Johannes Brahms: "Aber abseits, wer ist's?"

  • Johannes Brahms: "Aber abseits, wer ist's?"

    Seit einigen Wochen beschäftige ich mich intensiv mit der Musik Johannes Brahms', hörend und auch lesend, und das veranlaßt mich, heute einen Faden zum Komponisten allgemein anzuspinnen.


    Über meine starke Affinität zu Brahms wundere ich mich selbst ein wenig, denn er gehörte zwar immer (sprich: seit ca. 40 Jahren) zur Schar meiner Favoriten, aber nicht immer in meine erste Reihe, ja, es gab Zeiten, in denen mein Verhältnis zu seiner Musik ziemlich abgekühlt war.


    Der Reihe nach: Als ich begann, mich für klassische Musik zu erwärmen, zogen mich vor allem Symphonien und Konzerte aus der klassisch-romantischen Zeit an, also auch Brahms. Obwohl mir dessen Hang zur Melancholie durchaus gefiel, waren mir bald Beethoven, Bruckner und Mahler näher, deren Symphonien mir bunter und weniger grau erschienen. Die Haltung, daß Brahms langweilig sei, verstärkte sich, als ich begeisterter Wagnerianer wurde. Während ich beim Bayreuther Meister so etwas wie echte Ekstase und Tiefe herauszuhören glaubte, erschienen mir die Gefühlswelten in Brahms' Symphonien unecht und künstlich aufgebauscht, wie ein "Sturm im Wasserglas".


    Eine Zeitlang versuchte ich mich an der Klarinette, hatte auch Unterricht, doch auch das brachte mir etwa die späte Kammermusik mit Klarinette nicht so recht näher.


    Das änderte sich, als mich ein Freund vor etwa 20 Jahren fragte, ob ich nicht Lust hätte, an einem Chorprojekt teilzunehmen. Ich hatte da noch nie gesungen, und das Werk, um das es ging, war kein geringeres als Ein deutsches Requiem. Keine Frage, daß ich da sängerisch deutlich überfordert war. Immerhin: Ich konnte Noten lesen und genoß es, ein Werk, das mir durch eine Schallplatte bekannt war (Klemperer) sozusagen von innen kennenzulernen: Ich war erstaunt, wie die Stimmen ineinander verwoben sind, wie eines ins andere greift und es eigentlich kein reines Füllmaterial dort gibt, weil jede Stimme ihren eigenen Wert hat (wie ich es später auch bei Bach fand).


    Dieses Ineinander, die komplexe Art, wie Melodik, Harmonik und Rhythmik miteinander verarbeitet sind, fand ich durchaus ansprechend. Im Gesangsunterricht beschäftigte ich mich später mit ein paar Brahms-Liedern (Soll sich der Mond nicht heller scheinen, Sapphische Ode, Mainacht). Die lagen mir von der Stimmung her und ich versuchte mich gern daran.


    Eine besondere Intialzündung gab es nicht, aber vor einem Vierteljahr fielen mir die Symphonie-Einspielungen mit Norrington (London Classical Players und RSO Stuttgart) in die Hände und es gab etwas, das mir Brahms wieder näher brachte. In den letzten Wochen kamen neue Aufnahmen dazu, viel Kammermusik vor allem, aber aktuell rücken auch die Lieder in meinen Fokus.


    Was mich aktuell begeistert, ist nicht leicht zu beschreiben: Zum einen ist da etwas, was ich als typisch Brahmssche Melancholie wahrnehme, und die ist mir zur Zeit wieder sehr nah. Es ist eine Haltung, die sich deutlich von depressiven Haltungen unterscheidet, denn Brahms' Musik scheint zwar immer wieder zur Resignation zu neigen (z. B. Intermezzi op. 117, Klarinettenquintett), aber es bricht oft am Ende so etwas wie ein machtvoller Trotz durch (Klavierstücke op. 119, 4. Symphonie), und es gibt, besonders in den Liedern, auch ganz andere, optimistischere Stimmungen.


    Das ist die eine Seite. Den Ausschlag für meine Affinität zu Brahms gibt aber etwas, daß ich an der Stringenz, der Logik festmachen würde, das sich bei Brahms oft findet: sein Hang, bis ins Letzte durchzukonstruieren, jede Einzelheit in ein notwendig erscheinendes Ganzes einzubauen, wie ich es vorher bei Beethoven und nachher erst wieder bei Schönberg finde.


    Indem Brahms sich an Beethovens Symphonik orientiert (wobei er sich damit schwer genug getan hat, man beachte den langwierigen und mühsamen Entstehungsprozeß der 1. Symphonie), nimmt er - jetzt etwas philosophisch-ästhetische Spekulation, vielleicht zu plakativ? - auch den Glauben auf, daß mit Mitteln von Rationalität und Vernunft eine "richtige" Welt geschaffen wird (vgl. Beethovens 5. und 9., aber auch seine 6. Symphonie). Das aber gerät bei Brahms überwiegend in das Fahrwasser des Pessimismus: Wer kann etwa nach dem Ende der 4. Symphonie daran glauben, daß am Ende "alles gut" werde?


