Konzerterfahrungen in München

  • EINE GEBALLTE LADUNG „BAYERISCHE“ KLAVIERKUNSTLIEDER


    Ein weiterer persönlicher Konzerteindruck


    Im Rahmen der Festwoche „75 Jahre Tonkünstler München e.V.“ wurde am Samstagnachmittag des 25.9.2021 im trotz Maskenpflicht gut besuchten Rubinsteinsaal des Steinway-Hauses in der Münchner Landsberger Straße ein Lieder-Strauss geboten, der in eineinhalb Stunden in vier Liedblöcken eindrucksvoll die kompositorische Vielfalt im zeitgenössischen bayerischen Klavierkunstliedschaffen vorzustellen vermochte. Der Schreiber dieser Zeilen lernte dabei allerlei Komponistinnen und Komponisten kennen, mit deren Kompositionen sich zu befassen durchaus lohnen könnte. Namentlich bekannt waren ihm vor dieser Veranstaltung nur Moritz Eggert, Enjott Schneider, Johannes X. Schachtner, Rudi Spring und Graham Waterhouse.


    Rudi Spring begrüßt das Publikum in Vertretung des abwesenden Johannes X. Schachtner, der für die Programmzusammenstellung verantwortlich gezeichnet hat und ersucht, die vielfach anwesenden Komponistinnen und Komponisten erst jeweils am Ende der vier Liedblöcke zu akklamieren.


    21 Klavierkunstlieder in eineinhalb Stunden – tonal oder freitonal, versunken oder virtuos, Stimmungsbilder oder Deklamationen, Blitzlichter oder kleine Opern, nach den Liedtiteln Verdeutlichtes oder gegenüber den Titeln Überraschendes, die verschiedenen literarischen Vorlagen – es geht Schlag auf Schlag, wie so oft bei Veranstaltungen dieser Art, von einer Welt in die nächste, jeweils geballt in wenigen Minuten.


    Ausdrucksstark und textdeutlich, sorgfältig nuanciert singt die Sopranistin Anna-Lena Elbert im ersten und vierten Block, sie zusammen mit dem Klaviergestalter Rudi Spring, genauso wie Ansgar Theis (Bariton) und Lauriane Follonier im zweiten Block und Barbara Hesse-Bachmeier (Mezzosopran) mit Mirjam von Kirschten im dritten Block anders ausdrucksintensiv zu überzeugen vermögen. Die unterschiedlichen Stimmfarben prägen die Liedcharaktere und sorgen für noch mehr Differenzierung im Ablauf.


    Im verbalen Schnelldurchlauf mit allen Komponistennamen, verbale Blitzlichter nur: Roland Leistner-Mayer, Markus Schmitt (der SAID vertonte), Dmitrij Romanov (Hesse!), Robert Delanoff, Narine Khachatryan, Moritz Eggert (kabarettistisch zu Twitter), Richard Heller (Brecht!), Dorothea Hofmann (Shakespeares „The Tempest“!), Hans Huyssen, Enjott Schneider (Trakl!), Alexander Strauch (Morgenstern, incl. Glockenmotiv aus Wagners „Parsifal“), Maximilian Beckenschäfer (ein Beispiel für die „erfüllte Erwartungshaltung“ mit der von Schirnding-Vertonung „Schwerelos“), Henrik Ajax (genauso mit der Jakob Leiner-Vertonung „Rhythmusstörung“), Dorothee Eberhardt (ein exaltierter Auftritt eines mexikanischen Fürsten aus dem 15. Jahrhundert), Bernhard Weidner, Minas Borboudakis (ein tonales, schwerblütiges Moll-Lied mit dem alles offen lassenden Titel „II“, Text Jannis Ritsos), Kay Westermann (wieder ein mehr kabarettistischer Beitrag, Text vom Komponistenkollegen Gerd Baumann), Katharina Schmauder (Eichendorff!), Johannes X. Schachtner („Schwindel“, Text Alessandra Molinas, dt. Georg Pichler), Rudi Spring (Rückert!) und Graham Waterhouse (Lewis Carroll!). Das Programmheft zur Festwoche hilft, später mehr ins Detail gehen zu können.


