Jacobus Handl-Gallus (1550-1591): Harmoniae morales (1589) & Moralia (1596)

  • Jacobus Handl-Gallus (1550-1591): Harmoniae morales (1589) & Moralia (1596)

    Im Jahre 1589 erschien der erste Band einer Sammlung weltlicher Motetten, die der Komponist Jacobus Handl - genannt Gallus - komponiert hatte: die Harmoniae morales (die Moralischen Harmonien). Bis 1591 sollten zwei weitere Bände folgen - insgesamt 53 Stücke im vierstimmigen Satz gehalten. Von Januar bis zur Jahresmitte 1591 komponierte er weitere 47 Stücke zu acht, sechs oder fünf Stimmen. Es waren also insgesamt 100 Motetten fertig, als er ziemlich plötzlich am 18. Juli verstarb. Die 47 letzten Stücke wurden im Jahre 1596 von Gallus' Bruder posthum veröffentlicht: dieser vierte Band erhielt den Namen Moralia.

    Diese 100 Werke sind Vertonungen von lateinischen Texten, die entweder aus der Carmina proverbialia stammten (Sprichwörter und Weisheiten in Verse gefaßt) oder Gedichte klassischer Autoren wie Ovid oder Vergil enthielt. Die tonale Behandlung beschränkte sich auf die Modalität, die Gallus sehr gewissenhaft für jedes Gedicht aussuchte und kontrapunktisch sorgfältig durchführte.

    Diese Sammlung richtete sich an den humanistisch hochgebildeten Genießer - eine geistige Elite, die in Prag, wo Gallus ab 1585 lebte, vorhanden war. Prag war damals Sitz des kaiserlichen Hofs, und Kaiser Rudolf II. (1552-1612) war ein unermüdlicher Förderer der Künste, zumal er selbst dieser Elite angehörte. Gallus stand nicht in seinen Diensten, war aber Teil der kulturellen Szene der Kaiserstadt. Die Harmoniae morales/Moralia waren Gallus' Ausdruck einer tief empfundenen Innigkeit mit der Idee der septem artes liberales, jenen Sieben Freien Künsten, die durch ihre Einzeldisziplinen das Weltbild einer harmonischen Einheit des Weltalls und der Logik erläuterten.

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    Bevor ich noch etwas ausführlicher werde, stelle ich zunächst vorhandene Aufnahmen vor:


    Auf dieser CD sind 8 Stücke aus der Harmoniae morales zu finden, von der Musica Antiqua Vienna unter René Clemencic 1967 eingespielt.



    Dann erschien im Jahre 2002 diese CD mit Ausschnitten aus den Harmoniae morales/Moralia - insgesamt 44 Stücke, gesungen von Singer Pur.



    Doch ist dies die Ausgabe, um die es sich drehen soll: alle 100 Motetten auf drei CDs verteilt, die Singer Pur halt eben komplett eingesungen hatten. Sie erschien im Jahre 2000 und ist bis heute die einzige Gesamtaufnahme von Gallus' wunderbaren Motetten. Die CDs stecken in einzelne Jewel-Cases, die zusammen mit einem Textbuch in einem Pappschuber stecken.

    Das Besondere ist das Textbuch: es hat die längliche Form des Jewel-Cases und ist gebunden. Das 504 Seiten starke Buch teilt sich in vier Sektionen auf, die für die Sprachen Slowenisch, Deutsch, Englisch und Französisch reserviert sind. Die Aufteilung jeder Sektion ist immer gleich: am Anfang steht der lateinische Text mit der jeweilgen Übersetzung, dann folgen drei Aufsätze über Gallus' Leben, eine Erläuterung zu den Harmoniae morale/Moralia und eine Auseinandersetzung mit der humanistischen Gedankenwelt Gallus'. Der deutschsprachige Teil umfaßt insgesamt 122 Seiten, davon 58 Seiten nur für die drei Aufsätze.