    Womit ich am Ende meiner Betrachtungen bin (von denen ich nicht weiß, inwiefern ich damit Interessantes zu Brahms zu sagen habe). Die berühmte Frage "Aimez-vous Brahms?" (den Film kenne ich übrigens nicht) beantworte ich heute eindeutig mit "Oui!" Es ist die eigenartige Verschmelzung von komplexer musikalischer Form einerseits und starkem persönlichen Ausdruck andererseits, die mich besonders fasziniert und die dem Werk Brahms' ein ganz besonderes und unverwechselbares Gesicht verleiht.


    Fragen in die Runde:


    Wie haltet Ihr es mit Brahms' Musik? Was zieht Euch an, was befremdet? Welchen Stellenwert räumt Ihr dem Werk ein? Welche musikgeschichtliche Bedeutung kommt ihm zu? Was ist das Besondere seiner Musik?


    :wink:


    PS: Die im Titel zitierte Frage ("Aber abseits, wer ist's?") stammt von Goethe und leitet die Alt-Rhapsodie op. 53 ein.

    Es grüßt Gurnemanz


    Wissen Sie denn nicht, daß die Menschen manchmal nicht auf der Höhe ihrer Werke sind?
    Jean-Paul Sartre


    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.

    Helmut Lachenmann

  • Seit über dreißig Jahren höre ich klassische Musik und fast von Anfang an gehörte Brahms zu den für mich wichtigen Komponisten, gewissermaßen zu den musikalischen Grundnahrungsmitteln. Das waren zunächst die Sinfonien, dann die Instrumentalkonzerte und immer mehr das große Gebiet der Kammermusik, anschließend mit etwas Verspätung die Soloklavierwerke, beginnend mit den späten Stücken. Dass ich mit der Chormusik nie in diesem Maß vertraut geworden bin (selbst zum Deutschen Requiem empfinde ich etwas Distanz), liegt eher an der Gattung als an Brahms. Viele der Lieder mag ich sehr (mein Liebling ist seit eh und je Auf dem Kirchhofe), trotzdem hat Brahms für mich in diesem Bereich nicht die Bedeutung von Schubert, Schumann oder auch Mahler.


    Meine Liebe zu Brahms' Musik war unverrückbar und hat keine Konjunkturen durchgemacht, allerdings immer wieder Phasen, in denen ich nach bestimmten Werken fast süchtig war: neulich wieder nach der zweiten Sinfonie, davor z.B. nach dem dritten Klavierquartett, dem Klarinettenquintett, dem Horntrio, den Intermezzi op. 117... Wechselwirkungen mit meiner Wertschätzung für Liszt, Wagner oder Bruckner gab und gibt es nicht: die historischen Konflikte betrachte ich mit Interesse, aber für mich haben sie keine Bedeutung.


    Als Soziotyp hat Brahms für mich auch merkwürdige Züge: diese zwanghaften Bescheidenheitsgesten, dieses Verzichtsethos, dieser resignative Rückzug in "machtgeschützte Innerlichkeit". Ganz entfernt meine ich solche Charaktereigenschaften manchmal auch in der Musik wiederzufinden, wir hatten das neulich bei den Händel-Variationen. Wenn Brahms gesellig (Akademische Festouvertüre) oder gar politisch (Triumphlied) wird, mag ich ihn weniger. Seine tänzerische, schubertische Seite schätze ich dagegen sehr.


    Hinter eine der größten Qualitäten von Brahms, das von Gurnemanz benannte "Durchkonstruieren bis ins letzte", würde ich gerne (nicht als erster) ein kleines Fragezeichen setzen. Es geht manchmal mit einem Verlust an poetischer Freiheit einher, die Schumann so fantastisch in die Musikgeschichte eingebracht hatte und die Brahms selbst in seinem Frühwerk noch rezipiert hat (vergleiche auch die kürzliche Diskussion über die beiden Fassungen des Klaviertrios op. 8).


    Aber das wiegt alles gering im Vergleich zu den Freuden, die mir Brahms' Musik bereitet hat und bereiten wird.



    Viele Grüße


    Bernd



    PS: "Abseits" würde ich den Standort von Brahms (im Gegensatz zu dem von Bruckner) nicht verorten. Er steht doch wie kaum ein anderer fest in der musikgeschichtlichen Tradition (bis zurück in die Renaissance), war zu Lebzeiten ein Heros des bürgerlichen Musikbetriebs mit vielen Anhängern und auch Propagandisten und ist seitdem unverbrüchlich ohne Schwankungen eine Säule des Konzertlebens.

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  • Auch ich schätze Brahms sehr, wenn ich auch nicht den gleichen unmittelbaren Zugang zu seiner Musik gefunden hatte, wie er mir mühelos bei Mozart, Beethoven und vielen anderen möglich war. Die größte Wertschätzung bringe ich dem Deutschen Requiem entgegen, bei dem mitzusingen ich die Ehre hatte, sowie seinen Symphonien, den Klavierkonzerten und dem Violinkonzert. Zu seinen kammermusikalischen Schöpfungen finde ich erst nach und nach den Weg, damit muss ich mich noch intensiver auseinandersetzen.
    Seine Musik ist manchmal etwas spröde oder sperrig auf den ersten Blick, es gibt da eine Melancholie, die oft durchschimmert, und die mich anfangs zeitweilig irritiert hat, aber Brahms gehört für mich zu den Komponisten, die mit zunehmendem Hören immer besser werden, weil viele Details sich erst beim wiederholten Hören erschließen, und eine verborgene, subtilere Schönheit, die wesentlich reizvoller ist, als jede Melodienseligkeit und heitere Harmonie, hinter der herben Fassade hervortritt.

