Holliger: Partita (1999)

  • Holliger: Partita (1999)

    Die folgende Einführung enthält noch ein paar rohe Gedankenstränge, die ich hoffentlich in Kürze weiter ausführen werde. Die angegeben Zeiten beziehen sich auf folgende, als einzige auf dem Markt erhältliche Aufnahme:



    Auf jeden Fall handelt es sich um eine so dichte und komplizierte Partitur, dass unbedingt mindestens hundert weitere Hörsessions nötig wären, um dem Werk auf den Grund zu gehen. Was ich anbieten kann ist demnach bloß ein analytischer Zwischenstand. Außerdem könnte man ewig nach Worten ringen, um diese Musik zu beschreiben. Also: Ergänzende Anmerkungen und Höreindrücke sind ausdrücklich erwünscht!


    Entstehungsgeschichte


    Heinz Holligers Partita für Klavier solo ist 1999 komponiert worden und seinem langjährigen Freund und Pianisten András Schiff gewidmet. Dieser ist, wie häufig bei Holliger, nicht bloß Widmungsträger, sondern bildet gleichzeitig die materiellen Prämissen, denen sich die Komposition unterwirft. So bilden die in Töne transkribierbaren Buchstaben seines Namens (A-D-As; Es-C-H-F-F) die diastematische Keimzelle, welche sich zum Schluss des Präludiums herausbildet und für die darauf folgenden Sätze bestimmend ist.
    Allzu offensichtlich scheint der Bezug zu Bach, der sich insbesondere in der für das Werk entscheidenden komplexen Polyphonie offenbart und am allerdeutlichsten in der Fuge zutage tritt.
    Holliger bezieht sich des Weiteren auf die sowohl ihm als auch András Schiff besonders nahe stehenden Komponisten Franz Liszt und Robert Schumann. Letzterem gedenken die beiden Intermezzi, die auch mit Sphynxen für Sch. betitelt sind, ersterem der an fünfter Stelle stehende Petit „Csárdás obstiné“. An Ferruccio Busoni wiederum gemahnt die groß angelegte Ciacona monoritmica, die das Werk beschließt.


    Zur Gattung Partita


    Der musikalische Begriff Partita hat bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrere Bedeutungswandel durchlebt, während er in der musikwissenschaftlichen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts meist zum der Suite synonymen Begriff verkam und zudem noch einen negativ-wertenden Aspekt erhielt. So schreibt etwa W. Fink in der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste unter dem Begriff „Parthia“:


    „Ein Unterhaltungs-Musikstück, dessen Inhalt sich nach dem Geschmacke der Zeit, nicht nach dem Charakteristischen der Kunst richtet. [...] Von jeher verstand man aber nicht eine tiefere Charaktermusik darunter, sondern immer an einander gereihte gefällige Tonsätze zur Unterhaltung, wie es gerade die herrschende Liebhaberei mit sich brachte.“


    Tatsächlich war Kuhnau der erste Komponist, der unter dem Titel Partie eine Sammlung meist kurzer Tanzsätze in suitenhafter Abfolge bezeichnete. Er stellt somit den direkten Anknüpfungspunkt für J. S. Bach dar, der auf diese Weise seine Partiten für Cembalo und Violine solo komponierte. Die Unterschiede zur Suite sind gering, aber evident: Die Partiten erscheinen freier hinsichtlich der Wahl der Satztypen (zusätzlich zu den traditionellen Tanzcharakteren der Suite tauchen Satzbezeichnungen wie Scherzo, Burlesca, Aria, Rondeau usw. auf). Die einzelnen Sätze sind durch motivische Verwandtschaften miteinander verknüpft, können sich aber tonartlich unterscheiden.
    In Italien verstand man Ende des 16. sowie im 17. Jahrhundert unter dem Plural Partite eine Variationsreihe meist über einen ostinaten Bass. Der Singular Partita bezeichnet hierbei den einzelnen Variationssatz, wobei die Zählung bereits mit dem ersten Formglied, dem „Thema“ (= „prima parte“ / „prima partita“) beginnt. J. S. Bach, der wie bereits erwähnt in seinen Partiten für Cembalo bzw. Violine solo an Kuhnau anknüpfte, komponierte seine vier Choralpartiten für Orgel in italienischer Tradition.


