WAGNER: Parsifal – Kunstreligion aus "Noth um den Geschlechtstrieb"? Klangdenkmäler, ungeahnt, edel und voller Kraft?
Wagners letzte Oper ist bis heute dasjenige seiner Werke, das mir am nächsten steht:
Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen
Früher, während meiner Studienzeit, war ich ein begeisterter Wagnerianer, auch wenn ich seinen Ideen von Anfang an skeptisch blieb. Am ehesten sprach mich noch der Weltmythos an, der die Ring-Tetralogie beherrscht, da gab es zumindest viel Reibungsfläche und geschichtsphilosophischen Anreiz.
Die Themen des Parsifal blieben mir bis heute fremd: Ich glaubte schon damals – geprägt u. a. durch Adornos Versuch über Wagner, die Biographie Ernest Newmans und nicht zuletzt Friedrich Nietzsches Kritik, der etwa über Wagners „Noth um den Geschlechtstrieb“ spottete – rassistische, präfaschistische Züge darin zu finden: Das Ideal eines Männerbündnisses (die Gralsritter), dessen Reinheit durch ein Weib (Kundry) tödlich gefährdet wird, der „reine Tor“ Parsifal, der am Ende – nach Vernichtung der teuflisch-zaubrischen Gegenwelt des Klingsor mit seinen betörenden Blumenmädels – die Welt erlöst, dann die Kunstreligion, die Wagner propagiert ("Da wo die Religion künstlich wird, ist es der Kunst vorbehalten, den Kern der Religion zu retten“ – dieses Wagner-Zitat stand am Ende einer von John Dew in Darmstadt inszenierten Aufführung, die ich vor einem Jahr erlebte), der lächerliche Brauch des Beifallsverbots bei Aufführungen, teilweise noch heute (gleichsam verordnete „stumme Ergriffenheit“) – all das läßt mich sympathisieren mit Bewertungen, wie ich sie etwa bei Claude Debussy finde (Gil Blas, 6. April 1903, aus: Claude Debussy, Monsieur Croche. Sämtliche Schriften und Interviews, hrsg. von F. Lesure. Reclam/Stuttgart 1982, S. 146f.):
ZitatIm Parsifal, dem letzten Kraftakt eines Genies, vor dem man sich verbeugen muß, versuchte Wagner, der Musik weniger Zwang anzutun; hier atmet sie freier. Da ist nicht mehr dieses nervtötende, atemlose Keuchen, um der krankhaften Leidenschaft eines Tristan auf der Spur zu bleiben, den tierisch-wilden Schreien einer Isolde sich anzugleichen; da ist auch nicht mehr der großsprecherische Kommentar zu den Unmenschlichkeiten Wotans. Nirgends erreicht die Musik eine so heitere Schönheit wie im Vorspiele zum dritten Akt des Parsifal und im ganzen „Karfreitagszauber“, obgleich sich selbst hier die persönliche Auffassung Wagners von der menschlichen Natur im Verhalten bestimmter Personen des Dramas kundtut: Schauen Sie nur auf Amfortas, den traurigen Gralsritter, der klagt wie eine kleine Modistin und greint wie ein Kind... Zum Donnerwetter! Wenn man Gralsritter und Königssohn ist, stößt man sich die Lanze in den Leib und trägt nicht drei Akte lang seine selbstverschuldete Wunde auf melancholischen Kantilenen spazieren. Und Kundry? Die alte Höllenrose hat zwar der Wagnerliteratur viel Stoff geliefert, doch muß ich gestehen, daß ich für diese sentimentale Straßendirne wenig Sympathie aufbringe. Den schönsten Charakter in Parsifal hat Klingsor (ein ehemaliger Gralsritter, der wegen allzu persönlicher Ansichten über die Keuschheit vom heiligen Ort verbannt wurde). Er ist wunderbar in seinem grollenden Haß; er weiß, was die Menschen wert sind und prüft die Standhaftigkeit ihrer Keuschheitsgelübde auf den Waagschalen der Verachtung. Woraus man mühelos schließen kann, daß dieser durchtriebene Magier, dieser alte rückfällige Halunke, nicht nur die einzige „menschliche“, sondern auch die einzige „moralische“ Person dieses Musikdramas ist, in dem die falschesten moralischen und religiösen Ideen verkündet werden; Ideen, deren heldenhafter und unerfahrener Ritter der junge Parsifal ist.
Mit einem Wort, in diesem christlichen Drama will sich niemand opfern (obwohl das Opfer eine der schönsten christlichen Tugenden ist), und wenn Parsifal seinen Wunderspeer wiederfindet, so dank der alten Kundry, dem eigentlichen Opfer in dieser Geschichte. Sie ist sogar ein doppeltes Opfer, das den Teufelskünsten Klingsors wie der frommen Wehleidigkeit des Gralsritters dargebracht wird. Die Atmosphäre ist gewiß religiös, aber warum gibt es bei den Knabenstimmen an manchen Stellen so verdächtige Schnörkel? (Denken Sie einen Augenblick an die kindliche Reinheit, die ein Palestrina in sie hineingelegt hätte.)