    „Orchester haben keinen eigenen Klang,den macht der Dirigent"
    Herbert von Karajan


    „nicht zehn Prozent meiner Musikleute verstehen so viel von Musik wie diese beiden Buben“.
    Karajan nach einem Gespräch mit den Beatles George Harrison und Ringo Starr.

  • Brahms war meine erste große "klassische" Liebe, bei uns lief zuhause gerne mal das 2. Klavierkonzert (Leonskaja) und seither ist Brahms, neben Rachmaninoff, immer mein Lieblingskomponist gewesen. Sein Schaffen ist für mich ein dichter Block, ich habe weder jemals qualitativ Abstufungen vornehmen wollen (selbst das oft - und meist unbegründet - geschmähte Triumphlied gefällt mir), noch teile ich das Brahmsche Werk in Phasen ein. Wer mit 21 Jahren die Balladen op. 10 schreibt, der hat Schumanns Ausruf wohl verdient: "Ich dachte, [...] es würde und müsse nach solchem Vorgang einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion spränge." Entsprechend stehe ich auch dem Begriff "Alterswerk" skeptisch gegenüber.
    Erstaunt war ich, als ich mehrere Werke im Orchester und im Chor musiziert habe und feststellte, dass in den Einzelstimmen vieles moderner wirkte, als es im Gesamtklang rüberkam. Da finden sich Klanggesten, extreme Lagen, abartige Rhythmik. In der 3. Symphonie gibt's eine Stelle, die ich rhythmisch bis heute nicht verstehe, obwohl ich sie mehrfach gespielt habe.. :rolleyes:. Manche Klänge treffen mich immer wieder bis ins Mark und erscheinen mir stilistisch zeitlos, weil einmalig. (Bsw. aus dem Schicksalslied "Blicken in stiller ewiger Klarheit.." oder im Kopfsatz des Violinkonzerts die todtraurige Variation des ersten Oboenthemas ab T. 235)
    Seine Biographie und Beschreibungen seiner Persönlichkeit bekräftigen mich in meiner Verehrung. Menschlich ist er mir sympathisch und oft finde ich Beschreibungen des Menschen Brahms in seiner Musik wieder.

    Als Soziotyp hat Brahms für mich auch merkwürdige Züge: diese zwanghaften Bescheidenheitsgesten, dieses Verzichtsethos, dieser resignative Rückzug in "machtgeschützte Innerlichkeit". Ganz entfernt meine ich solche Charaktereigenschaften manchmal auch in der Musik wiederzufinden,


    Das sehe ich also ganz genau so, nur finde ich daran nichts merkwürdig. Im Gegensatz zu Wagner, dessen manchmal auftauchende Bescheidenheit mir erzwungen und taktisch erscheint, sehe ich Brahms immer als "Harter Schale, weicher Kern"-Typ, der ohne emotionales Versteckspiel gar nicht mit außen kommunizieren konnte.

    Hinter eine der größten Qualitäten von Brahms, das von Gurnemanz benannte "Durchkonstruieren bis ins letzte", würde ich gerne (nicht als erster) ein kleines Fragezeichen setzen. Es geht manchmal mit einem Verlust an poetischer Freiheit einher, die Schumann so fantastisch in die Musikgeschichte eingebracht hatte und die Brahms selbst in seinem Frühwerk noch rezipiert hat (vergleiche auch die kürzliche Diskussion über die beiden Fassungen des Klaviertrios op. 8).


    An dem Fragezeichen würde ich mich beteiligen, sehe allerdings bis jetzt keinen Verlust an Freiheit, sondern eine Notwendigkeit. Jörg Widmann hat vor einem Konzert mal Schumann und Brahms als zwei Pole der Romantik bezeichnet, die sich aus entgegengesetzten Richtungen der Musik näherten. Ich finde Schumann immer am überzeugendsten, wenn er frei ausspielen durfte (Fantasie, Miniaturen, Ouvertüren..), Brahms eher, wenn die Form zu bewältigen war (Symphonie, Konzert, Requiem, Duo-Sonate). Da ich immer davon ausgegangen bin, dass für Brahms die strenge Form notwendig ist, habe ich auch nie poetische Freiheit vermisst.
    Irgendwo (...wie ein Sieb...) habe ich mal gelesen, dass für jemanden wie Brahms, der der Inspiration kein bisschen traute ("Das, was man eigentlich Erfindung nennt, also ein wirklicher Gedanke, ist sozusagen höhere Eingebung, Inspiration, d.h., dafür kann ich nichts. Von dem Moment an kann ich dies »Geschenk« gar nicht genug verachten, ich muß es durch unaufhörliche Arbeit zu meinem rechtmäßigen, wohlerworbenen Eigentum machen.") die Beherrschung der Form so etwas wie ein Sicherheitsnetz bildete. Was seinem Charakter auch wieder entgegengekommen sein dürfte.

