Händel - Dixit Dominus, HWV 232

  • Händel - Dixit Dominus, HWV 232

    Liebe Capricciosi,


    ein relativ außergewöhnliches Stück Musik stellt der Psalm 110, das "Dixit Dominus", von Georg Friedrich Händel dar.
    Als ich es vor einigen Monaten im Radio hörte - ich hatte die ersten Minuten verpasst und wusste nicht, was und von wem es ist - dachte ich so bei mir: Wer hat denn so einen Mist geschrieben? Ich fand das qualitativ gar nicht überzeugend, mir ging dieser Musikstil ziemlich auf den Senkel. Als dann die Ansage kam "Händel Dixit Dominus", wunderte ich mich schon sehr, dass das aus der Feder des großen Händel kommen sollte. Ich hätte eher auf einen unbekannten Italiener getippt.


    Nun, meine Meinung über das Stück hat sich glücklicherweise zum Positiven gewandelt. Sonst hätte ich wahrscheinlich auch nicht diesen Thread gestartet.



    Entstehung:


    Meine oben beschriebene Vermutung, dass das Stück von einem Italiener kommt, war auch gar nicht so verkehrt. Denn die Einflüsse, die Händel auf seiner dreieinhalbjährigen Italienreise bekam, spiegeln sich auch deutlich in diesem Stück wieder. In Italien komponierte Händel hauptsächlich Opern. Warum er dann ausgerechnet ein geistliches Werk schrieb, weiß man nicht genau. Es könnte eine Bestellung des Kardinals Colonna für die Vesper am Fest der Madonna del Carmine gewesen sein. Österlich-gregorianische Themen lassen aber auch die Vermutung zu, dass das Werk für die Ostermesse in Rom geschrieben wurde. Fakt ist, dass Händel den Psalm im April 1707 vollendete und eine Uraufführung noch im selben Jahr irgendwo in Italien stattfand.


    Das "Dixit Dominus" stellt somit ein Frühwerk Händels dar, er war zur Zeit der Komposition 22 Jahre alt.



    Musik:


    Die Besetzung verdient bereits eine explizite Erwähnung. Denn hier gilt das Prinzip 3 mal 5: 5 Solopartien, ein 5-stimmiger Chor sowie ein 5-stimmiges Streicherensemble.
    Grundtonart ist g-Moll und dieses Moll bestimmt auch den dramatischen und forschen Charakter des Werkes.
    Den Musikern wird alles abverlangt, die Schwierigkeit des Stückes ist exorbitant hoch. Gerade der Chor muss richtig arbeiten, denn Händel behandelt ihn selten vokal, sondern oft vielmehr instrumental, als wenn es ein großes Konzert, also ein Concerto grosso nach italienischer Art, ist. Der Ambitus in den Stimmen ist riesig: Soprane müssen richtig hoch (Beethoven 9 ist dagegen Kuschelwiese), Bässe müssen auch richtig hoch und kurz vor Schluss ganz tief.


    Das Werk besteht aus acht Sätzen, man kann es (jenachdem) auch in 10 Sätze einteilen.


    Der erste Satz "Dixit dominus domino meo" beginnt mit einer längeren fast opernhaften Orchestereinleitung. Der Chor agiert noch häufig homophon, wird zwischendurch aber von Solisten unterbrochen. Hier kann man besonders gut das Prinzip des Tutti-Solo aus dem italienischen Konzert beobachten, Corelli wird hier Händel Vorbild gewesen sein. Immer wieder kommen vom Chor diese charakteristischen "Dixit"-Rufe hervor, auch am Schluss gibt es keine Chorkadenz, sondern nur ein Ruf und das Orchester spielt das Schlussritornell.


    Die nächsten beiden Sätze sind den Alt- und Sopran-Solisten vorbehalten. Eine Arie findet mit Continuo-, die andere mit Orchesterbegleitung statt.


