Weber: Der Freischütz, Wuppertal, 14.9.2012
Besetzung:
Ottokar Thomas Laske
Kuno Olaf Haye
Agathe Banu Böke
Max Niclas Oettermann
Kaspar John In Eichen
Ännchen Dorothea Brandt
Kilian Boris Leisenheimer
Eremit Martin Js. Ohu
Samiel Marco Wohlwend
Sinfonieorchester Wuppertal
Opernchor Wuppertal
Leitung: Florian Frannek
Regie: Andrea Schwalbach
Regisseurin Andrea Schwalbach verlegt die Oper vom 17. Jahrhundert in die Zeit der 1950er Jahre und bürstet das Stück, wie in Wuppertal seit einiger Zeit nicht unüblich, ordentlich gegen den Strich. Sie hat den düstersten, hoffnungslosesten und deprimierendsten Freischütz auf die Bretter gebracht, den ich je gesehen habe.
Zu Beginn der Ouvertüre befindet sich das komplette Freischütz-Personal auf der Bühne und schnell wird deutlich: bei Oberförsters und im Dorf hängt der Haussegen gewaltig schief, das Böse lauert immer und überall und von Beginn an ist klar: das hier kann kein wirklich gutes Ende nehmen. Der strahlende C-Dur Schluß der Ouvertüre wirkt wie blanker Hohn...
Das Bühnenbild besteht aus einem Bretterverschlag, der im Verlauf der Handlung auch als Kulisse zu Agathes Heim, zur Wolfsschlucht und zum Ort des Probeschusses dienen wird. Die Dorfgemeinschaft trägt 50er Jahre Mode: Petticoat und Dauerwellen die Damen, Anzug die Herren. Agathe steht im schneeweißen Brautkleid mitten unter ihnen und scheint unglücklich. Die Reaktionen ihrer Nachbarn machen deutlich, daß es um Agathes Tugend nicht so bestellt ist wie es zu wünschen wäre, und das es gute Gründe gibt, sie schnellstmöglich unter die Haube zu bringen - und daß es nicht unbedingt Max ist, der für Agathes, nennen wir es „Zustand“, verantwortlich ist. Also: Agathe soll verheiratet werden, fühlt sich aber immer noch zu Kaspar hingezogen...oder doch zu Samiel? Der schwarze Jäger ist hier kein schwarzer Jäger, sondern ein Spießbürger mit Aktentasche, Termoskanne, braunem Anzug und Pomadenfrisur. Ein wenig lächerlich aber nicht zu unterschätzen: Während Max von Wäldern und Auen singt, meuchelt Samiel den Bauern Kilian: er küsst in auf den Mund und stößt ihm einen Dolch in den Bauch, Blut quillt aus Bauch und Mund, es wird nicht das letzte mal gewesen sein...
Alle in diesem Stück sind auf den dunklen Jäger angewiesen, alle sind verrückt nach ihm und jedem gibt er, was er braucht: für Kaspar ist er zunächst der Kumpel mit dem er derbe Witze über Maxens Verzweiflung und seine Liebe zu Agathe macht, für Max ist er selbstverständlich scheinbare Rettung in höchster Not, für Agathe und Ännchen ist er Gesellschafter im einsamen Forsthaus: sie flirten mit ihm, sie machen sich mit ihm über Unwetter, herabstürzende Bilder und böse Vorzeichen lustig – und sie konkurrieren miteinander, denn beide würden lieber Heute als Morgen Gefährtin des Bösen werden und buhlen um seine Aufmerksamkeit. Agathe spielt die verliebte Braut, Samiel den schmachtenden Bräutigam – mit einer Hirschmaske samt mächtigem Geweih auf dem Kopf...
Wenn Ännchen „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“ singt, dann flirtet sie Samiel an statt Agathe aufzumuntern, Agathes „Er ist’s! Er ist’s! Die Fahne der Liebe mag weh’n!“ gilt ganz eindeutig nicht Max, denn als er eintritt ist sie überaus verwirrt und wenig erfreut.