  • Beim Hören von Brahms' Musik entflammt in meinem Kopf immer die Form-Inhalt-Dialektik neu auf, der man sich entledigt glaubt. Es gibt wohl kaum einen Komponisten, der weniger zum musikalischen "Fortschritt" beigetragen hat und eine vergleichbare Anerkennung auch und gerade unter Leuten vom Fach erfährt.
    Mir fällt keine Gattung ein, in der er tatsächlich neue Wege beschritten hat in einem Maße, wie man es meistens von großen Komponisten erwartet. Die Klaviervariationen wirken nach Beethovens Kunststücken reaktionär (wie bereits im Thread zu den Händelvariationen festgestellt worden ist), ebenso die Sonaten nach Liszt, die Miniaturen nach Schumann (trotz der konstruktiven Dichte und teils harmonischen Kühnheit v. a. der späten Klavierstücke) usw. In der Rhythmik ist Tschaikowski origineller, in der Instrumentation so einige (etwa Wagner, Dvorak, Tschaikowski), in Form und Harmonik Liszt (und natürlich Wagner). Usw. usf.
    Was genau das (damals) Zeitgemäße an Brahms' Kunst, ist für mich noch nicht befriedigend in Worte gefasst worden.


    Trotzdem habe ich beim Hören der Musik nie das Gefühl, avanciertere Mittel zu vermissen. Die Substanz der Musik ist so reich, dass man die Äußerlichkeiten vergisst. Das Gefühl, die Musik sei zu brav oder rückständig mit dem Umgang neuer Mittel, welches sich bei konservativen Komponisten im 20. Jahrhundert bei mir sehr oft einstellt, erlebe ich bei Brahms nie. MIr vermittelt bei seiner Musik in ganz besonderem Maße der Eindruck, die Darstellung sei nur Mittel zum Zweck.


    Natürlich gibt es in Brahms unglaublich viel Kunstvolles, auch auf den Gebieten der Rhythmik (Metrik), Instrumentation, Harmonik, Form usw.
    Aber aus der einseitigen Perspektive, welche nach dem "Neuen" sucht - aus welcher so oft ästhetisch geurteilt wird, gibt es in seiner Musik doch auffällig wenig zu entdecken.

  • Dass zB Mendelssohn, Dvorak, Tschaikowskij verbreitet als fortschrittlicher gesehen würden als Brahms, bezweifle ich. Ich finde auch diese Aufspaltung, die man ja (ich glaube u.a. bei Bernstein) über Beethovens Musik immer mal liest, dass x "besser" in der Melodik, y in der Rhythmik, z im Kontrapunkt usw. gewesen sei, wenig erhellend. Weder als Hörer noch als Historiker oder Kritiker beurteilen wir Musik in solch reduktionistischer Weise.


    Es ist außerdem auch noch etwas anderes, ob ein Künstler revolutionär-fortschrittlich ist oder reaktionär oder "auf der Höhe der Zeit". Vielleicht haben Gegner wie Wagner oder Wolf Brahms als reaktionär gesehen, aber die Mehrheit der Zeitgenossen sah ihn doch vermutlich (wie er sich wohl auch selbst) als zeitgemäßen und würdigen Erben einer großen Tradition. Vielleicht ist die Zusammenfassung der wesentlichen kompositorischen Mittel dieser Tradition ein Merkmal, das Brahms auszeichnet und das auch die seinerzeitige Anerkennung mitbegründet hat? Außerdem werden ja oft Schlagworte wie organisches Herauswachsen des Ganzen aus wenigen Motiven oder jedenfalls eine ungewöhnlich, oft noch über Beethoven hinausgehende Integration musikalischer Details in die Gesamtheit eines Musikstücks als Besonderheiten (oder eben Neuerungen) angeführt.


    Ich glaube zwar nicht, dass Popularität beim normalen Publikum darauf beruht, halte es aber für möglich, dass eine solche starke Einheit und Schlüssigkeit auch subkutan wirkt und zu einem bestimmten ästhetischen Eindruck beiträgt. (Wir haben jedenfalls wohl alle, in ganz unterschiedlichen Künsten, erlebt, dass das Gegenteil, eine (evtl. scheinbare) Zerfaserung, Sprunghaftigkeit, Mangel an Einheit usw. negativ (oder evtl. positiv) auf uns gewirkt hat.)


    Für mich gehörte die Musik Brahms' zwar nicht zu den allerersten Klassik-Eindrücken, aber sobald ich über den ersten Einstieg hinaus war, gehörten seine Orchesterwerke selbstverständlich dazu und wenige Jahre später war Brahms vermutlich nach Beethoven mein Lieblingskomponist und einer, von dem ich auch relativ bald einiges an Kammermusik kennengelernt habe (Klavierquintett, Klarinettenquintett, H-Dur-Trio, Klarinettensonaten u.a.). Brahms war irgendwie "Standard", ähnlich wie Beethoven und Mozart, während Bruckner oder gar Mahler ein bißchen was exotisches hatten und ich zB Kammermusikwerke von Mendelssohn oder Schumann erst viele Jahre später kennengelernt habe.


    Von den Liedern und Chorwerken kenne ich immer noch recht viel nicht oder nur oberflächlich, der Rest gehört zum großen Teil (die Klaviermusik etwas weniger) zu den von mir nach wie vor mehr oder minder regelmäßig gehörten Musikstücken.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Welchen Stellenwert räumt Ihr dem Werk ein?

    Für mich sind die Symphonien etwas wie die Klavierkonzerte Mozarts: ein Gipfel in der Geschichte dieses Genres.