    Im vierten Satz bekommen wir dann erstmals die kühne Harmonik mit, die dieses Stück so schwierig macht. Beim "Juravit Dominus" wird man vielleicht an das "Denn wie durch Adam alles stirbt" aus dem Messias erinnert. Das ist aber im Gegensatz zu dieser Stelle wirklich Kindergarten ;) , denn was Händel hier an chromatischen Vorhaltsfortschreitungen präsentiert, ist seiner Zeit meilenweit voraus. Was er in seiner Jugendzeit musikalisch so ausprobiert hat, kann man hier ganz gut sehen.
    Das "Juravit" kommt dann noch einmal und wird von einem schnellen "Et non non poenitebit"-Teil abgelöst, der dann in den fünften Satz mündet.


    Auch hier kann man wieder Händels kontrapunktische Stärke sehen. Denn der Text, der diesem Satz zugrunde liegt, ist eigentlich kaum vertonbar: "Tu es sacerdos in aeternum secundum ordinem Melchisedech." Während also ein Thema mit dem Text "Tu es sacerdos in aeternum" den Grund legt, ist der Kontrapunkt "secundum ordinem Melchisedech" im schnellen Tempo ein echter Zungenbrecher.


    Der sechste Satz ist von besonderer Schärfe, denn hier gibt es besonders viele schöne Dissonanzen. Nacheinanderfolgende Choreinsätze im Sekundabstand und viele weitere dichte Klänge lassen einen fragen, ob man hier wirklich noch in der Barockmusik ist. Es gibt aber auch eine sehr angenehme "Judicabit"-Fuge, die wirklich gut auf die Stimme geschrieben ist und sich sehr gut singen lässt. Der Höhepunkt kommt dann vielleicht im "Conquassabit", das durch diese staccatoartigen Tonwiederholungen eine besonders eindrucksvolle Textdeklamation ist. (dt.: er wird zerschmettern das Haupt über alle Lande).


    Satz sieben "De torrente" ist eher zärtlich von den Sopranen gestaltet. Darunter darf der Männerchor und ein sich reibender Streichersatz den Grund bilden.


    Das großangelegte Finale dann im "Gloria", viele Koloraturen in Fugenform, perfekte kontrapunktische Arbeit. Der Schlussteil "Et in saecula saeculorum" basiert auf einem einzigen Ton, das Thema (oder der Dux) wird in den Notenwerten immer kleiner und führt dann direkt in die Koloratur hinein. Ein sehr pracht- und prunkvoller Satz, den man vielleicht mit ähnlichen Sätzen aus Bachs h-Moll-Messe vergleichen kann.


    Insgesamt bietet dieses rund 40-minütige Stück Musik so viele verschiedene Techniken, jeder Satz ist für sich genommen einzigartig. Händel hat hier wirklich einige Sachen ausprobiert, die dann später zu seinem Stil geführt haben.
    Wahrscheinlich hatte ich deshalb auch anfangs so viel Probleme mit diesem Stück. Es war für mich keine runde Sache, ich konnte halt keinen ausgeprägten Stil erkennen. Mit der Beschäftigung mit den Noten und des Selbersingens steigt man aber in die Großartigkeit dieses Werks ein und entdeckt es dann ganz für sich.



    Aufnahmen:


    Ich kann zwei Aufnahmen empfehlen.



    Mit Gardiner kann man ja meistens nichts falsch machen. Eine ausgewogene Interpretation, die auch die nötige Dramatik nicht vermissen lässt.



    Ganz extrem ist Hengelbrocks Interpretation. Rasend schnelle Tempi, kaum schaffbar vom Chor (aber sie schaffen es). Hier kann man den stürmischen und wilden Jungspund Händel vielleicht am Besten erleben.



    Jetzt bin ich auf Eure Beiträge gespannt, welcher Art sie auch sein mögen!


    :wink:


    Liebe Grüße,
    Peter.

    Alles kann, nichts muss.

  • Guten Morgen,


    neben der bereits erwähnten Hengelbrockaufnahme habe ich das Dixit Dominus (zusammen mit Bachs "Magnificat" ) in einer Einspielung mit dem Ensemble Le Concert d'Astree unter der Leitung von Emmanuelle Haim



    Ihre Tempi sind wenig langsamer als bei Hengelbrock, der Chor erreicht nicht ganz die Qualität des Baltkasar-Neumann-Chores.