Die Wolfsschlucht entbehrt jeder Schauerromantik und ist von einer Grausamkeit, die ich so schnell nicht vergessen werde, und die mir sehr an die Nieren gegangen ist. Dabei fängt es eher banal an: auf strahlend heller Bühne wird eine Jungfrau geopfert, die Kaspar als Gastgeschenk für Samiel mitbringt. Der küsst die Dame blutig und kommentiert genüsslich „Du hast gut gewählt“. Im Laufe der Szene fließt wieder viel Theaterblut wenn der Halbtoten sämtliche Adern geöffnet werden. Kaspar und Max gießen die Freikugel nicht – Samiel würgt sie in einem qualvollen, nicht enden wollenden Akt aus seinem Innern hervor und spukt sie in zwei Schüsseln die von Agathe und Ännchen gehalten werden. Fräulein Agathe ist schlecht gelaunt, denn sie hat zuvor mit anhören müssen wie Samiel zu Kaspar gesagt hat „Ich will Agathe noch nicht“. (Die moderne Version von „Noch hab ich keinen Teil an ihr“ und m.E. durchaus falsch übersetzt...) Das wilde Heer kommt nicht vor, Luchs und Wiedehopf bleiben ungeschoren, stattdessen werden, als mehr Blut zur Geburt der Freikugeln nötig wird, einem armen Teufel beide Augen ausgestochen – denn nicht nur die unmittelbar betroffenen wohnen der Freikugelgewinnung bei, sondern die ganze Dorfgemeinschaft. Sechs Freikugeln würgt der Teufel für Max und Kaspar hervor. Die siebente, die Teufelskugel, erbricht Max selber ... eine schauerliche, entsetzliche Szene die mir seither nicht aus dem Kopf geht.
Am Morgen danach sind alle arg ramponiert und blutverschmiert: Agathes ehemals weißes Brautkleid ähnelt dem Gewand der Lucia di Lammermoor nach dem Gattenmord, Ännchen, die Brautjungfern, die Jäger, sie alle sehen wüst und derangiert aus. Die tote Jungfrau aus der Wolfsschlucht sitzt, mit weißen Rosen geschmückt, auf einem Stuhl. Der geblendete Dorfbewohner dem die Augen ausgestochen wurden irrt hilflos umher... Agathes „Und ob die Wolke sie verhülle“ ist in diesem Zusammenhang kaum auszuhalten, denn wem immer sie sich anvertraut, ein gütiger Vater ist es nicht... Ännchens Lied vom Kettenhund Nero erzürnt nicht Agathe sondern Samiel, den Ännchen daraufhin umschmeichelt und umgarnt: „Du zürnest mir? Doch kannst du wähnen, ich fühle nicht mit dir?“ Übermütig kokettiert sie mit Samiel, übermütig küsst sie ihn auf den Mund und stellt mit Erstaunen und kindlicher Freude fest, daß sie die Erste und Einzige ist für die dieser Kuß folgenlos bleibt: kein Blut strömt ihr aus dem Mund... zum erstenmal ist Satan selbst verwirrt, verlegen und fast ein bisschen schüchtern. Agathes Erschrecken vor der Totenkrone findet nicht statt, denn sie selber ist es die, grausam und nicht mehr ganz bei sich, dem toten Mädchen aus der Wolfsschlucht die weißen Rosen aus dem Haar nimmt und ihn sich mit einem spöttischen „Der Kranz einer Toten!“ aufs Haupt drückt, gemeinsam zieht man zur Festwiese um dem Probeschuß beizuwohnen.
Fürst Ottokar ist ein alberner Operettengeneral (und Thomas Laske wunderbar in dieser kleinen Rolle), der nichts, aber auch gar nichts mitkriegt von dem was um ihn herum passiert und der den Jägerchor mit großen Bewegungen und albernem Lächeln dirigiert. Als Ziel für den Probeschuß gibt er nicht eine weiße Taube an, sondern deutet auf Kaspar, was alle erstarren lässt. Dann stellt sich Agathe schützend vor den ehemaligen Geliebten, Max schießt, Kaspar fällt tödlich getroffen tu Boden und Agathe bleibt wie durch ein Wunder unverletzt. Endlich hat dann auch Ottokar gemerkt das hier irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung ist und fragt nach. Kaspar wird in die Wolfschlucht geworfen, Max das Landes verwiesen, alles stürzt sich auf Ottokar und bestürmt ihn um Gnade, vergeblich. Großes Getümmel, dann mitten aus dem Getümmel heraus eine Stimme: „Wer legt auf ihn so strengen Bann?“, und das ist der erste wirklich bewegende Moment des Abends: der da um Vergebung bittet ist kein Eremit, sondern der Blinde aus der Wolfsschlucht der begriffen hat: Haß und Unversöhnlichkeit bringen immer nur neuen Haß und neue Unversöhnlichkeit hervor. Selbst Ottokar in seiner Lächerlichkeit scheint bewegt und vergibt. Agathe und Max nehmen sich verstohlen und unendlich vorsichtig bei der Hand: der erste Moment der Zärtlichkeit zwischen ihnen und eine zarte Hoffnung auf Annäherung. Aber es ist zu spät, Agathe ist dem Bösen zu nahe gekommen: während der Chor dem Publikum den Schlußgesang entgegensingt, quillt ihr das Blut aus dem Mund...
