Johannes Brahms: Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73 - Werk und Aufnahmen
Es war für Johannes Brahms (1833-1897) ein langer Weg bis zur Uraufführung der Ersten Symphonie 1876 – umso rascher folgte die Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73 nach. Komponiert hat er sie zum Großteil 1877 in Pörtschach am Wörthersee, und uraufgeführt wurde sie am 30.12.1877 in Wien.
Mit der Symphonie Nr. 1 hat Brahms eine ganz individuelle, persönlichkeitsstarke Lösung gefunden, aus Beethovens übermächtigem Schatten zu treten. Welche Lösungen wählt er nun beim zweiten Versuch mit dieser Werkgattung?
Auf jeden Fall gilt wie schon zur Ersten Symphonie: Bei Brahms lohnt es sicher, sich einigermaßen mit Sonatenform und Themenverarbeitung auszukennen, man entdeckt damit viele reizvolle Details der Musik, die man sonst überhören könnte. Dadurch löst sich auch eine eventuell fühlbare „Überladung“ der Musik leichter.
Das großteils freundliche Werk hat wieder vier Sätze und dauert ca. 45 bis 49 Minuten (wenn die Wiederholung der Exposition im ersten Satz gespielt wird, sonst ca. 40 Minuten).
Was mir beim Anhören so auffiel:
1. Allegro non troppo
Ein auffallender Beginn – das Hauptthema ist lyrisch gehalten. (Wie eine „Antwort“ auf die 1. Symphonie.) Die einfallsreiche Überleitung zum Seitenthema beinhaltet auch eine markante Steigerung. Und dann das Seitenthema selbst – Sehnsucht! Ein dritter Gedanke ist rhythmisch punktiert, lebendiger. Wie Brahms am Ende der Exposition noch einmal das Seitenthema kunstvoll einflicht – das hat schon was, das muss einem erst mal einfallen. Kunstvoll ist so ein Allerweltswort, aber auch die Durchführung kann man so bezeichnen – was Brahms mit dem Hauptthema macht, mit Partikeln daraus, das ist eben nun mal kunstvoll im besten Sinn. Und wieder eine Art „Antwort“ auf die 1. Symphonie, in die Reprise nicht mit machtvoller Steigerung, sondern mit Beruhigung des Geschehens zu führen. Das sind Momente, wo es lohnt, den Aufbau eines Sonatensatzes „intus“ zu haben, dann fällt so etwas als „besonders reizvoll“ auf. Genauso lohnt es aufzupassen, wie Brahms in der Reprise die Exposition variiert, mit welchem Einfallsreichtum er hier Akzente setzt. Aus der Coda erwächst dann „fast wie aus dem Nichts“ ein Hornsolo, schon wieder ein reizvoller, „erstehender“ Moment, und dann überrascht Brahms noch mit einer fast schelmischen Passage. Ruhiges Ende.
2. Adagio non troppo – L´istesso tempo, ma grazioso
Ein „verflochtener“, schwerblütiger langsamer H-Dur Satz, hörbar „intelligente, durchdachte“ Musik, aber das meine ich ganz positiv, vehement bereichernd. Ein Teil A, dann ein Teil B (vielfach unruhiger, im 12/8 Takt), und bei der Wiederholung des Teils A Verflechtung mit Elementen aus B, auch Kulmination zu einem „königlichen“ Höhepunkt – das ist allerhöchste kompositorische Meisterschaft, möcht´ ich meinen!
3. Allegretto grazioso (Quasi andantino) – Presto ma non assai – Tempo 1
Solche Sätze waren mal Menuette oder Scherzi (Haydn, Mozart, Beethoven). Ich habe bei Brahms immer das Gefühl, er will dieses Erbe noch anklingen lassen, setzt aber engagiert völlig neue, innovative Akzente. Das Hauptthema (gespielt von der Oboe) könnte ein gemütliches Menuettthema sein, auch ein Ländlerthema. Der Satz macht sich aber eher zu einer Art Rondo, A – B – A (verkürzt) – C – A (nochmals verändert). Und wieder: man höre genau hin, wie Brahms mit dem Themenmaterial umgeht, wie er variiert, wie er neu ineinanderfügt.