    Hervorzuheben sind die Vokalsolisten Natalie Dessay, Philippe Jaroussky und Karine Deshayes.


    Gruß :wink:




    Deio

    " Ein Kluger bemerkt alles, ein Dummer macht über alles eine Bemerkung !"


    (Heinrich Heine)

  • Lieber Peter!


    Bei mir war es hingegen Liebe aufs erste Hören! Das brutale "Conquassabit", das liebliche und wunderschöne "De torrente" mit seinen vielen Reibungen - ja, es ist ein experimentelles Stück, aber in meinen Augen ein rundum gelungenes Experiment! Und der Schlusssatz mit diesem genialen EinTon-Fugenthema - das fetzt, aber wie! :D


    Meine Aufnahme ist folgende:



    Ich bin damit rundum zufrieden! Großartig sind vor allem die beiden Sopranistinnen Annick Massis, die auch in der ebenfalls faszinierenden Solokantate "Saeviat tellus inter rigores" glänzt, und Magdalena Kozená.


    Liebe Grüße,
    Areios

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

  • Hallo zusammen,


    ich muß es gestehen: ich kenne es bisher nicht. Und irgendwie habe ich diesen Faden auch gerade erst registriert. Aber sofort ist mir eingefallen, daß ich in dem am WE beendeten Buch "Tumult und Grazie" von Karl-Heinz Ott etwas gelesen hatte, was mch zu einer meiner üblichen "unbedingt-anhören"-Notizen veranlaßt hatte.
    Ott schreibt auf S. 160 f. u.a.:

    Zitat

    "Zu den beeindruckendsten Werken, die Händel je geschrieben hat, gehört das ebenfalls in dieser Zeit entstandene Dixit Dominus, ein Arien- und Chorgesang in acht Sätzen, der, wie Chrysander in seiner Werkausgabe behauptet, am 11. April 1707 beendet wurde, also vermutlich rechtzeitig für die Karwoche oder die Osterfeierlichkeiten, weshalb nicht ausgeschlossen wird, dass es im Petersdom oder in der Laterankapelle zur Uraufführung kam. [...] Obwohl die meisten Teile in Molltonarten gehalten sind, begegnen wir dabei einem Feuerwerk an Energie [...] Dass das Werk in seinen überwiegenden Chorteilen virtuose Sänger erfordert und sich durch eine Kontrapunktik auszeichnet, die Adornos Unsinnsgerede vom »homophonen Händel« gründlich widerlegt, mag erklären, warum es nicht gerade häufig aufgeführt wird, obwohl dieses Dixit Dominus, das von einem Zweiundzwanzigjährigen stammt, nicht nur ausreichen würde, um Händel einen Platz in der Musikgeschichte zu sichern, sondern auch zur Genüge zeigt, warum es abwegig ist, ihn ständig mit Bach vergleichen zu wollen."


    aus: Ott, Karl-Heinz (2008 )*: Tumult und Grazie. Über Georg Friedrich Händel.– 318 S.; Hamburg (Hoffman und Campe).

    Ich werde also versuchen, bei meinem nächsten Besuch in einer CD-Abteilung eine der von Euch genannten Aufnahmen in die Finger und die Musik in die Ohren zu bekommen.


    Viele Grüße,
    Wolfgang
    _____________________________________
    *
    (2008 ) sieht blöd aus, ist aber Absicht, sonst sieht das so aus: (2008); und [2008] sieht auch nicht so toll aus

    Die Wahrheit zu sehen müssen wir vertragen können, vor Allem aber
    sollen wir sie unseren Mitmenschen und der Nachwelt überliefern,
    sei sie günstig oder ungünstig für uns. (August Sander)


  • Ich werde also versuchen, bei meinem nächsten Besuch in einer CD-Abteilung eine der von Euch genannten Aufnahmen in die Finger und die Musik in die Ohren zu bekommen.


    Ja, Dixit Dominus ist neben dem Messias auch mein liebstes geistliches Werk Händels, es lohnt sich! Wenn der "de trorrente"-Satz gut eingespielt ist, werde ich regelmässig ganz besoffen von dessen Anmut.