Zum Musikalischen: Mir hat die Aufführung musikalisch gut, in manchen Momenten sehr gut gefallen. Vor allem John in Eichen als Kaspar und Martin Ohu mit seinem kurzen aber beeindruckenden Auftritt als Eremit brauchen sich hinter größeren Namen keinesfalls zu verstecken. Niclas Oettermann als Max klingt manchmal etwas angestrengt, singt aber in jedem Moment textverständlich und kriegt das Terzett „Wie? Was? Ensetzen?!“ wirklich großartig hin. Banu Böke hat mir diesmal nicht ganz so gut gefallen wie sonst, aber ihre Stimme hat nach wie vor ein sehr schönes, warmes Timbre. Herausragend sind m.E. der Wuppertaler Opernchor und das Sinfonieorchester. Wer sich selber einen Eindruck verschaffen möchte, bitte schön: Klick
Mein Fazit:
Mit diesem Freischütz geht es mir, wie vor geraumer Zeit mit der Wuppertaler Zauberflöte: ich kann nicht sagen, dass es mir rundherum gefallen hat, aber mir geht die Inszenierung nicht aus dem Kopf und ich denke immer noch darüber nach. Der Konflikt Gut – Böse läuft ins Leere, da er hier nicht stattfindet: alle sind sie mehr oder weniger intensiv mit dem Teufel im Bunde, keiner ist unschuldig oder geschützt. Keiner mit Ausnahme des Eremiten (der hier kein Eremit ist) der die Situation aber auch nicht mehr wirklich retten kann. Gefallen hat mir der Gedanke, dass hier eine junge Frau vor den Altar gezwungen werden soll weil es gerade so gut passt: Max ist (eigentlich) ein guter Jäger und würdiger Nachfolger von Agathes Vater, die Tochter in einer Situation in der sie sich glücklich schätzen darf, einen anständigen Mann „abzukriegen“, denn Kaspar kommt vielleicht als Liebelei aber kaum als Schwiegersohn und Ehemann in Frage. Gefallen hat mir auch, dass deutlich wird, dass nicht nur die, die sich mit dem Teufel einlassen schuldig sind, sondern auch die, die durch ihren Hohn, ihren Spott und ihre Gehässigkeit andere in eine ausweglose Situation drängen, daher war es m.E. ein guter Gedanke, die Dorfbevölkerung (deren Spottgelächter eben nicht nur „in Güte und Liebe“ erklingt) in der Wolfsschlucht zu Erfüllungsgehilfen Samiels zu machen.
Gestört hat mich, dass Agathes Charakter doch sehr verfälscht wurde, aus dem Mädchen dem das Böse selbst im Tod nichts anhaben könnte, ist eine willige Braut Luzifers geworden.
Von den Originaldialogen ist Übrigens nicht viel übrig geblieben, sie wurden zusammengestrichen, verändert oder gleich ganz neu geschrieben. Einige wenige Originalzitate wurden eher mit ironischer, großer Operngeste parodiert. (Herrlich war zum Beispiel Maxens sturzbesoffenes „Um Mitternacht!!! In der Wolfsschlucht!“ :mlol: ). Alles in allem ein Freischütz, den ich mir nicht wieder ansehen würde, der mich aber doch sehr beeindruckt hat. Irgendwas muß die Regosseurin richtig gemacht haben, sonst ginge er mir nicht seit Freitag ständig im Kopf herum...
Für die Regie gab es neben Applaus übrigens auch laute Buh-Rufe...