    Das ist mit weitem Abstand die umfassendste CD-Ausstattung, der ich bisher begegnet bin; ich habe gut sechs Stunden gebraucht, um die Aufsätze durchzulesen, verteilt über einen Zeitraum von zwei Wochen. Und der inhaltliche Anspruch steht dem Anspruch in Länge in nichts nach: es sind tatsächlich Aufsätze, die genausogut in wissenschaftlichen Zeitschriften stehen könnten, wenn man davon absieht, daß sie keinerlei Fußnoten enthalten. Bis auf die Tatsache, daß es bei den deutschen Übersetzungen manchmal zu seltsamen Stilblühten kommen kann, ist das eine ernstzunehmende, umfassende Edition, die den eigentlichen CDs die Basis für eine genaue Analyse liefert.

    Die drei Aufsätze:
    1. Borut Loparnik: De Jacobo Gallo Carniolo historia (übersetzt von Peter Bedjanic)
    2. Hartmut Krones: Jacobus Gallus: Harmoniae morales und Moralia (original deutsch)
    3. Ivan Florjanc: Die Gallus'sche Melopeia (übersetzt von Vanda Vremsak-Richter)

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    IACOBUS HANDL GALLUS DICTUS CARNIOLUS - das steht auf dem Holzschnitt, welches das Cover ziert: Jacobus Handl Gallus, genannt der Krainer [oder auch: Jacobus Handl, genannt Gallus, der Krainer]. Man weiß nicht genau, welchen konkreten Familiennamen er bei der Geburt erhielt, aber die Namenvarianten Petelin (slowenisch), Handl bzw. Händl (deutsch), Gallus (lateinisch) bedeuten alle das Gleiche: der Hahn. Man vermutet seinen Geburtsort in Reifnitz (heute: Ribnica) in der Unterkrain, womit die latinisierte Form Carniola auch paßt; allerdings gibt es auch die Annahme, daß er aus Šentviška Gora, einer Region an der Mittelmeerküste, stammen könnte.

    In der Krain war der Familienname Hahn grundsätzlich nicht ungewöhnlich; auch die Unbenennung in Gallus war keine alleinige Idee des Komponisten gewesen. Viele Familien benannten sich um, da die latinisierte Form einen vornehmeren Klang hatte. Doch finden sich kaum konkrete Hinweise auf Gallus' Geburt und Jugend. Der Musikwissenschaftler Josip Mantuani (1860-1933) war es, der sich näher mit Gallus beschäftigte, und generell folgt man seinen Angaben: daß Gallus in Reifnitz zwischen den 15. April und dem 31. Juni 1550 getauft worden sei - daß er eine umfassende humanistische (katholische) Erziehung erhalten haben müsse, nämlich bei den Zisterziensern im Kloster Sittich (Stična), welches 30 km entfernt lag - daß er früh gefördert worden sei. Doch nichts davon ist sicher belegt. Loparnik ergeht sich nur in Vermutungen, die ich auslasse.

    Als Stanislaus Pavlovský 1580 zum Bischof von Olmütz geweiht wurde, hatte er sich als Kapellmeister seiner Kathedralmusik den rund 30jährigen Gallus auserkoren. Dieser hatte nun eine Reife erreicht, die in seiner ersten zweibändigen Veröffentlichung Selectiores qvaedam missae (1580) deutlich zu bemerken war. Diese Stelle war anspruchsvoll, aber auch anstrengend: Gallus' Gesundheit schien nachzulassen, denn er kränkelte und fiel dienstlich öfters aus. Bis zum Juli 1585 hielt er durch, dann bat er um Entlassung. Pavlovský gewährte sie ihm.

    Gallus zog nun nach Prag, wo er allerdings keine angesehene Stelle mehr bekleiden sollte. Er lebte in dieser Stadt und nahm an den kulturellen Zirkeln teil - eher ein Freiberufler als ein Angestellter, wie man es heute nennen könnte. Dort begann aber seine produktivste Phase. Von 1586 bis zu seinen Tod fünf Jahre später sollte er insgesamt 429 Werke als Druck veröffentlichen: sein Opus musicum (1586-1590, 4 Bände, 374 Motetten zum kompletten Kirchenjahr), die Harmoniae morales (1589-1591, 3 Bände, 53 Motetten) und zwei Lieder (ganz zu schweigen von der noch ungedruckten Moralia). Das Unglaubliche: die Kosten für den Druck bezahlte er selbst aus eigener Tasche. Als man seinen Nachlaß regelte, fanden sich noch über fünfhundert Bände seiner bisherigen Druckerzeugnisse, die noch nicht verkauft waren; allerdings schien er sehr diszipliniert zu sein, denn unbezahlte Rechnungen fanden sich nicht.