4. Allegro con spirito
Selbstbewusster, ruhiger Anlauf, dann jubelt es drauflos, ein zweites, sonores Thema, eine abermals selbstbewusst rhythmische Schlussgruppe, erneut kristallisiert sich ein Sonatensatz heraus. Ich traue mich noch einmal auf eine kunstvolle Durchführung, deutlich beginnend wieder mit dem Hauptthema, zu verweisen (einmal mehr: aufpassen, wie Brahms mit dem Material umgeht), da gibt es vor der Reprise eine „magische Wellenstelle“ und vielleicht eine Inspiration für Gustav Mahler (zwei fallende Quarten, siehe Mahlers Einleitung zur 1. Symphonie) und noch eine „Antwort auf die 1. Symphonie“, die Rückführung zur Reprise wirkt wieder beruhigend. Das Ende der Symphonie? Applausheischende Stretta als Ausklang eines großteils lebensfroh-enthusiastischen Finalsatzes.
Wie schon zur Ersten Symphonie bin ich wieder Feuer und Flamme. Das ist singuläre, originelle, im besten Sinn intelligente Musik, die genaues Zuhören fordert, und wenn man bereit ist sich dem hinzugeben, kann man gar nicht genug kriegen von den vielen zu entdeckenden reizvollen Details der Musik. Nach „Beethovens Zehnter“ nun die „Brahms Pastorale“? Für mich ist dies einfach seine einzigartige Zweite.
Persönliche Höreindrücke:
Ich beginne meinen Hörvergleich wieder mit Leonard Bernstein und den New Yorker Philharmonikern (Aufnahme vom 17.9.1962 aus der Philharmonic Hall, nun Avery Fisher Hall, New York City, aus der „Leonard Bernstein Symphony Edition“ der Sony). Bernsteins Leidenschaft vermag ich mich erneut nicht zu entziehen. Irgendwie spüre ich da besonders stark die Psychologie hinter oder über der Musik. Das ist aus dem Leben gegriffen, nichts Menschliches (auch allzu Menschliches) ist Bernstein fremd, wie er das Seitenthema des ersten Satzes auskostet, auch die Coda dieses Satzes, das fast grobschlächtig Bauerntänzerische in den Prestoteilen des dritten Satzes, dann endlich den Schlussjubel, dieser Musiker lebt einfach, und er überträgt das auf das Orchester und somit auf mich als Hörer. Da schwingt auch so eine Art Selbstironie mit. Wie auch bei der Aufnahme der Ersten Symphonie aus New York wiederholt Bernstein die Exposition im ersten Satz nicht.
Das Uraufführungsorchester, die Wiener Philharmoniker, haben dieses Werk mehrmals eingespielt, zuletzt mit Leonard Bernstein (1982), Carlo Maria Giulini (1991) und James Levine (1995). Mit Carlos Kleiber gibt es eine Radioaufnahme von 1988 und eine Fernsehaufzeichnung von 1991. Bernsteins Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern, live aufgenommen im September 1982 für Ton- und Bildträger im Großen Wiener Musikvereinssaal (4 CD Box DGG 415 570-2 oder 50 CD Box der DGG „Wiener Philharmoniker Symphony Edition“, auch neuere Bernstein Brahms Box, siehe Abbildung, oder DGG Einzel CD) verklärt die Musik zu vollendeter Schönheit in erlesenster Wiener Klangkultur. Das ist quasi „schöner als das Werk“, nahezu traumhaft schön. Den zweiten Satz etwa zelebriert Bernstein in über zwölf Minuten. Da ist man als Hörer gebettet in Wohlklang sondergleichen. Hier wiederholt Bernstein die Exposition des ersten Satzes.
Nikolaus Harnoncourts Liveaufnahme mit den Berliner Philharmonikern (März 1996 in der Philharmonie, 3 CD Box Teldec 0630-13136-2) lässt mich das Werk erneut herrlich frisch und spannend durchhörbar mitleben. Auch diese Aufnahme ist wie ich finde fein in mehrfacher Hinsicht – Harnoncourt modelliert feingeistig und feinsinnig, und die Schattierungen der Musik kommen feinfühlig zum Vorschein. Die Klangkultur des Orchesters glaube ich als „gelebte Tradition“ im besten Sinn bestechend durchzuhören, bei aller Akzentuierung Harnoncourts. Mir ist diese Aufnahme ungemein sympathisch. Auch Harnoncourt wiederholt die Exposition im ersten Satz.