    Formale Disposition bei Holliger


    Holliger verwendet den Begriff Partita, offensichtlich durch den Widmungsträger András Schiff inspiriert, in der Tradition der Bach‘schen Cembalopartiten. Das Werk beginnt zunächst an die Form der Sonata de chiesa gemahnend mit einem langsamen Präludium und einer darauf folgenden (allerdings, im Gegensatz zur im Barock üblichen Tempodramaturgie, wiederum langsamen) expansiven Fuge. Es folgt eine Barkarole, welche mit einem Zitat aus Friedrich Hölderlins Mnemosyne III untertitelt ist:


    „ ... uns wiegen lassen wie Auf schwankem Kahne der See.“


    Die beiden folgenden Intermezzi („Sphynxen für Sch.“) umrahmen ein Petit „Csárdás obstiné“. Die siebensätzige Partita schließt mit einer groß angelegten Chaconne.


    I. Praeludium („Innere Stimme“) - II. Fuge


    Der beigefügte Titel des Präludiums: „Innere Stimme“ ist vieldeutig. Zum einen bezeichnet er das erste der in drei Systemen notierten Klavierstimme, in welchem stumm niederzudrückende Dur- und Mollakkorde notiert sind, welche in Form eines „Echo-Chorals“ aus den Resonanzen der unteren beiden Systemen, also quasi aus dem Instrument von „innen“ heraus, erklingen. Des Weiteren nimmt der Titel Bezug auf Schumann, der in seiner Humoreske Op. 20 einen Teilabschnitt ebenfalls um eine in nicht zu spielende „Innere Stimme“ [sic] in einem dritten System ergänzt.
    Von Schumann wiederum führt der Weg zu Jean Paul, der zwischen dem Vorklang, der akustischen Erscheinung der Töne, und dem Nachklang, der innerlich tönenden Phantasie, unterscheidet:


    „Müssen wir denn nicht immer den Tönen geheime Texte, ja sogar Landschaften unterlegen, damit ihr Nachklang in uns stärker sei als ihr Vorklang außen? Und kann unser Herz anders empfinden als angesprochen und nachsprechend?“1


    Betrachtet man Präludium und Fuge zusammen als einen Formkomplex, so kann man feststellen, dass innerhalb des Ganzen nur eine Generalpause - und zwar zu Beginn der „Coda“ der Fuge (T. 31 - Min. 6:17) - auftaucht, welche sich jedoch dadurch relativiert, dass es sich zwar um eine akustische, nicht aber um eine gestische des Ausführenden handelt (denn dieser muss einen Dreitonklang stumm niederdrücken). Zwischen Präludium und Fuge gibt es keine Pause, die Sätze gehen attacca ineinander über. Gleichzeitig aber stellt die Pause das wesentliche konstruktive Element des Präludiums dar; als solche nämlich, welche durch den Nachklang der „Inneren Stimme“ akustisch überbrückt wird, hingegen als gestische zwischen den jeweils aufwendigen Aktionen des Spielers erscheint.
    Darüber hinaus ist die Pause gliederndes Element des Präludiums, welches sich in seiner Uniformität kaum in kontrastierende Formteile unterteilen lässt. Auf Seite zwei, zweite Akkolade, erscheinen zum ersten Mal Pausen, welche die Abstände zwischen den Figuren exakt mensurieren. Dort beginnt sich auch die rhythmische Struktur der Figuren zu individualisieren, indem etwa von Pausen durchsetzte und triolische Figuren hinzutreten.
    Ein weiteres gliederndes Element ist auf Seite 10 in der zweiten Akkolade erscheinende, wie eine Choralfermate gedehnte As-Dur-Nachklang, aus welchem eine ausladende Figur den Ambitus der Choralstimme schlagartig nach oben erweitert. Diese Figur, welche in ihrer Fächergestalt der allerersten sehr ähnelt, evoziert zugleich den Moment einer Reprise. Der Choral, der im folgenden den großen Sprung kompensierend wieder abwärts triftet, wird für diesen Moment leicht2 angespielt und tritt so für einen Augenblick in den Vordergrund. Ein letztes gliederndes Moment innerhalb des Präludiums stellt die Fermate auf Seite 11, zweite Akkolade, dar, wiederum eine gestische Pause, die den mit beiden Unterarmen zu spielenden sff-Cluster vorbereitet, woraufhin ein auf Schumann‘sche Weise3 verklingender Siebentonklang folgt, welcher den Namen des Widmungsträgers András Schiff in Töne setzt.
    Deutlich zutage tritt in der Fuga Intertextuelles, insbesondere durch die starke Reminiszenz an die cis-Moll Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier (Band 1), deren Gesamtdramaturgie - majestätisch-gemessenes Soggetto, lyrischer-schwebender Mittelteil, kulminierender Schluss - sie übernimmt. Der Themenkopf des Soggettos zitiert außerdem Nuages gris von Franz Liszt, welches auch in einer Instrumentation für großes Orchester von Heinz Holliger existiert.
    Das Soggetto beginnt also mit dem Nuages gris entlehnten Quart-Tritonus-Motto, welches von einer expressiven Achtelfigur - wie jenes den Namen des Widmungsträgers in sich tragend - beantwortet wird. Es folgt ein diastematisch abweichender, ansonsten aber dem ersten (auch in Hinblick auf Dynamik und Artikulation) entsprechend gebauter zweiter Takt, der um zwei Viertel gestreckt ist.
    Insofern ist das Soggetto - eigentlich für eine Fuge unüblich - in formaler Hinsicht sehr klassizistisch, fast möchte man sagen: periodisch gebaut (siehe Abbildung).


