Ich habe mir gerade Yuja Wangs Aufnahme von Chopins b-moll-Sonate angehört, und meine Eindrücke sind sehr zwiespältig. Am schwächsten fand ich den ersten Satz und den Trauermarsch, am besten das Scherzo und mit Einschränkungen das Finale. Im ersten Satz spielt sie vom ersten Takt an gegen den Notentext an: Das Verhältnis von "Grave" und "Doppio movimento" stimmt nicht einmal ansatzweise, die erste Oktav im "Doppio movimento" spielt sie der Wirkung halber nach unten oktaviert, die ersten ersten vier Takte vor dem Themeneinsatz extrem schnell, um dann ausgerechnet beim "agitato" das Tempo zurückzunehmen. Erstes und zweites Thema sollen nach Chopin beim jeweils ersten Mal piano und beim zweiten Mal forte gespielt werden, nichts davon bei Yuja Wang, sie säuselt vor allem das zweite Thema bei der Wiederholung in zartestem pianissimo. Bei den triolischen Akkorden der Schlussgruppe legt sie los wie angestochen, kann - oder will - dann aber das folgende "stretto" nicht mehr steigern. Ebenso ganz am Schluss, wenn das "stretto" sogar noch später einsetzen und sich dann das erste Thema quasi überschlagen müsste: Da nimmt sie das Tempo gegen alle musikalische Logik und gegen den Notentext sogar noch etwas zurück. Alle diese Eigenwilligkeiten könnte ich tolerieren, wenn sie in ein erkennbares musikalisches Konzept eingebettet wären, welches hinter den objektiven Verstößen gegen den Notentext so etwas wie eine tiefere musikalische Wahrheit erlebbar machte. Davon kann ich hier allerdings nichts wahrnehmen; dieser Satz ist zwar pianistisch perfekt, aber gestalterisch beliebig, um nicht zu sagen: schlampig gespielt.
Das Scherzo dann deutlich besser, mit guter Balance zwischen Wildheit und Kontrolle, temperamentvoll, pianistisch natürlich sehr sicher. Die paar Widersprüche zum Notentext sind entweder musikalisch nachvollziehbar (wie etwas das vorweggenommene pianissimo in T. 15, welches laut Partitur erst zwei Takte später einsetzen sollte), oder sie fallen nicht allzusehr ins Gewicht (wie z.B. die fehlenden Crescendi bei den chromatischen Sextakkord-Aufgängen in T. 37ff.). Sehr genervt hat mich allerdings im Trioteil das penetrante Nachklappern der rechten Hand. Man kann so etwas machen, um die Diskantmelodie mehr zum "Leuchten" zu bringen, aber bei Yuja Wang klingt es für mich lediglich nach einer routinierten Marotte.
Ganz enttäuschend fand ich dann den Trauermarsch: Den Anfang schlicht langweilig, ohne Atmosphäre und mit schlampiger Phrasierung (z.B. müssten die beiden ersten Takte zu einer Phrase zusammengefasst werden), beim Des-Dur in T. 15 einfach nur lauter aber ohne die nötige Emphase, so dass die anschließende Rückführung nach b-moll musikalisch verpufft, die klangmalerischen "Trommelwirbel" der linken Hand nur brav usw. Das Trio darf meines Erachtens nicht einfach als Oase des Schönklangs gegen den Trauermarsch abgesetzt werden, sondern es muss - z.B. durch eine gewisse Strenge im Tempo - quasi wie dessen verborgene Rückseite klingen. Hier ist es einfach nur sentimental. Die alten Damen im Publikum werden ihre Taschentücher brauchen...
Wesentlich besser dann wieder das Finale: Hier kann Yuja Wang ihre pianistischen Fähigkeiten natürlich gut einsetzen, mit lange geübter Fingerfertigkeit perlt sie "sotto voce" (wenn auch zu Anfang nicht unbedingt "legato") durch die Passagen. Etwas merkwürdig fand ich, dass sie ab ca. T. 30 mit deutlich mehr Pedal spielt als zuvor. Schade fand ich auch, dass sie das gleichmäßige "sotto voce" nicht ganz bis zum Schluss durchhält, sondern am Ende plötzlich mit lediglich "effektvollen", extremen crescendi-decrescendi aufwartet. Ich finde es wesentlich spannender und unheimlicher, wenn man wir vorgeschrieben bis ganz zum Schluss gleichmäßig leise bleibt. Die Schlussoktav spielt sie wieder gegen den Notentext nach unten oktaviert.
Insgesamt trotz pianistisch unanfechtbarer Leistung eine für mich musikalisch durchwachsene bis zweifelhafte Aufnahme.
Christian