    Während ich beim Bayreuther Meister so etwas wie echte Ekstase und Tiefe herauszuhören glaubte, erschienen mir die Gefühlswelten in Brahms' Symphonien unecht und künstlich aufgebauscht, wie ein "Sturm im Wasserglas".

    Da gehts mir eher umgekehrt: was an Gefühlsintensität bei Wagner durch die Handlung gerechtfertigt ist, überfällt mich bei Brahms "ungeschützt" und persönlich.
    [edit]Vielleicht weil es kein "Theater" ist, sondern Musik, die für sich steht und keinen expliziten "Absender" hat wie die Arien in einer Oper?[/edit]

    Mir fällt keine Gattung ein, in der er tatsächlich neue Wege beschritten hat in einem Maße, wie man es meistens von großen Komponisten erwartet.

    Wenn das kein neuer Weg ist, z.B. eine strenge Form wie die Chaconne so aufzuladen, wie es in der 4.Symphonie geschieht...
    Aber okay, die Formen sind nicht neu...

    Die englischen Stimmen ermuntern die Sinnen
    daß Alles für Freuden erwacht

  • Was genau das (damals) Zeitgemäße an Brahms' Kunst, ist für mich noch nicht befriedigend in Worte gefasst worden.


    Vielleicht bei Schönberg "Brahms the progressive"? Und zumindest die entwickelnde Variation ist eine Neuerung der Sonatenhauptsatzform, und keine unbedeutende. Wenn der Thread zur Vierten kommt, können wir das an deren Kopfsatz ja nochmal beleuchten. Ich finde das sehr spannend bei Brahms.


    Viele Grüße
    MB


    :wink:

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe


  • Aber okay, die Formen sind nicht neu...


    Die jeweiligen Formen sind bei Bach, Beethoven, Bruckner und Mahler u.v.a. auch nicht neu...

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Und zumindest die entwickelnde Variation ist eine Neuerung der Sonatenhauptsatzform, und keine unbedeutende.


    Gibt's das nicht auch schon häufig bei Beethoven?


    Mir fällt keine Gattung ein, in der er tatsächlich neue Wege beschritten hat in einem Maße, wie man es meistens von großen Komponisten erwartet.


    Also du bist theoretisch fitter, aber wir hatten im entsprechenden Thread ja schon festgestellt, dass die Finallösungen der 3. und 4. Brahmsschen Sinfonien schon neu und bis dahin nie gehört waren. Oder die Gewichtung von Solist und Ensemble in den Konzerten (und zwar jedes Mal anders) - das gab es doch zuvor auch nicht, oder?

  • Ich würde mein Verhältnis zu Brahms vergleichen mit dem Wechselspiel von Nähe und Distanz in einer Beziehung. Als ich anfing, mich mit klassischem Gesang zu befassen, stieß ich eher auf ihn als auf die Barockmusik und genoss das langsame Hineinwachsen der Stimme in diese Literatur sowohl im Lied als auch im Chorgesang, insbesondere auch beim Requiem. Und richtig Spass gibt es m. E. in der Walpurgisnacht. Auf der anderen Seite mag ich auch einige Chorfassungen nicht besonders, wie z. B. die der Zigeunerlieder und genauso wenig einige nervige Chorerfahrungen, die ich damit verbinde (aber dafür kann der Komponist nun nichts).


    Momentan ist es wieder mal eher eine wohlwollende Distanz. Schwer zu begründen, oberflächlich sicher damit, dass seine Stücke derzeit nicht in meinem Probenfokus stehen. Gelegentlich brauche ich aber immer wieder eine Art Anlauf für eine Neuentdeckung. Letztes Jahr sah das z. B. etwas anders aus. Was die Synphonien betrifft,so wäre ich sicher, wenn es die Zeit erlauben würde, gerne mal wieder bereit, in ein Konzert zu gehen. Aber, weil du, lieber Gurnemanz, den Beginn der Altrhapsodie als Überschrift gewählt hast: Das reizt mich permanent, obwohl das mit der Stimme Kathleen Ferriers im Ohr nicht leicht ist....



    LG
    :wink: :wink:

    Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren (Bert Brecht)


    ACHTUNG, hier spricht Käpt´n Niveau: WIR SINKEN!! :murg: (Postkartenspruch)

  • Trotzdem habe ich beim Hören der Musik nie das Gefühl, avanciertere Mittel zu vermissen. Die Substanz der Musik ist so reich, dass man die Äußerlichkeiten vergisst. Das Gefühl, die Musik sei zu brav oder rückständig mit dem Umgang neuer Mittel, welches sich bei konservativen Komponisten im 20. Jahrhundert bei mir sehr oft einstellt, erlebe ich bei Brahms nie. MIr vermittelt bei seiner Musik in ganz besonderem Maße der Eindruck, die Darstellung sei nur Mittel zum Zweck.


    Geht mir genauso.
    Und bei jedem neuen Werk, das ich miterarbeiten darf, tauchen Details auf, die man vorher nie wahrgenommen hat. Da gibt es richtige "Verrücktheit" wie die Ausraster vom 3.& 4. Horn in der Akademischen Festouverture, oder plötzliche Einbrüche von Modernität im unerwarteten Umfeld (Violinkonzert 1. Satz), oder auch schmalzige Belcanto-Stellen, die dann sublimiert werden (Klaviertrio H-Dur), und sogar ganz unerwartete private Äußerungen (Horntrio) etc...


