Beethoven: Streichquartette op. 18
„Frühe Quartette“ – eher „noch nicht“ oder eher „doch schon“?
Beethovens Opus 18 wird meist mit der Überschrift „die frühen Streichquartette“ versehen, sei es in der Literatur, sei es auf CD-Covern. Mit diesem „früh“ scheint mitunter, wenn nicht eine Herabwürdigung, so doch eine geänderte Wahrnehmung verbunden zu sein. Da schwingt ein „noch nicht“ mit, da klingt eine Relativierung gegenüber späteren Gattungsbeiträgen an.
Dies ist aus anderen Zusammenhängen vertraut: „frühe Opern“ (Mozart, Verdi) oder „frühe Sinfonien“ (Schubert, Dvorak) haben manchmal ein ähnlich schwieriges Standing gegenüber „späteren“. Andererseits gibt es diejenigen Erstlingswerke, die „fertig“ wirken, und bei denen das „noch nicht“ kaum wahrgenommen wird; dies selbst dann, wenn es noch weitere Entwicklungen beim jeweiligen Komponisten gab. Bei Sinfonien könnte man etwa an Brahms, Mahler und Sibelius denken.
Die „frühen“ Quartette Beethovens gehören klar zum letzteren Typ der „fertigen“ Erstlinge. Eine Spekulation sei gewagt: Hätte Beethoven, aus welchen Gründen auch immer, nach 1800 keine Streichquartette mehr komponiert, so würde op. 18 als Krone der Quartettkunst des 18. Jhds. gefeiert werden – oder so ähnlich. Sicher nicht, ohne im selben Atemzug Mozarts „Haydn-Quartette“ und Haydns späte Quartette ab 1790 (insbes. op. 76) zu nennen, aber eben doch als vorläufiger End- und Höhepunkt einer Entwicklung, die fast ein halbes Jahrhundert zuvor begann. Dieses Lob könnte man natürlich auch vor dem Hintergrund der danach entstandenen Quartette Beethovens spenden – aber dies geschieht nicht, jedenfalls ist es mir solches noch nicht aufgefallen. Spielt da die Existenz späterer Werke nicht doch eine Rolle?
Aus der Sicht des Hörers gefragt: Verschenkt man nicht mögliches Hörvergnügen, wenn man op. 18 aus der Perspektive der mittleren und späten Quartette hört? Es mag meinetwegen historisch uninformierte Dirigenten gegeben haben, die Schuberts „Große C-Dur-Sinfonie“ dirigierten, als wäre es Bruckner. Wäre es denn nicht zumindest vorstellbar, dass es einen historisch uninformierten Hörer geben könnte, der durch die Appassionata-Brille etwas scheel auf Beethovens Klaviersonate f-moll op. 2 Nr. 1 blickt? Kann das Hörvergnügen leiden, wenn man diese Werke aus der historisch falschen Richtung einordnet? Opus 18 wäre jedenfalls ein Kandidat dafür. Das sind eben noch keine „Rasumowsky-Quartette“ und gehören erst recht nicht zum Spätwerk.
Aber warum eigentlich soll man sich durch die weitere Entwicklung Beethovens beim Genuss der „frühen Quartette“ einschränken lassen? Warum auf das „noch nicht“ hören, anstatt die Musik zu erleben und - wenn überhaupt - eher Mozart und Haydn als Kontext mitzudenken? Warum sich nicht einfach an diesen großartigen Quartetten freuen? In Nr. 1 etwa am dicht gearbeiteten Kopfsatz, an der „Romeo-und-Julia“-Grabszene des langsamen Satzes, am raffinierten Scherzo, das den Hörer mehrmals in die Irre führt? In Nr. 3 an der Tiefe des „Andante con moto“ oder am perpetuum-mobile-Finale? Am leidenschaftlichen „Sturm und Drang“-nahen ersten Thema des Kopfsatzes von Nr. 4? Am mit leichter Hand gesetzten und doch geistreich unterhaltenden Schlusssatz von Nr. 5? Am unternehmungslustigen Dialogisieren von Violine und Cello im Kopfsatz, am wahnwitzigen Scherzo und am einzigartigen „La Malinconia“-Finale in Nr. 6? So viel Ohrenfutter vom Feinsten …
Beethoven war 30 Jahre alt, als er dieses Opus fertigstellte; nicht jünger als Mozart zur Zeit der Entstehung der „Haydn-Quartette“. Da relativiert sich das „früh“ ohnehin.
Kammermusik in Wien um 1800
Warum überhaupt schrieb Beethoven in mehreren Phasen seines Lebens Streichquartette? Und warum hat er nicht ein vergleichbar gewichtiges Schaffen bei Bläserquintetten, Klavierliedern und geistlichen Kantaten hinterlassen? War das reiner kompositorischer Wille, der seinen idealen Ausdruck im (zumindest theoretisch) gleichberechtigten Miteinander von vier solistischen Streichern zu finden meinte? Oder gab es andere Gründe?