    Er lebte nur für seine Kunst. Er mußte unermüdlich an den Kompositionen gearbeitet haben, auch wenn seine Gesundheit nachließ. Er arbeitete zumeist nachts, während er u.a. am Tag als Kantor an St. Johannes am Ufer seine Pflicht versah. Doch waren seine Tage offensichtlich gezählt: mit 40 Jahren starb er im Juli 1591. Vier Jahre danach erschien der Druck der Moralia, die sein Bruder ermöglichte. Doch sehr schnell danach vergaß man Gallus bis auf einige, wenige Werke, die in Liederbüchern für die Kirche auftauchten; doch auch diese Stücke wurden zunehmend an Zahl geringer. Schließlich bedurfte es Mantuani, Gallus dem Vergessen zu entreißen.


    Die Harmoniae morales/Moralia umfassen 100 Motetten, die in ihrer Tradition und Sichtweise immer noch in der Modalität der Renaissance stehen; zwar hat sich Gallus durchaus der Freiheiten bedient, die durch Glarean 1547 in seiner Dodekachordon erläutert wurden - nämlich die Hinzufügung des Ionischen und Äolischen Modus - , doch nicht direkt durch deren Verwendung, sondern durchs Transponieren in andere Modi (Äolisch auf d ==> Dorisch mit b; Ionisch auf c ==> Lydisch mit b). Da die Modi eines genau formulierten Charaktersystems untergeordnet waren (Dorisch = majestätisch, Hypodorisch = klagend und bitter usw.), wählte Gallus die Modi entsprechend des Textinhalts aus. Seine Kadenzbildung auf IV/V/I ist nur eine von vielen Möglichkeiten, wie er Kadenzen bildet, was also nicht unbedingt darauf hindeutet, daß er bereits die Dur/Moll-Tonalität vorwegnahm, wie es einige Musikwissenschaftler formuliert hatten. Florjanc führt aus, daß diese Schlußfolgerung anhand des musikalischen Kontexts nicht aufrecht zu halten ist. Daß Gallus aber einer der progressivsten Komponisten seiner Zeit war, ist jedoch unbestritten.


    Gallus' humanistische Prägung formte aus ihm einen tiefgläubigen Intellektuellen, der die Harmonie der Sphären gekonnt in seiner Musik zu verwenden wußte. Alles - sein Weltbild, seine Auffassung von Kunst - war danach ausgerichtet und ließ ihn unermüdlich daran arbeiten. Er sah keinen Widerspruch im Weltlichen wie im Geistlichen - für ihn waren das zwei Aspekte der gleichen Sache, nicht zwei getrennte Dinge. Mit seinem als "Hahn" postulierten Selbstbewußtsein als Künstler bemühte er sich zu zeigen, daß dies eben nicht trennbar war. Seine Musik ist im Grunde die komplexe Auseinandersetzung mit der Überzeugung, daß es nichts in der Welt gibt, was ungeordnet existiert.


    Links:
    "http://de.wikipedia.org/wiki/Jacobus_Gallus"
    "http://en.wikipedia.org/wiki/Jacobus_Gallus"
    "http://www3.cpdl.org/wiki/index.php/Jacob_Handl"
    "http://imslp.org/wiki/Category:Handl,_Jacob"


    jd :wink:

    "Interpretation ist mein Gemüse." Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation." Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..." jd

  • Vielen Dank für Deinen Einsatz für diesen großartigen, weitgehend unbekannten slowenischen Meister. Ich habe ihn kennengelernt durch eine Aufnahme des "Opus musicum" (Ausschnitte) durch den unermüdlichen Schatzgräber Paul van Nevel. Eine meiner schönsten Spätrenaissanceplatten:

    Zitat aus dem Booklet, das ich voll unterstreichen möchte:

    "Was die Harmonien betrifft, so ist Gallus` Werk der reinste Lustgarten. Sein Geschick im Gebrauch von Terzen ist wohl noch virtuoser als das von Lasso...Seine Klangcharakteristik gehört zum Besten, was die Spätrenaissance hervorgebracht hat" (Paul van Nevel)"

    :wink: Andreas

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