    Interessant (und bezeichnend) ist m.E. aber, wie unterschiedlich der Blick auf Brahms ist. Ich saß mal in einer Probe zur 2. Sinfonie, in der der Dirigent zu äußern wagte, Brahms sei ja im Leben keine richtig gute Melodie eingefallen. Bei der melodienseligsten seiner Sinfonien! Danach brach Krieg aus. Diese defätistische Bemerkung hat das Orchester in zwei gleich große Hälften gespalten... :stern:


    Genauso unterschiedlich ist wohl der Blick auf Einzelwerke. Ich z.B. bin großer Brahms-Fan, kann aber aufs 2. Klavierkonzert verzichten. Andere würden für dieses Stück einen Mord begehen.


    Vielleicht ist das auch ein Aspekt von Größe: Dass das Werk eine solche Fülle von Blickwinkeln und Reibungsflächen bietet. Und das ohne echte Schockeffekte! Vergleichbar ist das vielleicht nur noch mit Goethe.


    :wink:

    Ich habe eiserne Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich auch noch andere.

  • Es ist in der Tat nicht eine der leichtesten Literatur von Brahms und ich liebe es. Es drückt seinen Schmerz in der Musik aus, ein depressiver, einsamer Mensch, verachtet und in seiner Reise in den Harz Trost in der Natur findet. Düster ist der erste Teil, der die zerklüfteten Seelenwelten des Wanderers zeigt, der sich im dritten Teil auflöst in einer innigen, bewegenden Melodie, Versöhnung und Frieden zeigt.


    Es war in meinen langen Jahren des Singens das Schönste was ich gesungen habe, das, was mich am tiefsten bewegte, wo ich meine Seele nach außen trug und ich ganz eingenommen war von der Musik.


    Ebenso zu Herzen geht mir das Requiem, auch hier findet der Schluss „ich will euch wiedersehen“ den Trost für die Traurigen statt.


    Brahms hat wunderschöne Lieder geschrieben und im Gegensatz zu diesen traurigen Kompositionen habe ich gerne die Zigeunerlieder gesungen, die lustig, auffordernd sind.


    Dann wieder das traurige, tödliche Lied Schwesterlin, Todessehnen, Da unten im Tale und viele mehr. Schön sind die Liebesliederwalzer.
    Ich kann nicht genug von Brahms kriegen.. :wink:

    viele Grüße von musica

  • Momentan ist es wieder mal eher eine wohlwollende Distanz.


    Eine ganz wunderbare Brahms-Erfahrung ist es auf jeden Fall, Dich, liebe Ulrica, "Von ewiger Liebe" singen zu hören. Das klang alles andere als distanziert. :juhu:

    “I think God, in creating man, somewhat overestimated his ability."
    Oscar Wilde

  • Dass zB Mendelssohn, Dvorak, Tschaikowskij verbreitet als fortschrittlicher gesehen würden als Brahms, bezweifle ich.


    Ne, das sollte man aus meinem Beitrag auch nicht herauslesen. Aber: Mendelssohn war eine Generation früher, und Dvorak und Tschaikowskij sind zwar sehr geschätzte Komponisten, genießen aber in der Musikwissenschaft m. E. nicht eine mit den großen Neueren wie Beethoven, Wagner, Mahler usw. vergleichbare Priorität wie Brahms es tut.


    oft noch über Beethoven hinausgehende Integration musikalischer Details in die Gesamtheit eines Musikstücks als Besonderheiten (oder eben Neuerungen)


    Vielleicht bei Schönberg "Brahms the progressive"? Und zumindest die entwickelnde Variation ist eine Neuerung der Sonatenhauptsatzform, und keine unbedeutende.


    EL Duderino hat's ja schon erwähnt, das gibt's schon bei Beethoven.


    Überhaupt, die ganze Dichte der motivischen-thematischen Arbeit ist beim späten Beethoven schon auf die Spitze getrieben. Wie kunstvoll auch immer Brahms da verfährt, so wirklich aufsehend erregend neu scheint es mir nicht.


    dass die Finallösungen der 3. und 4. Brahmsschen Sinfonien schon neu und bis dahin nie gehört waren. Oder die Gewichtung von Solist und Ensemble in den Konzerten (und zwar jedes Mal anders) - das gab es doch zuvor auch nicht, oder?


    Ja das stimmt wohl, aber z. B. empfinde ich die Schumann'sche Formkonzeption bei seiner 4. Sinfonie als radikaler gegenüber der Konvention. Die Brahms'schen Sinfonien sind ja doch über weite Teile stark dem klassischen Schema verhaftet (vor allem denke ich da an die Sätze 3 und 4 der zweiten Sinfonie). Und bei den Konzerten, meinst du die Idee des "sinfonischen Konzerts"? Wenn ja, dann gibt's das ja auch schon bei Beethoven (z. B. 4. Klavierkonzert).


    Ich glaube, man wird immer in Edwin'scher Manier die angeblichen "Neuerungen" relativieren können.


    Ich finde das ja gar nicht so aufregend, vielmehr die Tatsache, dass Brahms es gewagt hat, äußerlich eine so einfache, fast "naive" Tonsprache und Formkonzeption wie in den Mittelsätzen der 3. Sinfonie anzuwenden, und trotzdem dabei Musik mit so großem substanziellen Gehalt zu schreiben, dass man dennoch das Gefühl hat, dass diese Musik einfach geschrieben werden musste und eben doch einzigartig und in dem Sinne auch neu ist. Wie ihm das gelingt, das finde ich eine spannende Frage.