    Man hat einmal mehr nach so einer geballten Ladung an Klavierkunstliedern große Lust, sich mit all den Komponistinnen und Komponisten näher zu befassen, hier eine nahezu unüberschaubare Vielfalt – wenn es die Zeit zulässt.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • ALLERLEI PARISER ZAUBERWELTEN


    Das Orchestre Philharmonique de Radio France gastierte unter der Leitung seines Chefdirigenten Mikko Franck in Münchens Isarphilharmonie, Solistin war Alice Sara Ott - ein weiterer persönlicher Höreindruck


    Mit einem spätromantisch-farbigen Paris-Gruß-Konzertprogramm ist das Orchester unterwegs, mit vier Werken, mit denen es sich beeindruckend in seiner Kompaktheit präsentieren kann. Der Schreiber dieser Zeilen ist erstmals in der Isarphilharmonie. Trotz Maskenpflicht ist diese am Sonntagnachmittag sehr gut besucht, nur wenige Plätze bleiben frei. Akustisch (erlebt von Rang Mitte) hat mich der Klang etwas an die Elbphilharmonie erinnert - extrem klar, ganz offen. Das ist wohl einer dieser Konzertsäle, der absolut gar nichts verzeiht, da hört man wenn man genau hinhört wirklich alles.


    Mit Gabriel Faurés Pelléas et Mélisande Suite werden wir zu Beginn in eine märchenhafte, durchs tragische Ende emotional getrübte Zauberwelt entführt, mit Vorspiel, Spinnrad, Sicilienne und Mélisandes Tod. Wie zu erwarten präsentiert sich das Orchester bereits hier tourneegerecht kompakt und klangstark.


    Alice Sara Ott kann bei Maurice Ravels Konzert für Klavier und Orchester D-Dur "für die linke Hand" ihre Stärken ausspielen - vollgriffiges, transparent-klares Klavierspiel, und virtuos besteht sie makellos, man hört keine Verwischer oder Patzer. Sehr freut man sich danach mit der Künstlerin, dass bei diesem anspruchsvollen Werk (wo man am Klavier ja zuerst aus einer gewaltigen Orchestersteigerung heraus und später aus dem grimmigen Marsch exponiert zu kadenzieren hat) alles so brillant, auch in kongenialem Zusammenspiel mit dem Orchester, gelang.


    Die Zugabe widmet Alice Sara Ott den Menschen in der Ukraine, und sie ruft zu Spenden für die ukrainischen Kinder auf. Arvo Pärts "Für Alina" bringt glasklare Klavierklänge in den mucksmäuschenstillen großen Saal, ein kurzes Innhehalten in der Zeit.


    Den zweiten Teil eröffnet die Orchesterfassung von "D´un soir triste" von Lili Boulanger (1893-1918), spätromantisch-klangüppig und schicksalsschwer die Stimmung eines traurigen Abends einfangend. Nicht nur hier dirigiert Mikko Franck vielfach sitzend - und wenn er aufsteht dann vor dem Podium, "fast schon im Orchester".


    Und dann lassen sie die beliebten Orchestermuskeln spielen, mit denen man gerne bei Tourneen abräumt - Igor Strawinsky, "L´oiseau de feu" ("Der Feuervogel"), Suite für Orchester Nr. 2 (1919). Da können sich Orchestersolisten wie das ganze Kollektiv in der nächsten Zauberwelt, zwischen diesen so markant griffigen Themen, verführerisch einlullender trügerischer Ruhe und umso knalliger auftrumpfendem infernalischem Kastschei-Tanz, bestens präsentieren. Der Schreiber hat Leonard Bernsteins Leidenschaft bei dieser Musik im Ohr, die hier zugunsten perfekter Orchesterkultur etwas fehlen mag. Der Jubel ist gleichwohl garantiert nach dieser Demonstration hoher französischer Orchesterkultur.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

    Einmal editiert, zuletzt von AlexanderK ()

  • KOLLEGIALES „DUELL AUF AUGENHÖHE“


    Sophie Pacini und Martha Argerich im Herkulessaal der Münchner Residenz, 9.4.2022, ein weiterer persönlicher Höreindruck


    Endlich hat es geklappt. Das mit Spannung erwartete Konzert wurde coronabedingt vom 4.4.2020 zuletzt auf den 6.3.2022 verlegt, da hatte jedoch Martha Argerich den Virus erwischt. Wer Tickets hatte, durfte diese nun bis zum 9.4.2022 aufheben. Und dieser Tag fällt nun in die allgemeine Lockerungsphase, was die Coronabeschränkungen betrifft. Viele tragen zur Sicherheit weiter Masken, aber es ist wieder die volle Platzkapazität zugelassen. Zwar sind nicht alle Plätze belegt, aber auf den Bühnenstufen füllen sich auch die dort bereitgestellten Stühle, was sehr wohl den besonderen Anlass unterstreicht und die Anspannung vor Konzertbeginn noch zu steigern vermag. Diese in vielen Jahrzehnten gewohnte und als selbstverständlich hingenommene Anspannung in der Luft bevor ein Konzert vor weitgehend vollem Haus beginnt – wie haben das alle vermisst, wie umso intensiver „inhalieren“ wir es nun, als sich das Saallicht abdunkelt und die beiden Pianistinnen noch gefühlte Ewigkeiten auf sich warten lassen.