Am 1.10.2003 wiederholte der Radiosender Ö 1 eine Konzertaufzeichnung vom 20.3.1988 aus dem Großen Musikvereinssaal in Wien. Damals dirigierte Carlos Kleiber die Wiener Philharmoniker bei Mozarts Symphonie KV 425 und bei Brahms´ Zweiter. Habe davon beim Ö 1 Audioservice eine CD Kopie bestellt und erhalten – und nun für diesen Hörvergleich endlich ganz konzentriert durchgehört. Das toppt an meinem vierten Brahms Zwei Tag hintereinander alles bisher Gehörte. Kleiber bringt eine eigene Stringenz in die Farben des Werks, das ist wieder ganz anders und doch irgendwie nah an Bernstein und Harnoncourt, aber sowas von „ganz“ in der Musik, geschmeidiger, ungemein farbig. Kleiber wiederholt die Exposition nicht. Die Steigerung in die Durchführung des ersten Satzes, die Konflikte darin – nicht nur das gestaltet Kleiber ungemein spannend. Kleiber hat einen faszinierenden Sinn für die Dramaturgie der Musik. Alles wirkt gleichzeitig total angespannt und völlig losgelöst. Diese Balance wird er auch bei den Neujahrskonzerten 1989 und 1992 erreichen. Die Risiken des Wiener Horns hört man einmal im ersten und einmal im zweiten Satz ganz kurz, das unterstreicht die prickelnde Liveatmosphäre der Aufnahme. Die Farben, die Kleiber im zweiten Satz aufblitzen lässt, die packende Verdichtung im Mittelteil dieses Satzes, der flottere dritte Satz, der keineswegs der Verlockung widersteht, auch als Orchester-Bravourstück (in den Teilen B und C) rüberzukommen, und dann doch, im Ausklang des Satzes, Wienseligkeit pur, und dann das Finale, der Jubel wie eine Explosion, wie ein Feuerwerk, mit unglaublicher Strahlkraft und Energie, bei allem differenziertem Farbenreichtum. Keine Scheu vor ausgespielter und als solche erkennbare Virtuosität.
An DVD Konzertaufnahmen stehen mir Bernsteins oben genannter Wiener Mitschnitt und Carlos Kleibers Konzertwiederholung 1991 genau des Programms von 1988 zur Verfügung.
Die Aufnahme mit Leonard Bernstein (2 DVD Box DGG 00440 073 4331) wartet wieder mit einer kurzen Einführung durch den Dirigenten auf. Bernstein erinnert sich an leidenschaftliche Konzerte mit Sergei Kussewizki, die er in Boston erlebt hat. Und er erinnert an den Bostoner Kritiker Philip Hahn, der Brahms nicht mochte. Bernstein meint, heute streiten nur Snobs, ob man Brahms mag oder nicht. Er spielt am Klavier die ersten fünf Takte an, dann zeigt er, ebenfalls am Klavier, wie Brahms aus dem zweiten Thema heraus die Musik weiter entwickelt, und er fasst zusammen, wie das erste Motiv des Werks bestimmend für alle Sätze ist. Mit dem gefilmten Konzert wird das Schwelgerische der Interpretation noch unterstrichen. Optisch ist Bernstein erst recht ein Überzeugungstäter, der auswendig dirigiert und mit jeder Faser Leidenschaft für die Musik verströmt und mit seiner Unbedingtheit mitzureißen versteht. Gleich zwei Konzertmeister sitzen da an den ersten Pulten, Gerhart Hetzel und Rainer Küchl, und angefangen von ihnen bis zu den letzten Pulten sind alle bereit, auf die winzigsten Zeichen Bernsteins hin ihre schönsten Klänge zu geben.
Nach seinem überstürzten Abbruch einer Probe zu einem Philharmonischen Abonnementkonzert in Wien im Jahr 1982 bedeutete „La Boheme“ 1985 in der Wiener Staatsoper eine erste Wiederannäherung Carlos Kleibers mit dem Orchester, und nicht zuletzt die Geschäftstüchtigkeit aller Beteiligten sorgte für die sehr wohl noch weiter möglichen Konzertsternstunden mit Carlos Kleiber und den Wiener Philharmonikern, etwa bei den Neujahrskonzerten 1989 und 1992. Die ersten Konzerte nach 1982 gab es am 18.3.1988 im Linzer Brucknerhaus sowie am 19. und 20.3.1988 im Wiener Musikverein im Aboprogramm, zur Radioaufzeichnung davon habe ich schon geschrieben.