    capriccio-kulturforum.de/index.php?attachment/397/


    Verschiedene Momente sorgen allerdings bereits zu Beginn für Dissoziation: Bevor die zweite Stimme, der Comes, hinzutritt, erscheint das Soggetto durch tiefe Zweiklänge im pianissimo unterlegt, welche ein dumpfes, geräuschhaftes (am ehesten die Klangaura des Tam-tams evozierendes) Fundament beisteuern. Die Achtelfigur im ersten Takt erscheint auf zwei Stimmen verteilt, welche den Ausführenden durch die dynamischen Anweisungen bereits im ersten Takt vor eine utopische Aufgabe stellen (auf dieses Problem wird später noch zurückzukommen sein).
    Des Weiteren wird die geradtaktige Metrik durch den imaginären Taktstrich vor der vierten Viertel im zweiten Takt verzerrt.
    Im weiteren Verlauf wird sich das dissoziierende Moment allerdings noch um ein Vielfaches potenzieren. Bereits der Comes erscheint (im übrigen nicht intervallgetreu) gespiegelt. Die Häufung von Triolen im Kontrapunkt verschleiert die Vertikale. Der Einsatz der dritten Stimme (im übrigen hinsichtlich der Artikulation für den Ausführenden wiederum ein utopisches Moment), der mit dem Schlusston des Comes zusammenfällt, wird dadurch ebenso verschleiert wie durch den verfrühten Einsatz auf dem letzten Viertel des vierten Takts. Noch entscheidender wirkt der engführende vierte Themeneinsatz, welcher den sechsten Takt um ein Vielfaches dehnt und insofern das größte Störelement darstellt, wenn man die erste Seite als Fugenexposition begreifen will, welches sich anbietet, da Takt sieben, welcher ein dem Soggetto abgespaltenes Motiv sequenziert, eindeutigen Zwischenspiel-Charakter besitzt und außerdem das Soggetto bis dahin in allen drei Stimmen vollständig (in der dritten sogar zwei Mal) erklungen ist.
    Dass eine Augmentation (mit dem Multiplikator 9/4) des Soggettos in der tiefsten Stimme - sogar in der Originaltransposition des Dux - in Takt acht eine zweite Durchführung beginnt, scheint Holliger dadurch verschleiern zu wollen, indem er die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf die Oberstimme lenkt, die dynamisch hervorgehoben mit dem Kopf des Soggettos beginnt und sich anschließend frei fortspinnt.
    Die ansteigende rhythmische Komplexität sowie die fortschreitende Demontage des Soggettos, dessen Teilmomente sich mittels Sequenzbildungen verselbstständigen, sorgen für zunehmende Konfusion, deren Stau in Takt 27 in einem vierfachen Kontrapunkt eskaliert, welcher in sämtlichen Stimmen das Soggetto (in jeweils sehr freier Form; die dritte Stimme beispielsweise ergänzt den Kopf zum „András-Schiff-Motto“ in Reinform), unterschiedlich augmentiert, simultan erklingen lässt. Doch auch dieser kontrapunktische Höhepunkt eskaliert nach kurzer Zeit in einer accelerandierenden und crescendierenden Fächerfigur, welche die Mottotöne A-D-As in Form eines stumm niedergedrückten Nachklangs hinterlässt und auf diese Weise wieder in die Aura des Präludiums zurückfindet. Der Satz schließt, in Kongruenz zum Präludium stehend, mit Clusterballungen und einem wiederum auf Schumann‘sche Weise verklingendem Nachklang.
    Dem tachistisch anmutende Präludium folgt demnach eine ins andere Extrem ausschlagende, „überrationale“ Fuge, welche letztendlich zusammenbricht und wieder in den tachistischen Zustand des Präludiums zurückkehrt. Zu Beginn der Fuge erwächst ein streng gebautes Thema aus der Asche des Präludiums, dessen Höhepunkt an scheinbarer Willkür der zuletzt erklungene, dolce anzuschlagende Cluster darstellt, dessen „Nachhall“ sozusagen noch den Dux schattiert, um erst dem Einsatz der zweiten Stimme zu weichen.
    Das interpretatorische Subjekt, welches im Präludium ganz in den Vordergrund gerückt ist, tritt zurück und verschafft einer in höchstem Maße nüchtern beginnenden Fuge Platz, in welche es sich allerdings nach und nach wieder hineinschleicht. Mit der Demontage des Soggettos geht nämlich eine sukzessive Subjektivierung des Stimmgeflechts einher. Kennzeichnend dafür sind folgende Beobachtung im Notentext:


    T. 13f. (Min. 2:40) - Eine singende, mit Halbtonschritten angereicherte affektive Oberstimme tritt hinzu.


    T. 17f. (Min. 3:38) - Eine weitere Affektzunahme ereignet sich durch das erstmalige Erscheinen von Spielanweisungen („declamato, rubato“).


    T. 20–21 (Min. 4:08) - Der bis hierhin konstante Puls erfährt eine Beschleunigung, einhergehend mit einer klanglichen Intensitätszunahme („sempre più sonore e poco a poco animando e cresc.“).


    T. 22-26 (Min. 4:48) - Eine verstörende Oberstimme tritt hinzu, die Artikulation gelangt in den Vordergrund („martellato“).


    Eine Art rationaler Ekstase überkommt in T. 27f. (Min 5:28) (vierfache Engführung, s. o.) das Subjekt, unter deren Belastung es letztendlich zusammenbricht und aus der Polyphonie in den tachistischen Anfangszustand zurückkehrt. Dieser Zusammenbruch ereignet sich auch bildlich durch das in die Tiefe stürzende Es-C-H-F-F Motiv (Ende T. 30 - ca. Min. 6:12) und den durch dieses personifizierten Nachklang (T. 31f. - Min. 6:17).
    Der personifizierte Nachklang aber ist der entscheidende Unterschied zum Präludium (in welchem er erst als Konsequenz ganz zum Schluss erscheint). Das Subjekt ist, erkenntnistheoretisch gesprochen, dem Zustand des Erkennens enthoben und tritt als Erkanntes zutage.


    Grenzüberschreitung der spieltechnischen Möglichkeiten


    Dass das Aufsuchen von Extremen auch oder besonders in spieltechnischer Hinsicht für Holliger eine große Rolle spielt, ist nicht nur seinen zahlreichen persönlichen Äußerungen diesbezüglich, sondern ebenso dem Notentext selbst zu entnehmen. Zuweilen wird der Ausführende mit utopischen Anweisungen konfrontiert (zwei Beispiele wurden bereits erwähnt). Bereits im Präludium hat der Spieler zwei Aufgaben (das eigentliche Spiel auf den Tasten sowie das stumme Niederdrücken des Chorals) gleichzeitig zu bewältigen, die auch auf zwei Ausführende verteilt noch einen hohen technischen Anspruch stellen würden.


    III. Barcarola


    Die Barcarola nimmt formal eine etwas eigenartige Stellung ein: noch dem ersten Intermezzo vorangestellt, gebärdet sie sich quasi als eine Art Anhang zum ersten Formkomplex Praeludium - Fuga. Durch den Nachklang der Fuge, an den sie diastematisch anknüpft, tritt sie ebenso vermittelt in Erscheinung wie die Fuge im Anschluss an das Präludium. Sowohl rhythmische und diastematische Kontur als auch Dynamik und Artikulation der ersten, zweitaktigen Phrase, reminiszieren das Fugensoggetto. Ebenfalls wird die Phrase durch eine parallel gebaute zweite zu einem viertaktigen, periodisch anmutenden Gebilde ergänzt. Das wiegende Gleichmaß des Anfangs wird jedoch, ähnlich dem bereits erörterten, unter dem Begriff der „Subjektivierung“ erfassten Formprozess der Fuge, nach und nach in einen rhetorischen Satz überführt. In T. 16ff. (Min. 1:46) („quasi Recitativo“) scheint sich das Subjekt in einer Weise über das Material behauptet zu haben, deren Ausmaß sich in der Fuge erst anzubahnen drohte. Die obligatorische Schlussfurie, die sich zum Ende des Praeludiums auf einzelne Akkorde beschränkte und sich in der Coda der Fuge in Fächerfiguren artikulierte, sorgt in der Barkarole für Symmetrie, indem sich das Fächer wieder zu dem Brennpunkt hin schließt, mit dem der Satz begonnen hatte: der Dreitonklang c–des–h.