Als Beethoven 1792 nach Wien kam, traf er die Stadt in einem Zustand vor, den wir heute Finanzkrise nennen würden. Infolge des russisch-österreichischen Türkenkrieges 1787-92 musste der Adel seine Ausgaben einschränken und tat dies auch auf dem Gebiet der Musik. Bereits Mozart hatte dies zu spüren bekommen. Die Französische Revolution tat ihr Übriges.
Die Tragweite solcher Sparmaßnahmen wird klar, wenn man bedenkt, dass die Stadtpalais des Adels die eigentlichen Zentren des Wiener Musiklebens waren. Öffentliche Orchesterkonzerte waren eher selten und wurden überwiegend auf Subskription veranstaltet, d. h. das Ereignis fand erst statt, wenn so viele Karten verkauft waren, dass sich die Kosten decken ließen. Vergleichbare Konzerte mit Kammermusik gab es schon gar nicht. Aufführungen von Orchesterwerken wurden vor allem vom Adel bestritten, der eigene Orchester unterhielt, teilweise sogar vollständige Opernensembles mit Gesangssolisten und Chor. Diese lebten und musizierten dort, wo ihr Dienstherr gerade residierte; typischerweise des Sommers im Landsitz und des Winters im Wiener Stadtpalais. Die bekannte Geschichte zu Haydns Abschiedssinfonie weiß davon zu erzählen.
Die wirtschaftliche Lage führte dazu, dass die meisten Orchester und Opernensembles entlassen wurden. So ungünstig dies für die Weiterentwicklung der Orchestermusik in der Breite war, so förderlich war dies für die Kammermusik. Denn anstelle der kostspieligen Orchester hielt man sich kleine Ensembles, zum Beispiel eine Harmoniemusik, also eine Bläserbesetzung, oder eben ein Streichquartett.
Damit waren die Verhältnisse in Wien verschieden von denen in den beiden anderen wichtigen Zentren mitteleuropäischer Musikpflege. In England gab es in weitaus höherem Maße öffentliche Konzertveranstaltungen mit Chören und Orchestern. So hat Haydn nach 1790 noch Sinfonien für London, nicht aber für Wien komponiert und empfing die Anregung für seine späten Oratorien durch die englische Konzerttradition. In Paris lag die ebenfalls vom Adel geförderte Kammermusik als Folge der Revolution darnieder. Wien war nun der gedeihlichste Nährboden für derer Weiterentwicklung.
Mit der Bestallung von Kammermusikensembles in Wien gingen neue Möglichkeiten für die Komponisten einher, denn die fraglichen Musiker spielten auf dem Niveau von Solisten. Die gestiegenen spieltechnischen Ansprüche lassen sich in Beethovens Werken wiederfinden: Die Rasumowsky-Quartette op. 59 von 1806 stellten nochmals deutlich höhere Anforderungen an das Können der Aufführenden, als dies die sicher nicht anspruchslosen Quartette op. 18 (1798-1800) taten.
Die Blüte der Wiener Kammermusik entstand nicht aus dem Nichts. Die Kataloge der dortigen Verlage führten schon in der Zeit von 1781-90 alleine weit über 200 Streichquartette, 70 Klaviertrios, über 50 Violinsonaten und weitere Gattungen. Auch, wenn hierbei diejenigen Werke fehlen, die andernorts oder überhaupt nicht verlegt wurden, so ist die Bevorzugung des Streichquartetts klar zu erkennen.
Es würde zu einem wenig repräsentativen Bild führen, wenn man die Ausnahmewerke Haydns oder Mozarts als Maßstab nähme, um sich ein Bild der Literatur jener Zeit zu machen. Mozarts „Haydn-Quartette“ empfand man bei ihrem Erscheinen als „zu starck gewürzt“ und zog leichter verständliche Kost vor, etwa von Leopold Kozeluh. Als Beethoven wenige Jahre später in Wien seine ersten Werke mit Opuszahl veröffentlichte, zog er seinerseits die Abneigung der konservativen Kreise auf sich. Czerny erinnerte sich: „In jener Zeit wurden Beethovens Kompositionen vom größeren Publikum gänzlich verkannt und von allen Anhängern der älteren Mozart/Haydnschen Schule mit der größten Bitterkeit bekämpft“.
Abgesehen von allen Geschmacksfragen waren bereits die Haydnschen Quartette vielen Musikern spieltechnisch zu anspruchsvoll. Man griff auf Werke von Pleyel und anderen zurück. Der Komponist, Verleger und Musikpädagoge Hans Georg Nägeli erinnerte sich 1832 daran, dass man zwischen dem „höheren Stil“ der Quartette Joseph Haydns und dem „niederen Stil“ der Gattungsbeiträge Pleyels seinerzeit wohl zu unterscheiden wusste. Das Wissen um diesen Unterschied hat sich bekanntlich nicht in allen Teilen Wiens bis auf den heutigen Tag erhalten, der Kampf gegen Neuerungen scheint hingegen gerade dort seine „größte Bitterkeit“ behalten zu haben.