    Wie Peter bin ich mit der sich gegenseitig ergänzenden Kombination meiner beiden Aufnahmen (Gardiner und Hengelbrock) sehr zufrieden.


    Minkowski hatte ich im Laden auch schon mehrfach in der Hand. Vielleicht kommt er demnächst wirklich mal als Drittaufnahme ins Körbchen.

    Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, hinter ihm schlagen die Sträuche zusammen.

  • Ja, Dixit Dominus ist neben dem Messias auch mein liebstes geistliches Werk Händels, es lohnt sich! Wenn der "de trorrente"-Satz gut eingespielt ist, werde ich regelmässig ganz besoffen von dessen Anmut.


    Wie Peter bin ich mit der sich gegenseitig ergänzenden Kombination meiner beiden Aufnahmen (Gardiner und Hengelbrock) sehr zufrieden.


    Minkowski hatte ich im Laden auch schon mehrfach in der Hand. Vielleicht kommt er demnächst wirklich mal als Drittaufnahme ins Körbchen.

    Der nächste Besuch in meinem Lieblingskulturkaufhaus steht heute abend außerplanmäßig an, und ein paar Geburtstags-Euros warten darauf, in den Konsumkreislauf zurückgeführt zu werden.
    Also werde ich mal sehen, was sie so im Regal haben – vielleicht ja alle vier bisher genannten Aufnahmen, das wäre mir für einen kleinen Hörvergleich am liebsten.


    Grüße,
    Wolfgang

    Die Wahrheit zu sehen müssen wir vertragen können, vor Allem aber
    sollen wir sie unseren Mitmenschen und der Nachwelt überliefern,
    sei sie günstig oder ungünstig für uns. (August Sander)

  • Also werde ich mal sehen, was sie so im Regal haben – vielleicht ja alle vier bisher genannten Aufnahmen, das wäre mir für einen kleinen Hörvergleich am liebsten.


    Ich kenne ansonsten nur den Gardiner, aber ich würde in den Hörvergleich unbedingt auch die Diego Fasolis-Aufnahme mit einbeziehen. Finde ich sehr gut, alle beide.



    Gruß, Cosima

  • Hallo,


    ganz interessant dürfte eine Neuerscheinung der Harmonia Mundi France sein, denn die Akademie für Alte Musik Berlin und Marcus Creed nehmen sich des Werkes an. Als Vokalinterpreten sind u.a. Andreas Scholl und das Vocalconsort Berlin dabei.



    Inzwischen habe ich auch andere Aufnahmen des Dixit Dominus hören können.
    Nicht so sehr gefallen hat mir die Haim-Aufnahme, das klang alles etwas unausgewogen und gut gewollt, aber nicht unbedingt gekonnt.
    Minkowski dagegen hat mich mit einer ganz unspektakulären, aber absolut runden Interpretation überzeugt.


    :wink:


    LG, Peter.

    Alles kann, nichts muss.

  • Hallo zusammen,


    eine Aufnahme muss unbedingt noch genannt werden:


    Georg Friedrich Händel (1685-1759)
    Dixit Dominus; Nisi Dominus; Silete Venti
    Künstler: Dawson, Russell, Brett, Partridge, Sixteen Orch., Christophers
    Label: Chandos , DDD, 89


    Dies ist einer der Fälle, wo ich nie das Verlangen hatte nach einer besseren Aufnahme Ausschau zu halten, da sie für mich schlicht perfekt ist!


    Viele Grüße
    Frank


    From harmony, from heavenly harmony
    this universal frame began.

  • Hallo Peter,


    ich mag die Hengelbrock-Aufnahme auch sehr, außerdem noch die von Parrott, die ich ausgeglichener finde:



    Ich lese gerade das sehr interessante Buch von Franzpeter Messmer:



    Darin heißt es auf S. 88, dass der Anlaß des Dixits ein Bankett des spanischen Botschafters in Rom zu Ehren seines Königs Philipps V. zu dessen Namenstag war. Es war die Zeit des spanischen Erbfolgekriegs und Rom war durch feindliche habsburgische Truppen akut bedroht. Die Komposition Händels spiegele "Härte, Gewalt und Kühnheit" wider. Sie rüttele auf und sei beklemmend schrecklich.