    IV. Sphynxen für Sch. (Intermezzo I) - V. Petit „Csárdás obstine“ - VI. Sphynxen für Sch. (Intermezzo II)


    Die beiden den Petit „Csárdás obstine“ umrahmenden Intermezzi tanzen insofern aus der Reihe, als sie sich als einzige des Innenraums des Instruments bedienen. In der Tat erklingt in beiden Sätzen kein einziger herkömmlich angeschlagener Ton, während dies in den übrigen Sätzen (von den stumm niedergedrückten Akkorden einmal abgesehen) ausschließlich der Fall ist.
    Die Intermezzi zitieren, wie die Überschrift bereits andeutet, die von Schumann im Carnaval Op. 9 notierten Sphynxen, die Tonfolgen A-Es-C-H, As-C-H sowie Es-C-H-A, welche die diastematische Keimezelle für den gesamten Zyklus bilden. Sie bilden gleichzeitig die Verknüpfung zu den übrigen Sätzen der Partita, da die verwendeten Töne auch als Ausschnitt aus der dem gesamten Werk zugrunde liegenden Tonfolge (A-D-As-Es-C-H-F-F) interpretierbar sind. Diese erscheint tatsächlich auch komplett, in T. 15–16 (Min. 1:40) des ersten Intermezzos.


    Der Petit „Csárdás obstiné“ ist der kürzeste und am wenigsten komplizierte Satz der Partita, welcher sich der Herausforderung stellt, aus der Beschränkung von pro Takt fünf immer gleichen Tönen eine mittels Oktavidentität und rhythmischer Variabilität abwechslungsreiche Oberstimme zu gestalten. Die übrigen sieben Töne der Zwölftonskala sind nichts anderes als der Tonvorrat des András Schiff-Mottos, die in der Art eines Walking bass, bis zum Ausbruch aus dem Schema im viertletzten Takt, in Septolen durchlaufen. Die Bassstimme ist in sieben Siebentakteinheiten gegliedert, indem nach je sieben Takten der auf die Eins zu spielende Ton einen Akzent erhält. Der Satz verklingt nach einer wild in die Tiefe hinabstürzenden Quintolenfigur im pianissimo leggero.


    VII. Ciacona monoritmica


    Wenn schon keine Sinfonie, so handelt es sich bei diesem Werk doch zumindest um eine Finalpartita: Der letzte Satz, eine groß angelegte Chaconne, ist bei weitem der längste und gewichtigste. Hier scheint das polyphone Prinzip ad absurdum geführt zu werden. Ein im Notenbild wüstes, undurchsichtiges Stimmgeflecht erweckt paradoxerweise klingend zunächst eher den Anschein einer Tamtam-Orgie. Lediglich ein rhythmisches Modell ist zu erkennen: Die dargestellte Figur erscheint 21 Mal in Folge, stets vom Ton es ausgehend und durch Zäsurzeichen sowie Taktstrich getrennt.