    Bei Komponisten im zwanzigsten Jahrhundert kann ich mir das kaum vorstellen (und mir fällt gerade kein Beispiel ein), dass jemand traditionelle Techniken anwendet, ohne zumindest ein Gebiet (Harmonik, Rhythmik, Form usw.) radikal neu zu durchdenken - und man dennoch die Musik als den großen Neuerern hinsichtlich ihrer Bedeutung in nichts nachstehend empfindet. Ich meine, Poulenc, Francaix, das ist ja alles hübsche Musik, aber ich kenne niemanden, der sie mit Messiaen auf eine Stufe stellen würde.


    Einen Schritt von Strauss' jugendlichen Sinfonien und Sonaten zum Don Juan - an dem man seine Bedeutung festmacht: hat es ihn bei Brahms gegeben? (Die äußerlichen Neuerungen: Instrumentation, Form, Instrumentierung, Harmonik usw. scheinen seinen Ruhm zu begründen, nicht die konstruktive Dichte, Polyphonie, Asymmetrie der Phrasen usw., was ja auch und vielleicht auch in gesteigertem Maße alles vorhanden ist.

  • Die Haltung, daß Brahms langweilig sei, verstärkte sich, als ich begeisterter Wagnerianer wurde. Während ich beim Bayreuther Meister so etwas wie echte Ekstase und Tiefe herauszuhören glaubte, erschienen mir die Gefühlswelten in Brahms' Symphonien unecht und künstlich aufgebauscht, wie ein "Sturm im Wasserglas".


    "Unecht und künstlich aufgebauscht" würde ich nicht sagen, aber Brahms wirkt auf mich braver als Wagner, Liszt (der als Komponist von Brahms und Clara Schumann wohl derart verachtet wurde, dass sie "lisztisch" als negatives Qualitätsurteil verwendeten) oder auch Beethoven. In Bezug auf überraschende, einem den Boden unter den Füßen wegziehende Einbrüche in der Musik, die im 20 Jahrhundert normaler geworden sind, denke ich an Schubert, Bruckner, dann Mahler.
    Brahms wart die Contenance und stößt das Publikum nicht vor den Kopf wie z.B. Beethoven mit seiner Großen Fuge. Vielleicht scheut Brahms im Allgemeinen mehr das Risiko als andere Komponisten. Trotzdem mag ich leidenschaftliche Stellen in seinem Werk. Da denke ich z.B. an die ersten Sätze der 3. und der 4. Sinfonie oder das 1. Klavierquartett op. 25.
    Und die Düsterheit in seinem 1. Klavierkonzert macht es zu einem meiner Lieblinge. Das ist vielleicht auch ein Fall, wo Brahms sein Publikum durchaus vor den Kopf gestoßen hat. Der spätere Brahms scheint mir zahmer.


    Aber ich kann mich sowohl die Balladen op. 10, die Rhapsodien wie auch die späten Klavierstücke begeistern. Das Deutsche Requiem schätze ich auch sehr. Aber noch habe ich das Gefühl des mitunter Ausgebremsten und dass manchmal irgend etwas fehlt.

    Nur weil etwas viel Arbeit war und Schweiß gekostet hat, ist es nicht besser oder wichtiger als etwas, das Spaß gemacht hat. (Helge Schneider)

  • Kaum jemand wird vermutlich bestreiten, dass es bei Brahms kein derart provokantes Werk wie die Große Fuge oder Tristan gibt. Die gibt es aber bei Bach, Händel, Mozart u.v.a., die zu den ganz Großen gezählt werden, ebenfalls nicht.


    Und die Tendenz, dass Brahms eher "klassischer" wurde, sehe ich ebenfalls. Er hat zwar schon immer stark klassizistische Elemente, etwa in den ganz frühen Klaviersonaten, wo Beethoven-Hommage neben Volkston oder Schumannschem Intermezzo-Geist stehen. Aber für einen Komponisten um die 20 sind das erstaunlich ehrgeizige Stücke, keine klassizistischen Übungen. Noch mehr natürlich das 1. Klavierkonzert, das er mit ca. 25 komponiert hat. Das Finale hängt sich eng an Beethovens c-moll-Konzert, aber der Rest, besonders der Kopfsatz ist sowohl von den Dimensionen als auch vom Ausdruck außerordentlich kühn für die 1850er Jahre. Und dieser düster-leidenschaftliche Ton findet sich ja sehr ähnlich bei etwas späteren Stücken wie dem Klavierquintett und den Klavierquartetten g-moll und c-moll.
    MIt den Serenaden kommt dann freilich schon zur gleichen Zeit die Zögerlichkeit, die Bürde der sinfonischen Tradition usw. Dass dann Werke, deren Entstehung sich über 10, 15 Jahre hinzieht, die sozusagen in der Jugend begonnen und im mittleren Alter abgeschlossen werden, wie das 3. Klavierquartett und die 1. Sinfonie, nicht mehr durchweg so spontan wirken, finde ich nicht verwunderlich.
    Und wieder: Wenn man nicht gerade mit der leidenschaftlichsten Musik überhaupt (wie zB Wagner oder Beethoven) vergleicht, sondern mit ungefähr gleichzeitiger Instrumentalmusik von Mendelssohn bis Dvorak scheint mir Brahms keineswegs unterkühlt. Im Gegenteil. Für mich gibt es hier nicht nur ein breites emotionales Spektrum wie in solchen "Paaren" wie den Klarinettensonaten oder der 2. u.3. Violinsonate, sondern auch Stücke, die an Dramatik und Leidenschaft die meisten Zeitgenossen übertreffen, wie z.B. das Klavierquintett oder das erste Streichquartett.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)


