Johannes Brahms: "Aber abseits, wer ist's?"
Seit einigen Wochen beschäftige ich mich intensiv mit der Musik Johannes Brahms', hörend und auch lesend, und das veranlaßt mich, heute einen Faden zum Komponisten allgemein anzuspinnen.
Über meine starke Affinität zu Brahms wundere ich mich selbst ein wenig, denn er gehörte zwar immer (sprich: seit ca. 40 Jahren) zur Schar meiner Favoriten, aber nicht immer in meine erste Reihe, ja, es gab Zeiten, in denen mein Verhältnis zu seiner Musik ziemlich abgekühlt war.
Der Reihe nach: Als ich begann, mich für klassische Musik zu erwärmen, zogen mich vor allem Symphonien und Konzerte aus der klassisch-romantischen Zeit an, also auch Brahms. Obwohl mir dessen Hang zur Melancholie durchaus gefiel, waren mir bald Beethoven, Bruckner und Mahler näher, deren Symphonien mir bunter und weniger grau erschienen. Die Haltung, daß Brahms langweilig sei, verstärkte sich, als ich begeisterter Wagnerianer wurde. Während ich beim Bayreuther Meister so etwas wie echte Ekstase und Tiefe herauszuhören glaubte, erschienen mir die Gefühlswelten in Brahms' Symphonien unecht und künstlich aufgebauscht, wie ein "Sturm im Wasserglas".
Eine Zeitlang versuchte ich mich an der Klarinette, hatte auch Unterricht, doch auch das brachte mir etwa die späte Kammermusik mit Klarinette nicht so recht näher.
Das änderte sich, als mich ein Freund vor etwa 20 Jahren fragte, ob ich nicht Lust hätte, an einem Chorprojekt teilzunehmen. Ich hatte da noch nie gesungen, und das Werk, um das es ging, war kein geringeres als Ein deutsches Requiem. Keine Frage, daß ich da sängerisch deutlich überfordert war. Immerhin: Ich konnte Noten lesen und genoß es, ein Werk, das mir durch eine Schallplatte bekannt war (Klemperer) sozusagen von innen kennenzulernen: Ich war erstaunt, wie die Stimmen ineinander verwoben sind, wie eines ins andere greift und es eigentlich kein reines Füllmaterial dort gibt, weil jede Stimme ihren eigenen Wert hat (wie ich es später auch bei Bach fand).
Dieses Ineinander, die komplexe Art, wie Melodik, Harmonik und Rhythmik miteinander verarbeitet sind, fand ich durchaus ansprechend. Im Gesangsunterricht beschäftigte ich mich später mit ein paar Brahms-Liedern (Soll sich der Mond nicht heller scheinen, Sapphische Ode, Mainacht). Die lagen mir von der Stimmung her und ich versuchte mich gern daran.
Eine besondere Intialzündung gab es nicht, aber vor einem Vierteljahr fielen mir die Symphonie-Einspielungen mit Norrington (London Classical Players und RSO Stuttgart) in die Hände und es gab etwas, das mir Brahms wieder näher brachte. In den letzten Wochen kamen neue Aufnahmen dazu, viel Kammermusik vor allem, aber aktuell rücken auch die Lieder in meinen Fokus.
Was mich aktuell begeistert, ist nicht leicht zu beschreiben: Zum einen ist da etwas, was ich als typisch Brahmssche Melancholie wahrnehme, und die ist mir zur Zeit wieder sehr nah. Es ist eine Haltung, die sich deutlich von depressiven Haltungen unterscheidet, denn Brahms' Musik scheint zwar immer wieder zur Resignation zu neigen (z. B. Intermezzi op. 117, Klarinettenquintett), aber es bricht oft am Ende so etwas wie ein machtvoller Trotz durch (Klavierstücke op. 119, 4. Symphonie), und es gibt, besonders in den Liedern, auch ganz andere, optimistischere Stimmungen.
Das ist die eine Seite. Den Ausschlag für meine Affinität zu Brahms gibt aber etwas, daß ich an der Stringenz, der Logik festmachen würde, das sich bei Brahms oft findet: sein Hang, bis ins Letzte durchzukonstruieren, jede Einzelheit in ein notwendig erscheinendes Ganzes einzubauen, wie ich es vorher bei Beethoven und nachher erst wieder bei Schönberg finde.
Indem Brahms sich an Beethovens Symphonik orientiert (wobei er sich damit schwer genug getan hat, man beachte den langwierigen und mühsamen Entstehungsprozeß der 1. Symphonie), nimmt er - jetzt etwas philosophisch-ästhetische Spekulation, vielleicht zu plakativ? - auch den Glauben auf, daß mit Mitteln von Rationalität und Vernunft eine "richtige" Welt geschaffen wird (vgl. Beethovens 5. und 9., aber auch seine 6. Symphonie). Das aber gerät bei Brahms überwiegend in das Fahrwasser des Pessimismus: Wer kann etwa nach dem Ende der 4. Symphonie daran glauben, daß am Ende "alles gut" werde?
Womit ich am Ende meiner Betrachtungen bin (von denen ich nicht weiß, inwiefern ich damit Interessantes zu Brahms zu sagen habe). Die berühmte Frage "Aimez-vous Brahms?" (den Film kenne ich übrigens nicht) beantworte ich heute eindeutig mit "Oui!" Es ist die eigenartige Verschmelzung von komplexer musikalischer Form einerseits und starkem persönlichen Ausdruck andererseits, die mich besonders fasziniert und die dem Werk Brahms' ein ganz besonderes und unverwechselbares Gesicht verleiht.
Fragen in die Runde:
Wie haltet Ihr es mit Brahms' Musik? Was zieht Euch an, was befremdet? Welchen Stellenwert räumt Ihr dem Werk ein? Welche musikgeschichtliche Bedeutung kommt ihm zu? Was ist das Besondere seiner Musik?
PS: Die im Titel zitierte Frage ("Aber abseits, wer ist's?") stammt von Goethe und leitet die Alt-Rhapsodie op. 53 ein.