    Viele Grüße, Klaus

    Über Musik reden ist wie zu Architektur tanzen
    Frank Zappa

  • Hallo Peter,


    ich mag die Hengelbrock-Aufnahme auch sehr, außerdem noch die von Parrott, die ich ausgeglichener finde:


    Ja, die habe ich inzwischen auch und mag sie sehr. Sowieso finde ich die ganzen Parrott-Sachen alle sehr empfehlenswert, weil er halt eben so undramatisch, sachlich (im positiven Sinne) und ausgeglichen ist.



    Liebe Grüße,
    Peter.

    Alles kann, nichts muss.


  • Erwähnenswert ist vielleicht, dass The Sixteen und Harry Christophers das Werk vor kurzem ein zweites Mal eingespielt haben:

    «Denn Du bist, was Du isst»

    (Rammstein)

  • Ich habe mal meine Ausgabe des Dixit Dominus herausgekramt:



    S: Arleen Augér, Lynne Dawson
    A: Diana Montague
    T: Leigh Nixon
    B: Simon Birchall


    Choir & Orchestra of Westminster Abbey, Simon Preston



    Gefällt mir sehr gut. Schon was älter, aber nicht zu verachten. ;+)



    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse."

    Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation."

    Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..."

    jd


  • Ganz extrem ist Hengelbrocks Interpretation. Rasend schnelle Tempi, kaum schaffbar vom Chor (aber sie schaffen es). Hier kann man den stürmischen und wilden Jungspund Händel vielleicht am Besten erleben.


    Weil Thomas Hengelbrock ab dieser Saison neuer Chefdirigent des NDR-Sinfonieorchesters ist (seine angekündigten Konzertprogramme in Hamburg sind ausnehmend interessant) und ich bisher keine einzige Aufnahme von ihm besaß, habe ich mir nun diese Händel-/Caldara-CD zugelegt. Und Du hast nicht zuviel versprochen. Ich habe "Dixit Dominus" noch nie auch nur annähernd so dramatisch und hochspannend bei scharf angezogenen Tempi gehört :juhu: :juhu: :juhu:


    Es gibt viele sehr, sehr gute Aufnahmen dieses unglaublichen Händel-Jugendwerks und da ich bei weitem nicht alle kenne, zögere ich etwas, von einer Referenzaufnahme zu sprechen. Möglicherweise sind andere, die ich noch nicht kenne, noch besser (was kaum vorstellbar ist). Aber jedenfalls für mich persönlich hat Hengelbrock die glücklich machende Einspielung vorgelegt. Ein Beispiel: im sechsten Satz "Dominus a dextris tuis" lässt er bei der Textstelle "conquassabit" (ab 5:16 min. des sechsten Tracks) die Sängerinnen und Sänger drastisch vortragen, geradezu die Töne nur noch ausspucken sowie die Instrumentalisten (z.B. bei 5:55 min!!!) extrem schroff agieren. Das birgt eine Dramatik in sich, die ich bei diesem Werk von niemandem auch nur annähernd jemals so gehört habe.


    Bemerkenswert: er lässt die Solopartien nicht von irgendwelchen Starsängern vortragen, sondern von Mitgliedern seines Chores. Und diese Solisten meistern ihre Aufgabe überragend.

    «Denn Du bist, was Du isst»

    (Rammstein)

  • Ein digitales Experiment zur Besetzung von Händels "Dixit Dominus"

    Mit Freude sehe ich hier viele, die meine Begeisterung für dieses aussergewöhnlich virtuose und vitale Werk des 21 jährigen Händel teilen.
    Bei den mir bekannten Aufnahmen sah ich bei aller Ehrfurcht und Anerkennung für die immensen interpretatorischen und gesanglichen Leistungen eine ungelöste Frage, die michzu dem folgenden Experiment veranlasst hat:


    Geht man davon aus, dass um 1707 die kirchenmusik in Rom ausschließlich Knaben und männlichen Stimmen vorbehalten war, stellt sich bei den (zumindest mir bekannten) Aufnahmen von Dixit Dominus eigentlich ein elementares Probelm:


    Es gibt meines Wissens keine vollständige Aufnahme, die (wie ich zumindest annehme) historisch korrekt nur Knaben und Männerstimmen besetzt.