Genau dieses Programm, Mozarts „Linzer“ Symphonie KV 425 und die Zweite Symphonie von Johannes Brahms, wurde am 6. und 7.10.1991 im Wiener Musikverein erneut geboten, diesmal vor Fernsehkameras. 1991 war ja Mozartjahr, und die Wiener Philharmoniker hatten allein zwischen Mitte September und Mitte Oktober 1991 drei außergewöhnliche Konzertprogramme anzubieten. Am 15.9. debütierte der greise Sandor Vegh im Konzerthaus bei diesem Orchester, live vom ORF übertragen, mit Mozarts Symphonien KV 504 und KV 543 sowie mit dem Klavierkonzert KV 488, gespielt von Radu Lupu. Am 29.9. gab es nach vielen Jahren wieder eine Zusammenarbeit mit Friedrich Gulda, der im Musikverein (und danach auch in Bratislava) Mozarts Konzert KV 466 sowie sein eigenes „Concerto for myself“ vom Klavier aus leitete, für die Wiener Gulda Fans wie ich einer war ein Pflichttermin. (Und Bekannte hatten die Ö 1 Übertragung aufzunehmen.) Und schon am 6. und 7.10.1991 folgte also der nächste Höhepunkt, eben mit Carlos Kleiber.
Irgendwie habe ich es geschafft, das Geld für eine Karte aufzutreiben und saß also am 6.10. mittendrin auf der Musikvereinsgalerie, das erste Mal im Leben Carlos Kleiber live erleben könnend. (Das zweite und letzte Mal war dann am 18.3.1994 die erste von drei „Rosenkavalier“ Vorstellungen in der Wiener Staatsoper.) Habe nachher in meinen privaten Konzerterinnerungen zum Brahms vermerkt: Das pastorale „Feeling“ der ersten beiden Sätze, das totale Eintauchen in die romantische Welt, die herrliche innere Ruhe im Beginn des dritten Satzes, in dem die Prestopassagen wie nette kleine Keckheiten wirken, das totale Begeistertsein nach dem schon die Spannung anheizenden stillen Beginn des Finalsatzes, in diesem Klangbild, es wird unvergesslich bleiben.
Nun also nicht mehr nur als verklärende Erinnerung, sondern mittels DVD (Philips 070 161-9, jetzt aber offenbar zur Decca gewechselt) noch einmal ganz unmittelbar zurück ins Jahr 1991. Die Musikvereinswände sind wie bei Bernstein rot verkleidet. Kleiber wird besonders herzlich vom Publikum empfangen. Und sofort mit Beginn der Musik ist diese stringente Leichtigkeit da, diese ganz spezifische Geschmeidigkeit. Kleiber zaubert wie ein Magier subtile Klangfarben aus dem Orchester. Das ist auch ästhetisch spannend anzusehen, wie er „hineinsticht“ und dann wieder erwartungsvoll „zuhört“. Wieder wiederholt er die Exposition im ersten Satz nicht. Die Wiener Geigen, ganz anders, differenzierter, klangsatt als bei Bernstein, sind trotzdem unüberhörbar WIENER Geigen, wie im Schanigarten. Erneut sitzen zwei Konzertmeister nebeneinander, diesmal Rainer Küchl und Werner Hink. Die Fernsehaufnahme wirkt perfekter als die Radioaufzeichnung von 1988, mir ist diese, die Ö 1 Aufnahme, aber genau deswegen, wegen der umso spannenderen Spontaneität, die mitschwingt, noch ein bisschen lieber.
Ich bin überzeugt: Wieder wird es spannend zu lesen und zu diskutieren sein, welche Aufnahmen andere Capricciosi bevorzugen, was ihnen zum Werk einfällt, wie der Threadersteller nur so irren kann, weil diese und jene Aufnahme nun so gar nicht zu gefallen hat aus Gründen 1, 2, 3 usw. ;+) – ich freu mich drauf!