    Und dann treten sie von rechts auf. Die Anspannung löst sich in dankbar-befreitem Begrüßungsapplaus. Sophie Pacini begibt sich zum linken Flügel, Martha Argerich bleibt beim rechten. Sie legen los mit Wolfgang Amadeus Mozarts gar nicht hausmusikartig, sondern brillant konzertant daherkommender großer Sonate für zwei Klaviere D-Dur KV 448 (375a) – frisch und musikalisch wie musikantisch ungemein lebendig, da sprühen pointiert die Funken zwischen der großen souveränen alten Dame des Klavierspiels und ihrer selbstbewussten jungen Kollegin, dass es gleich eine riesige Live-Freude ist. Ob virtuos in den Sätzen 1 und 3 oder melodiös gefühlvoll im Mittelsatz, sie werfen sich die Bälle zu und wirken dabei großartig aufeinander eingespielt mit enormer Lust, die Musik in jeder Sekunde ganz neu lebendig zu machen. Großer beherzter Applaus!


    Der erste Teil nach der Pause gehört Sophie Pacini allein. Sie wendet sich zunächst mit einführenden, sehr deutlich und lautstark ohne Mikrophon gesprochenen Worten ans Publikum, dankt dafür, dass es nun im dritten Anlauf geklappt hat und erzählt, dass der Komponist dieses zweiten Teils Franz Liszt sie mit Martha Argerich zusammengebracht hat. Pacini hatte der großen Pianistin die h-Moll Sonate vorgespielt. Liszt wird nun, so Pacini, in seinem gesamten Klaviersolo-Oeuvre präsentiert, mit Originalkompositionen, einer Transkription und einer Paraphrase.


    Einleitend zu ihrem gewaltigen „Solobrocken“ spielt Sophie Pacini die Consolations E-Dur S 172/1 und E-Dur S 172/2. Und schon da offenbart sich ihre enorme musikalische Persönlichkeit. Sie versteht es sofort, die Seele der Musik spürbar zu machen. man wundert sich danach nicht mehr, dass sie vor Martha Argerich bestehen konnte, mit solchem Selbstbewusstsein, das aber eben ganz der Musik hingegeben zur Geltung kommt.


    Liszts Bearbeitung für Klavier solo der Ouvertüre zu Richard Wagners Oper „Tannhäuser“ WWV 70, die – so Pacini in den einführenden Worten – diese Musik in den musikalischen Salon bringen sollte, baut sich aus seinem weihevoll-erhabenen Beginn heraus zum Prunkstück des Konzerts auf. Eine ganz eigene Welt ersteht da, hochvirtuos, ein atemberaubender Kraftakt sondergleichen. Der scheint der jungen Pianistin aber nichts auszumachen, sie fegt und tobt über die Tasten, das ist wohl ganz ihr Zuhause. Entsprechend entlädt sich der Publikumsjubel danach.


    Und dann kommen sie zum „Zirkusfinale“ wieder zu zweit, diesmal Martha Argerich an den linken Flügel. Liszts Réminiscences de „Don Juan“ de Mozart für zwei Klaviere S 656 führt klavierzirkusreif vom Friedhof, wo der Komtur das Schicksal in die Hand genommen hat, über das charmant-verführerisch kecke Duett „La ci darem la mano“ zur pianistisch ausgekosteten Champagnerarie, mit deren hier mächtig auftrumpfenden letzten Akkorden sich so richtig abräumen lässt. Die beiden da vorne geben dem Volk ordentlich Zucker mit ihrer souveränen Mozartopernklavierbravour.


