Soweit ich es von den einzelnen CDs erkennen kann, handelt es sich bei der 3. um die "späte" (übliche) Fassung, bei der 1., 4. und 8. um die Erstfassungen. Das ist natürlich ein deutlicher Unterschied, weil es viel weniger Aufnahmen der Erstfassungen dieser Werke als der späteren Versionen gibt. Zwar anders als vor 30 Jahren bei Inbal kein Alleinstellungsmerkmal, aber schon etwas anderes. (Wobei Young u.a. neuere Einspielungen, glaube ich, auch Erstfassungen enthalten.)
Sehr vereinfacht zur Fassungsfrage: Die Sinfonien, bei denen die verschiedenen Fassungen sich erheblich unterscheiden (also z.B. nicht nur Beckenschlag ja oder nein wie bei der Siebten, sondern massive Differenzen) sind 1, 2, 3, 4 und 8.
Wenn man eine Gesamtaufnahme haben will, die in all diesen Fällen die "Erstfassungen" enthält, sollte man zu Young greifen, bei der außerdem "Nullte" und Studiensinfonie dabei sind.
Inbal hat bei der Zweiten noch die übliche Fassung der Erstpublikation von 1877, weil ihm die erste niedergeschriebene Fassung von 1872 noch nicht zur Verfügung stand.
Davies hat bei der Zweiten auch die 1877er-Fassung und - wie schon gesagt - bei der Dritten merkwürdigerweise die Letztfassung. Empfehlt sich also nicht, wenn man durchgehend die Erstfassungen haben will.
Tintner hat überwiegend Erstfassungen (und z.T. Alternativen), allerdings nicht bei der Vierten.
Tip für Bruckner-Interessierte (nicht für Spezialisten und Hardcore-Fans), die mit geringem finanziellen Aufwand hörend der Fassungsfrage nachgehen möchten: Kauf der preiswerten Gesamtaufnahmen von Young (prinzipiell Erstfassungen) und Wand/Köln (prinzipiell Letztfassungen). Dazu dann ggf. noch eine Aufnahme der sog. Zweitfassung der Dritten von 1877/78 (z.B., je nach Gusto, Haitink oder Harnoncourt) und eine Aufnahme der nach neuestem Forschungsstand vervollständigten Neunten (z.B. Rattle).
Die Fassungsfrage ist durchaus nicht nur etwas für Spezialisten oder Vollständigkeitsfetischisten. Die Fassungen unterscheiden sich teilweise extrem, das vergleichende Hören schärft auch das Verständnis für die Struktur der Werke und für die Entwicklung von Bruckners Kompositionsweise. Man sollte sich m.E. nur davor hüten, die sog. Erstfassungen für "authentischer" als die Spätfassungen zu halten. Beides hat seine eigene Berechtigung. Und ich finde z.B. in den Letztfassungen der Ersten und Dritten die gelegentlichen Einbrüche von dissonanzengespicktem Spät-Bruckner in die ganz andere kompositorische Faktur der Werke ziemlich fazinierend.
Was ich nicht mehr brauche, sind die Fassungen/Bearbeitungen von fremder Hand (z.B. Schalk/Loewe), wie sie teilweise z.B. von Furtwängler, Knappertsbusch oder in Einzelfällen auch noch Karajan verwendet worden sind. Aber Fans gibt es auch dafür.
Viele Grüße
Bernd