    Dafür mag es einen pragmatischen Grund geben: Die Partitur des 21 jährigen Händel stellt Ansprüche, die auch für einen erfahrenen professionellen Konzertchor noch recht hoch sind. Die Annahme scheint mir naheliegend, dass ein heutiger Knabenchor hier wirklich vor einer sehr großen Aufgabe stünde.


    Andererseits unterscheiden sich weibliche Sopran und Altstimmen, aber in ihrem Klangcharakter schon stark von Knaben- und Countertenorstimmen.


    Ich habe auch aus Begeisterung für die Musik des jungen Genies Händel daher "einfach" einmal versucht, eine digitale Realisation zu erstellen, die berücksichtigt welche verfügbaren Stimmen zumindest Händel während der Komposition vorgeschwebt haben können. Frauenstimmen werden es bei dieser krchlichen Psalmvertonung nach meiner Einschätzung wohl eher kaum gewesen sein können.


    Auch wenn ich versucht habe, die Sache mit meinen Mitteln so gut es geht zu gestalten, weiß ich, dass ich selbst nur all zu menchlich bin und meine Mittel sicher in vieler Hinsicht sehr begrenzt sind. Vielleicht aber ermöglicht mein Experiment trotzdem zumindest eine gewissen Vorstellung davon zu geben, wie sich der Charakter der Musik ändern würde, wenn es gelänge sie rein mit männlichen Stimmen zu besetzen, wie dies vermutlich für die römische Kirchenmusik der Zeit wohl eher zu erwarten gewesen wäre.


    Die vollständige Aufnahme meiner digitalen Interpretation kann man hier hören:
    "klassik-resampled.de/handel"


    beste Grüße
    fahl5

  • Geht man davon aus, dass um 1707 die kirchenmusik in Rom ausschließlich Knaben und männlichen Stimmen vorbehalten war, stellt sich bei den (zumindest mir bekannten) Aufnahmen von Dixit Dominus eigentlich ein elementares Probelm:


    Es gibt meines Wissens keine vollständige Aufnahme, die (wie ich zumindest annehme) historisch korrekt nur Knaben und Männerstimmen besetzt.


    Ich würde eher meinen: mit Kastraten - vor allem die Soloparts. Aber in Rom waren ja Kastraten ja auch im "Chor" (wenn es da überhaupt ein mehrfach besetztes Chor gab, und wir nicht, wie im Falle Bachs eher ein von den Solisten besetztes vorstellen müssen) üblich.


    LG
    Tamás
    :wink:

    "Vor dem Essen, nach dem Essen,


    Biber hören nicht vergessen!"



    Fugato

  • Korrekt, die Soloparts werden damals Kastraten übernommen haben, "Kastratenchöre" halte ich dann aber eherlich gesagt auch wieder nicht für so realistisch. Knabenchöre aber schon.


    Das ändert aber nach meiner Einschätzung eigentlich nichts daran, dass ein weiblicher Sopran sowohl im Chor als auch solistisch einen ziemlich vollständig anderen Klangcharakter hat.


    Nach dem was man von den letzten Kastraten an verknaksten Gramophonaufnahmen gehört hat, halte ich es zumindest für denkbar, dass ein Kabensopran oder aber auch ein Countertenor dem möglicherweise näher kommt als eine weibliche Solistin.


    Es ist wie gesagt "nur" ein Experiment aber nach langen Jahrzehnten die wir bereits HIP (historical informed Performance) für alles und jeden kennen, erscheint es mir eigentlich wirklich erstaunlich, dass dieses so brilliante Stück offenbar noch nicht unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wurde.


    gruß
    fahl5

  • Es ist vielleicht nicht ganz so kompliziert.