  • Ne, das sollte man aus meinem Beitrag auch nicht herauslesen. Aber: Mendelssohn war eine Generation früher, und Dvorak und Tschaikowskij sind zwar sehr geschätzte Komponisten, genießen aber in der Musikwissenschaft m. E. nicht eine mit den großen Neueren wie Beethoven, Wagner, Mahler usw. vergleichbare Priorität wie Brahms es tut.


    Eine Generation früher ist ja egal für die relative "Fortschrittlichkeit". Vielleicht zeigt die Hochschätzung einfach nur, dass nicht jeder große Komponist ein "großer Neuerer" gewesen sein muss und umgekehrt. (JS Bach war doch auch kein großer Neuerer, oder?)

    Zitat

    Ja das stimmt wohl, aber z. B. empfinde ich die Schumann'sche Formkonzeption bei seiner 4. Sinfonie als radikaler gegenüber der Konvention. Die Brahms'schen Sinfonien sind ja doch über weite Teile stark dem klassischen Schema verhaftet (vor allem denke ich da an die Sätze 3 und 4 der zweiten Sinfonie).


    Die Sinfonien Beethovens, Bruckners, Dvoraks, Tschaikowsky und eine Anzahl von Mahlers sind auch stark dem klassischen Schema verhaftet. Und natürlich ist Brahms' 2. die am stärksten klassizistische. Warum Brahms in den Sinfonien nie dem Modell von Schumanns 4. (oder der Wandererfantasie), also durchgehend zyklischer Gestaltung mit einem wiederkehrenden Thema folgte, weiß ich natürlich nicht. Vielleicht bevorzugte er subtilere Methoden oder meinte, besagte oder andere Werke hätten diese Formidee schon erschöpfend umgesetzt. (Zyklische Elemente gibt es, wenn ich nicht irre, ja schon in einer der Klaviersonaten, in der 3. Sinfonie, im Klarinettenquintett und evtl. auch anderswo.)


    Zitat


    Ich glaube, man wird immer in Edwin'scher Manier die angeblichen "Neuerungen" relativieren können.


    Das wird man aber bei fast allen Komponisten und angeblichen Neuerungen tun können, oder? :D
    Wie gesagt, wenn man nicht gerade hauptsächlich Beethoven, Wagner oder die erste Generation der Moderne um 1900 als Maßstab nimmt, sehe ich nicht, warum Brahms auffallend konservativ gegenüber vielen anderen hochangesehenen Komponisten gewesen sein sollte.

    Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos dans une chambre.
    (B. Pascal)

  • Für mich kommt die Musik von Brahms gleich nach Bach, lange Zeit fing für mich die Musik im Grunde mit Bach an und hörte mit Brahms auf. Das ist natürlich eine sehr subjektive Aussage. Aus der Zeit vor Bach ist inzwischen auch eine Menge hinzu gekommen, aber nach Brahms? Am ehesten könnte man noch sagen, dass ich von Brahms aus direkt zu Schönberg und noch mehr zur Musik Alban Bergs springe. Bruckner, Mahler, Wagner - da wende ich mich mit Grausen ab.


    Haben Bach und Brahms nicht auch eine Menge gemeinsam? Beide gelten eher als Vollender denn als Neuerer. Beide haben eine gleichzeitig äußerst stringente und zutiefst emotionale Musik komponiert. Beide sind nie geschwätzig (auch wenn ich kürzlich las, dass Brahms die Frühfassung seinen Opus 8 später als geschwätzig empfand). Ich wage aber dennoch die steile These, dass Brahms und Bach in ihrer Musik einander näher sind als Brahms und Bruckner.


    Gruß, Carola

    Vom Schlechten kann man nie zu wenig und das Gute nie zu oft lesen. Arthur Schopenhauer

  • Ich habe mal irgendwo gelesen, schon der Name Brahms klinge so zunfternst und schwer...naja, wie auch immer. Ich hatte länger Vorurteile über seine Musik (und das ohne sie gehört zu haben, eine Schande, d.h. keinerlei Grundlage, sondern nur Hören auf anderer Leute Gschwätz) bis ich mich doch mal druchrang eine CD mit seinen Sinfonien zu kaufen.
    Und wenn nun immer davon gesprochen wird, Brahms sei so "ernst" und "schwer" kann ich das ebenfalls nicht ganz nachvollziehen, vielleicht nicht spritzig wie ein Italiener, aber mir gefällt seine Musik ausnehmend und das vom ersten Ton an, wo doch immer geunkt wird, Brahms gäbe einen kluftigen Einstieg.
    Ich habe die besagte Sinfonien-CD (HvK) sofort beim Ersthören ins Herz geschlossen (passiert auch nicht alle Tage).

    "Allwissende! Urweltweise!
    Erda! Erda! Ewiges Weib!"

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