    Zögerlich, aber doch, kommt aus der begeisterten Zustimmung die erste Standing Ovation zustande – und der Klavierstuhl vom rechten wird zum linken Flügel getragen. Auf diesem flitzen sie, von Sophie Pacini (die noch einmal dankt und sich freut, dass nun wieder Konzerte ohne Abstand möglich sind) angesagt, noch spritzig durch den 3. Satz einer der beliebtesten Hausmusiksonaten für Klavier vierhändig von Mozart, der Sonate D-Dur KV 381 (KV 123a). Martha Argerich überlässt hier der jungen Kollegin den oberen Bereich. Jetzt kommt die Standing Ovation schneller zustande, die beiden Pianistinnen drehen noch ein paar Verbeugungsrunden um die Flügel (hier führt Martha Argerich), dann geht auch dieser so ganz besondere, eigene Abend zu Ende, der sich in schrecklicher Kriegszeit als eines von vielen vehementen Plädoyers für ein gemeinsames Miteinander der Menschen mit Musik positionierte.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Was für eine tief bewegende Konzertreminiszenz!


    Lieben Dank für die farbige Berichterstattung, werter Alexander. Dein Plädoyer für ein gemeinsames, urmenschliches Miteinander (in der uns alle energetisch verbindenden Aura von Frau Musica) ist Dir trefflich gelungen.


    Gruss aus Bern vom Walter

  • Lieben Dank für die farbige Berichterstattung, werter Alexander. Dein Plädoyer für ein gemeinsames, urmenschliches Miteinander (in der uns alle energetisch verbindenden Aura von Frau Musica) ist Dir trefflich gelungen.

    Diesen trefflichen Dankesworten schließe ich mich gern an. Eine packende Besprechung, die auf mich wirkt, als hätte ich das großartige Konzert selbst miterlebt. Herzlichen Dank, lieber Alexander!


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz
    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • DAS WUNDER DES ZUSAMMENSPIELS


    Zum Tourneekonzert des Royal Philharmonic Orchestra in München (Gasteig HP8 Isarphilharmonie, 20.5.2022), ein weiterer persönlicher Konzerteindruck


    Sitzt man in der Isarphilharmonie am Chorbalkon links, hat man optisch das Orchester im Überblick und akustisch einen tollen Stereoorchesterklang vor sich. Damit nimmt man (zumal nach den pandemiebedingten Einschränkungen) das menschliche Wunder eines Orchesterkonzerts umso deutlicher und dankbarer wahr - an die 100 Menschen, die gemeinsam komplexe Musik auf komplex gebauten Instrumenten zum Klingen bringen, die ihre präzise Probenarbeit und ihre spontane Leidenschaft des Muszierens ans Publikum mit Herz und Seele weiterzugeben versuchen, dazu an die nun auch wieder 1800 Menschen im Publikum, die sich, vielfach festlich gekleidet, auf diese große komplexe Kunst freuen. Der Orchesterklang fächert sich von diesem Sitzplatz vielleicht noch deutlicher auf als aus dem Parkett, was dazu führt, dass man das Zusammenspiel der Instrumentengruppen und die Einsätze (zumal von diesem Platz aus etwa der Horngruppe) umso detaillierter beobachten kann.


    Das Royal Philharmonic Orchestra präsentiert sich auf seiner Tourneestation in München unter der Leitung seines Chefdirigenten Vasily Petrenko als eines dieser internationalen Hochklasseorchester mit exquisit herausgearbeitetem Klangbild, vorzüglich besetzten Gruppen und Solistenstellen und bestens tourneegerecht abgestimmtem Zusammenspiel.


    Das alles kann das Orchester gleich mit Leonard Bernsteins schmissiger "Candide"-Ouvertüre demonstrieren. Klangprächtig und straff aufgezogen, zwischen rhythmischer Präzision und melodisch kompaktem Ausschwingen, zündet diese spritzige Ouvertüre einmal mehr.