    Das Reich der Kastraten war (eigentlich) die Oper, solistisch, nicht die Chöre in der Kirchenmusik. Die waren neben den Knaben die Domäne der Falsettisten und der überhöhten Tenöre. Letztere können auch die Alt-Partien in der Barockmusik übernehemen. Rom war voll mit Falsettisten, besonders solchen aus Spanien. DAS waren die bevorzugten Sänger in der Kirchenmusik, wie auch schon Lodovico Grossi im Vorwort zu seinen Cento Concerti Ecclesiastici schreibt: Gute Kastraten waren wohl nicht allzu häufig und vor allem teuer, und die Knaben sangen ihm zu "unaufmerksam" und mit zu wenig musikalischem Gespür. Die Kastraten kamen in diesem Metier erst später.


    Zitat

    nach langen Jahrzehnten die wir bereits HIP (historical informed Performance) für alles und jeden kennen, erscheint es mir eigentlich wirklich erstaunlich, dass dieses so brilliante Stück offenbar noch nicht unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wurde.

    Wie schon Strawinsky zum Papst sagte (es kann nur ein Pius gewesen sein): "Geben Sie uns die Kastraten wieder!" Daß wir jetzt in der Barockoper Counter haben, liegt nur daran, daß wir keine Kastraten mehr haben... Unter HIP-Gesichtspunkten ist das ein echtes Defizit... :D
    Also: Counter in Händels Dixit Dominus ist alleweil hipper, als Counter in Oper (sagt auch René Jacobs). Die Kastraten hatten ja nicht nur Höhe, sondern auch satte Brustregister... Also je 2 mal Bass, Tenor, Taille/Altus und 3-4 Knabensoprane (inklusive aller Soli) ist ziemlich sicher historische Realität für die Kirchenmusik Anfanfg des 18. Jhs. In der Englischen Kirchenmusik hat sich das bis heute so erhalten.

    viele Grüße


    Bustopher



    Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche?
    Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, Heft D (399)

  • Hi Bustopher, so in etwa sehe ich das eben auch:

    Zitat

    ... die Chöre in der Kirchenmusik. Die waren neben den Knaben die Domäne der Falsettisten und der überhöhten Tenöre. Letztere können auch die Alt-Partien in der Barockmusik übernehemen. Rom war voll mit Falsettisten, besonders solchen aus Spanien. DAS waren die bevorzugten Sänger in der Kirchenmusik, wie auch schon Lodovico Grossi im Vorwort zu seinen Cento Concerti Ecclesiastici schreibt: Gute Kastraten waren wohl nicht allzu häufig und vor allem teuer, und die Knaben sangen ihm zu "unaufmerksam" und mit zu wenig musikalischem Gespür. Die Kastraten kamen in diesem Metier erst später.

    Mit dem Hinweis auf die am schnellsten überforderten Knaben weist du zugleich auf das "Problem" von Händels jungendlich übermütigem Meisterwerk. Peter spricht zwar oben von einer Uraufführung "irgendwo in Italien". Meines Wissens gibt es aber im Gegensatz zu Händels anderen Psalmvertonungen (z.B.Laudate Pueri und Nisi Dominus) aus Händels römischen Zeit von Dixit Dominus tatsächlich keine Belege die eine Aufführung wirklich dokmentieren würden. Auch die nicht gerade reiche Überlieferungslage legt wie mir scheint keine allzu häufige Aufführung nahe (falls es die überhaupt gab).


    Das Stück scheint mir eben ehrlich gesagt alles andere als pragmatisch, sondern in dem was er den Stimmen so alles zumutet eher reichlich optimistisch bis idealistisch komponiert worden zu sein (und dafür liebe ich dieses Stück ja auch :rolleyes: so) .


    Das Problem dass eine solche Partitur alles andere als leicht zu realisieren ist stellt sich aber auch heute offenbar ganz ähnlich, sonst hätten wir doch schon längst eine komplette und gut ausgearbeitete Aufnahme mit Knabenstimmen. Die kenne ich aber ehrlich gesagt einfach überhaupt nicht. (Ich habe einmal das De torrente von den Alsterspatzen gehört, was ich sehr viel stimmiger fand als alle Aufnahmen mit Frauenstimmen). Heute aber hört man das "dixit dominus" als ganzes doch vielmehr eigentlich eher nur mit versierten bis hoch versierten Konzertchören - eben mit Frauenstimmen.


