hinblick auf meine Anwesenheit hier)

Jetzt mitmachen!

Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!