    capriccio-kulturforum.de/index.php?attachment/398/


    Nach 21 Takten wird der Satz plötzlich zweistimmig und erscheint vom starren Schema des ersten Formteils befreit. Quasi tenorartig bleibt jedoch eine weiterhin nur in Sechzehnteln und deren Vielfachen mensurierte Stimme erhalten, um welche sich rhythmisch kompliziertere Gegenstimmen ranken. Dabei handelt es sich wie erwähnt zunächst um nur eine, gegen Ende des Formteils (T. 74 - Min. 10:13) um ein Vielfaches. Bis dahin ist der Satz bruchlos vom piano bis zum dreifachen forte crescendiert sowie das Tempo von Achtel = ca. 105 auf Viertel = ca. 69 angestiegen. Im Verlaufe dieses Prozesses erfährt das Stimmgeflecht zudem eine stetige rhythmische Verkomplizierung. Der Höreindruck ist eigentlich nicht der eines abstrakt wahrnehmbaren polyphonen Stimmgeflechts, sondern etwa eines den (Tamtam-)Nebel hinkend durchstreifenden Subjekts. Gleichmäßiger Gang ("monorhythmischer" Tenor) und scheinbar willkürliche Verzerrung (übrige Stimmen) machen keinen, wie Dynamik und Tempodramaturgie es erwarten lassen, teleologischen Prozess im Sinne einer Steigerung erfahrbar, sondern eher ein ständig unkontrolliert (wie durch das ständige Treten und Loslassen eines Gaspedals) ins Schwanken geratendes, durch den Nebel des Stimmgeflechts nur in der Ferne zu erahnendes Gleichmaß.
    In T. 75 (Min. 10:13) geschieht ein plötzlicher Abriss und es verbleibt wiederum ein (durch die Tritonus-Quart-Intervallschichtung den bisherigen verwandter) Nachklang (Des-c-fis-h). Diesem folgt eine zwölftaktige Coda von ganz entrückter Klanglichkeit. Die Anweisung "sempre con Ped." und der durch zwei jeweils im Randregister beginnende und sich anschließend entgegenstrebende und sogar durchkreuzende Stimmen bedingte Tonsatz schaffen eine plötzliche Weite und Helligkeit (wieder ein Hinweis auf Schumann? s. das Lied Mondnacht - "Es war, als hätt' der Himmel Die Erde still geküsst, [...]"). In die schwebende, verklärte Atmosphäre erscheinen Reminiszenzen an Barkarole und Fuge eingebettet (T. 82f. - Min. 11:40). Davon abgesehen sind Stimmverläufe, wiewohl in den Noten ersichtlich, durch die riesigen Intervallsprünge kaum wahrzunehmen. Mysteriös wie alles Vorherige endet dieser Schlusssatz, wenn sich die Stimmen in äußerster Höhe im pianissimo verlieren und wie ein Echo in der Tiefe ein gedämpft "mit der Fingerkuppe" anzuschlagendes repetiertes f (András Schiff) den Schlussstrich zieht.



    1 Jean Paul: De l‘Allemagne par Mme. la Baronne de Staël-Holstein (1815)
    2 Spielanweisung in der Partitur: „Taste vorher bis zum Anschlag (Druckpunkt), dann erst ganz niederdrücken.“
    3 s. Robert Schumann: Papillons, Op. 2, Schluss

  • Eine schöne Einführung in ein mir noch unbekanntes Werk, danke!


    Daraufhin habe ich mir die CD mit Alexander Lonquich (den ich ohnehin schätze) besorgt und Holligers Partita gestern erstmals in Ruhe angehört.


    Nur wenige Eindrücke: Zunächst fiel mir auf, daß die musikalischen Prozesse sehr stringent zu sein scheinen: nichts von Chaos oder "Formlosigkeit". Besonders stimmungsvoll und dicht erschien mir die Fuge. Und eindringliche Stimmungen zu schaffen, darauf scheint sich der Komponist (mir namentlich bislang bekannt, dies ist allerdings sein erstes Werk, das ich bewußt wahrnehme) bestens zu verstehen.


    Die ebenfalls hier eingespielten Kreisleriana von Schumann habe ich noch nicht gehört, doch kann ich mir schon jetzt gut vorstellen, daß beide Werke gut miteinander korrespondieren.


    An Lonquichs Spiel überzeugt mich besonders, daß er Klänge miteinander verwischt, ohne daß es schwammig undeutlich würde: das wirkt genau ausbalanciert und klug disponiert, mit ausgezeichneter Aufnahmetechnik.


    Ich hoffe, demnächst die Ruhe zu finden, mir das Ganze noch einmal zusammen mit den Erläuterungen vorzunehmen...


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz


    Wissen Sie denn nicht, daß die Menschen manchmal nicht auf der Höhe ihrer Werke sind?
    Jean-Paul Sartre


    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.

    Helmut Lachenmann

  • Ich hoffe, demnächst die Ruhe zu finden, mir das Ganze noch einmal zusammen mit den Erläuterungen vorzunehmen...



    Darauf hoffe ich auch, aber die Zeit, ach die Zeit .... ;+)


    Auch die Kreisleriana lohnt sich definitiv.


    :wink: :wink:


    Christian

    Rem tene- verba sequentur - Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen

    Cato der Ältere

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