Alles, was ich hier sagte, bezieht sich nur auf den Dichter, den man in Wagner zu bewundern pflegt, und betrifft in keiner Weise den musikalischen Teil des Parsifal, der überall von erlesener Schönheit ist. Man hört da Orchesterklänge, die einmalig sind und ungeahnt, edel und voller Kraft. Das ist eines der schönsten Klangdenkmäler, die zum unvergänglichen Ruhm der Musik errichtet worden sind.
Der letzte Absatz ist für mich entscheidend: Was auch mich an diesem Werk fasziniert, seit ich es zum ersten Mal gehört habe (zunächst in einer Aufführung in Stuttgart in den 70ern, Regie: Götz Friedrich, Bühnenbild: Günther Uecker, dann auf LP: ich kannte lange nur die Boulez-Aufnahme, Bayreuth 1970), das ist die Musik: ein Dahinfließen in epischer Ruhe, eine Entfaltung von Klangfarbenzauber, die mir neu war und deren Weiterführung ich später bei Debussy lieben lernte, so in Pelléas et Mélisande (das erste Orchesterzwischenspiel z. B. zitiert ganz offen Wagner, an der Stelle „Zum Raum ward hier die Zeit“, und den 2. Akt des Parsifal empfinde ich als sehr französisch!), das Phantastisch-Berückende im Rausch der Klangfarben fand ich später auch bei Franz Schreker (Die Gezeichneten). Die Musik des Parsifal hat mir in mancher Hinsicht geholfen, wichtige Werke des 20. Jahrhunderts zu erschließen und besser zu verstehen.
Nun noch ein paar Fakten zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte (nach Wilhelm Zentner, Einleitung, in: Richard Wagner, Parsifal. Reclam/Stuttgart 1972):
Richard Wagner selbst datierte seine erste entscheidende Begegnung mit dem Parsifal-Stoff auf den Karfreitag 1857: „[V]om Karfreitagszauber aus konzipierte ich schnell ein ganzes Drama, welches ich, in drei Akte geteilt, sofort in wenigen Zügen flüchtig skizzierte“. Dann kümmerte er sich allerdings erst um andere Projekte: Tristan und Isolde, Die Meistersinger von Nürnberg und die Tetralogie Der Ring des Nibelungen.
1865 begeisterte sich Ludwig II. von Bayern, inzwischen Förderer des Komponisten, für das Vorhaben, und Wagner erarbeitete einen ausführlicheren Entwurf, der schon alle Hauptmomente der späteren Handlung enthielt. 1877 – die ersten Bayreuther Festspiele hatten im Vorjahr mit der Uraufführung des Ring-Zyklus ihre Premiere gefeiert – nahm Wagner den Parsifal endgültig in Angriff. Im April 1877 war die Dichtung abgeschlossen; aus „Parzival“, dem um 1200 geschaffenen Epos des Wolfram von Eschenbach, war nun „Parsifal“ geworden.
Mit der Komposition begann Wagner im Herbst 1877; bis April 1879 waren die Kompositionsskizzen fertig, die Instrumentation erforderte weitere drei Jahre; Anfang 1882 war die Komposition abgeschlossen.
Nachdem man im Bayreuther Festspielhaus seit 1876 nicht mehr gespielt hatte, fand die Uraufführung des Parsifal am 26. Juli 1882 statt, unter der musikalischen Leitung des Münchener Hofkapellmeisters Hermann Levi. Bis 1913 blieb das Werk, abgesehen von 1884 durch König Ludwig ausbedungenen „Separatvorstellungen“, nach dem Willen des Meisters Bayreuth vorbehalten. 1889 etwa erlebte Debussy, damals nach eigener Aussage ein "fanatischer Wagnerverehrer", dort eine Aufführung. Erst nach Ablauf der Schutzfrist erfolgte, nach heftigen Debatten für und wider, die Freigabe, so daß erst 30 Jahre nach Wagners Tod die Opernhäuser der Welt damit beginnen konnten, den Parsifal in ihr Repertoire aufzunehmen.
Wie seht und hört Ihr den Parsifal? Was fasziniert Euch, was weniger?
Besonders interessieren würden mich Ansätze zur besseren Verständnis des Werks – literarisch wie musikalisch. Auch wenn ich dem dichterischen Gehalt, wie beschrieben, eher kritisch bis ablehnend gegenüberstehe, denke ich, daß es da, wie bei allen großen Kunstwerken – denn ein solches ist der Parsifal zweifellos, zumindest musikalisch – tiefere Bedeutungsschichten geben könnte, die mir bislang entgangen sind.
Interessant wäre auch ein Vergleich der Wagnerschen Adaption mit den mittelalterlichen Vorlagen, vor allem der von Wolfram von Eschenbach. Wie hat Wagner den Mythos verändert und gestaltet? Mit welchen Intentionen, mit welchen Ergebnissen?
Und was das Besondere an der Komposition ist – „wie sie gemacht ist“ und ihre musikgeschichtliche Bedeutung – darüber wüßte ich gern mehr.