"Standardwerke"... Was ist das eigentlich?

  • Die ominösen 60000 Opern (einschl. Singspiele + Operetten) scheinen auf ein Opernlexikon von Stiegler? zurückzugehen (ich nehme nicht an, dass 60000 dort verzeichnet sind). Mir kommt sie zwar sehr hoch vor, aber die Größenordnung dürfte halbwegs stimmen, zumal es ja unscharfe Grenzen gibt (Ist Purcells "King Arthur" eine Oper?), d.h. wenn es "bloß" 10000 sind, sind es immer noch genug.
    Ich weiß aber nicht genügend genau Bescheid. Rossini schrieb 39 Opern in etwa 17 Jahren, also mehr als zwei pro Jahr (in manchen Jahren anscheinend aber bis zu fünf). Händel schrieb zur Zeit seiner Operngesellschaften bis zu drei pro Jahr, oft wurden aber auch ältere erneut produziert. Ich bin auch nicht sicher, ob die Operproduktion vor ca. 1700 und nach ca. 1850 so ein Fließbandbetrieb gewesen ist, wie mindestens teilweise in der Zwischenzeit.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Und was ist mit den Opern, die man für die Schublade geschrieben hat und die nie aufgeführt wurden?
    Man muss immer davon ausgehen, dass hinter dem, was sichtbar ist, noch viel mehr lagert, das produziert wurde.

    This play can only function if performed strictly as written and in accordance with its stage instructions, nothing added and nothing removed. (Samuel Beckett)
    playing in good Taste doth not confit of frequent Passages, but in expressing with Strength and Delicacy the Intention of the Composer (F. Geminiani)

  • Ich halte auch die genannte Zahl für irrelevant. Es wäre so, wie wenn wir heute die TV-Produktionen zählen. Viele Opern sind für den Moment geschreiben worden, für eine Saison, ein bestimmtes Theater und seine Sänger. Sie wurden dann oft genug recyclet (wie es auch Rossini noch getan hat). Und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein brauchten Opernhäuser immer neuen Stoff, da ist es eine Ausnahme, dass eine Oper wie die "Iphigénie en Tauride" immer wieder aufgelegt wurde. Menschen, Tiere, Sensationen - das ist eben Oper.


    Erst als sich ein neuer Opernbegriff (bis hin zum Bühnenweihfestspiel) durchsetzt, reduziert sich der Bedarf der Opernhäuser an neuen Stücken drastisch - bis eben ein historistisch geprägter Opernbetrieb entstanden ist, der nur noch aus einem engen Repertoire schöpft, wo Neuerscheinungen selten sind und noch seltener im Repertoire aufgenommen werden. "Die Bassariden" aufzuführen ist von Seltenheitswert - die derzeitige Grenze liegt wohl beim "Wozzeck" einerseits und Mozart andererseits. Bei der Operette bzw. dem Musical konnte man die Entwicklung mit einer gewissen Beschleunigung sehen. Ich denke, dass da eben andere Formen der abendlichen Unterhaltung dem Opernbetrieb den Rang abgelaufen haben ... und da gilt eben auch das Gesetz: immer neue "Formate" ...


    Liebe Grüße Peter

    .
    Auch fand er aufgeregte Menschen zwar immer sehr lehrreich, aber er hatte dann die Neigung, ein bloßer Zuschauer zu sein, und es kam ihm seltsam vor, selbst mitzuspielen.
    (Hermann Bahr)

  • Angenommen, Symphonie, Streichquartett und Klaviersonate wären nach 1830 ausgestorben, weil kein Komponist sich mehr für diese Gattungen interessiert hätte (und stattdessen vielleicht nur noch für Opern und Lieder), würden wir heute Beethovens meiste Kompositionen kaum als "Standardwerke" ansehen, sondern vielleicht als eine Laune der Musikgeschichte bespötteln, ohne tieferen Sinn für uns heute.

    Das würde ich einfach spaßeshalber mal so umformulieren: weil die Werke Beethovens in diesen Gattungen Standards gesetzt haben, die schwer zu halten oder zu überbieten waren, haben sich die Komponisten erstmal schwer damit getan, hier anzuknüpfen.

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Und was ist mit den Opern, die man für die Schublade geschrieben hat und die nie aufgeführt wurden?
    Man muss immer davon ausgehen, dass hinter dem, was sichtbar ist, noch viel mehr lagert, das produziert wurde.


    Ich glaube nicht, dass zwischen 1700 und 1850 *mehr* (oder auch nur ein Zehntel soviele) Opern für die Schublade geschrieben wurden als aufgeführt. Meinem Eindruck nach sind das (wie bei Schubert) absolute Ausnahmen. Zwischen 1850 und 2012 sieht das vielleicht anders aus. Da ich eh von ungefähr einem Faktor 5 Unsicherheit (ungefähr 10000 bis 60000 Stücke) ausgehen würde, machen 2000 Schubladenopern eben nicht auch nicht mehr viel aus. Es werden ja vermutlich auch viele Opern gewertet, die nur dem Namen nach bekannt sind oder wo die Musik verschollen ist.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • "Standardwerke" und "Kanon" dürfe schon deshalb nicht ernst genommen werden, da fast nix VOR Bach standardisiert und kanonisiert sind.

    Das stimmt so jedenfalls auch nicht. Im Kanon gibt's genug aus Renaissance und Barock.

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  • Der Kanon ist aber auch nicht nur eine Sammlung von Empfehlungen für "Anfänger" sondern eher ein Gerüst von Orientierungspunkten, die demjenigen, der sich mit einer Epoche beschäftigt, bekannt sein müssen.

    Im Italien des Frühbarock etwa Caccinis "Nuove Musiche", Peris "Euridice", Cavalieris "Rappresentatione", Monteverdis Opern, Marienvesper, sowie einige Madrigale, darunter das "Lamento d'Arianna" und "Il combattimento di Tancredi e Clorinda", bei Frescobaldi gibt es auch kanonischere und weniger kanonische Werke.

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