    Ich gehe aber eben davon aus, dass Händel bei der Komposition die Klangkörper der Krichenmusik im Ohr gehabt hat, also nun wirklich keine Frauenstimmen, sondern eben vor allem Knaben und Falsettisten für die höheren Lagen.

    Daher habe ich mir ja die Mühe gemacht selbst eine (erste?) komplette Aufnahme mit Knabenchor, Knabensolisten und einem Falsettisten für die hohen Stimmlagen zu erstellen.
    siehe "http://klassik-resampled.de/handel"
    Es würde mich schon interessieren wie euch das zumindest als eine Art digitales HIP-Experiment gefällt.

  • Hallo zusammen,


    nachdem ich mit meinem Kirchenchor gerade ein herausforderndes Proben-Wochenende mit HWV 232 hinter mich gebracht habe, wollte ich meine Eindrücke als Ergänzung zum bereits hier Geschriebenen noch kurz festhalten.

    1) Im Bärenreiter-Klavierauszug von HWV 232 weist der Herausgeber Hans-Joachim Marx drauf hin, dass die Mehrzahl der Stücke (1-7) auf Papier geschrieben sind, das Händel 1706 in Venedig verwendet hat: das Stück ist also in Rom 1707 nur vollendet worden, vermutlich weil es Aussicht auf eine Aufführung gab.

    2) Ich finde, dass man eigentlich die gesamte Chormusik Händels aus diesem Stück ableiten kann - die einzige wirklich Novität sind die Coronation Anthems aus dem Jahre 1723, die die festliche Musik des Hallensers in ihrem Charakter bis zu seinem Lebensende prägen. Schon im Eingangsbeitrag hat petemonova auf Nr. 5: Juravit dominus hingewiesen, das den vielen Chorstücken, die aus Grave- und schnellem Teil bestehen als Vorlage dient. Aber es gibt noch andere Passagen: die bekannte Steigerung im Halleluja aus dem Messiah wird im gleichen Stück ab Takt 37 auf den Text non poenitebit schon einmal ausprobiert.

    3) Lustig ist, dass so viele Menschen (auch an anderen Stellen im Netz) die tolle Kontrapunktik loben. Und auch hier gilt: jedem Anhänger von echtem Oldschool-Kontrapunkt im Sinne von JSB würden sich die Nackenhaare aufstellen, wenn sie sehen, dass Händel eigentlich nur hier (aber eben auch an vielen weiteren Stellen in seinem Chorwerk) die Wirkung von Kontrapunktik hervorruft, ohne diese eigentlich wirklich anzuwenden.

    Z.B. die Schlussfuge et in saecula saeculorum auf einem einzigen Ton. Hier gibt es in Nr. 9 ab Takt 55 eine ordentliche Exposition, aber alles was danach kommt, hat eben mit dem Schreiben von strengen Fugen eigentlich nix zu tun. Als Chorsänger habe ich nun so manche Chorfuge in den großen Messvertonungen z.B. bei Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Brahms (hier meine ich op. 45) gesungen und gesehen, was die so alles gemacht haben, um 'neu und innovativ' zu wirken. Zum Handwerkszeug der genannten späteren Komponisten gehören z.B. Engführungen z.T. nur mit einem einzigen Takt. Oder schärfste, wiederholte Dissonanzen gegen den Orgelpunkt, Motivabsplitterungen etc. All das macht Händel in diesem Jugendwerk auch schon. In der genannten Schlussfuge beginnen die Engführungen (nur um einen halben Takt versetzt) in Takt 110, die Dissonanzen gegen den Orgelpunkt sind in Takt 165 am krassesten, hier erklingen C, D, E und Fis auf Zählzeit 3.


    Ich empfinde das Stück als absolut freien Geniestreich eines Komponisten, der Regeln nicht besonders ernst genommen hat, eine Explosion an musikalischer Energie, ein sehr lustvolles Stück, das seinen Chor-Aufführenden wirklich alles abverlangt. Unser Chorleiter äußerte nach einigen besonders gut in den Proben gelungenen Passagen 'Ich bin im Himmel', damit wollte er vor allem das überwältigend gelungene Stück wertschätzen. Was für ein Vergnügen!


    Gruß Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)

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