    Zur Verlobung im Jahr 2001 hat André Previn Anne-Sophie Mutter sein Konzert für Violine und Orchester "Anne-Sophie" geschenkt. Die drei Sätze dieses Werks bieten nicht nur der Solistin alle Möglichkeiten zur musikalischen Entfaltung, auch die einzelnen Orchestergruppen sind vielfach höchstkonzentriert gefordert. (Wohl durch den Sitzplatz bedingt mutiert das Konzert für den Schreiber fast zu einem Konzert für Violine, Horn und Orchester, wobei Previn dem beherzten Solohornisten auch nichts an heiklen Einsätzen erspart, das ist oft nahezu ein Tanz auf der Rasierklinge, auf den Punkt ziemlich diffizile Motive hinwerfen zu dürfen.) Das farblich spannend schillernde Werk führt im 1. Satz (Moderato) durchaus in die Traumwelt Hollywoods, während der 2. Satz (Cadenza - Slowly) dazu umso schicksalsschwerer und eigen geheimnisvoll kontrastiert. Das ist ein ziemlicher Brocken, fordernde Musik, wie auch der mit Wehmut getränkte Finalsatz (Andante ("from a train in Germany")), der mit seinen "Wenn ich ein Vöglein wär"-Variationen geradezu plastisch evoziert wie es einem Kind gehen muss, das zur Emigration gezwungen wird. Anne-Sophie Mutter, in blauem Forellenkleid auftretend, präsentiert sich als leidenschaftliche Verfechterin des ihr zugeeigneten Werks, mit klarem, reinem, gleichwohl warmem Ton, der durchgehend für das nicht unanstrengend zu hörende Werk einzunehmen weiß. Man bewundert insgesamt die hochkonzentrierte Leistung aller Mitwirkender, ein tiefgehendes Plädoyer für dieses spätromantisch-hollywoodesk-schicksalsschwere Konzert aus dem Beginn des 21. Jahrhunderts.


    Das Publikum applaudiert bewegt und akklamiert die Solistin und das Orchester selbstverständlich zu einer Zugabe. Diese stammt auch von Previn aus dem Umfeld der Konzertkomposition und wurde vom Komponisten später für Violine und Orchester gesetzt. Nach dem schicksalsschweren Konzert harmonisiert diese Zugabe, gibt es damit doch einen schwelgerischen, ausgleichenden Nachklang zum Konzert, man ist doch wieder mehr "unbelastet geborgen" in der Traumwelt großer Hollywoodfilmatmosphäre.


    Der zweite Teil gehört Sergej Rachmaninows Symphonischen Tänzen op. 45. Auch diese erklingen brillant und dramatisch aufgezogen, klangedel und orchestral auf den Punkt, um die Wirkung einzelner "Knalleffekte" wissend und diese selbstverständlich auskostend. Da ist der eröffnende, grimmig vorwärtsstrebende "Mittag" (Non allegro), dann hat der 2. Satz, die "Abenddämmerung" (Andante con moto) mit seinem Vase triste und seinem dramatischeren Zwischenteil, auch wieder etwas sehr Wehmütiges, und im Finale "Mitternacht" (Lento assai - Allegro vivace) übernimmt schließlich gar das "Dies irae" das archaisch mahnende Kommando, gleichwohl mit dem furiosen Schluss spontanen Jubel provozierend, für die fabelhaft kompakt-hochklassige Orchester-Tourneeleistung.


    Dirigent Vasily Petrenko lässt keinerlei Zweifel an seiner Position zum Krieg, er spricht von der "Liebe zur Ukraine" und von "Liebe in Kunst und Frieden", und die beiden kurzen Zugaben kommen von russischen Komponisten und haben Ukrainebezug: die Werke, denen sie entnommen sind, spielen in ukrainischen Dörfern. Wir hören von Rimski-Korsakow ein Stück aus "Die Nacht vor Weihnachten" und von Mussorgsky den schwungvollen Gopak aus "Der Jahrmarkt von Sorotschinzy". Das so vielfach schicksalsschwer durchzogene Konzert endet damit mit einem großartigen, mitreißenden Plädoyer für die positive Ausstrahlung gemeinsam gelebter Musik in Livekonzerten.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • DIE SHOW GEHÖRT DAZU


    Lucas und Arthur Jussen mit Schlagwerkverstärkung im Münchner Prinzregententheater, 21.5.2022, ein weiterer persönlicher Konzerteindruck


    Im nicht ganz ausverkauften Prinzregententheater, in dem doch viele aus Sicherheitsgründen weiter Masken tragen, wartet man gespannt auf die zwei holländischen, von der DGG enorm gepuschten Jungstars des Klassikbetriebs, die diesmal Schlagwerkverstärkung mitgebracht haben, Alexei Gerassimez und Emil Kuyumcuyan.


    Béla Bartóks 1937 entstandene dreisätzige Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug Sz 110, vom Komponisten selbst lapidar in Worten mit den üblichen Aufbaukriterien Sonatensatz, dreiteiliger Liedsatz und Mischung Rondo/Sonatensatz vorgestellt, besticht mit seinem enormen perkussiven musikimmanenten Ausdruck. Die vier auf dem Podium machen aber von Anfang an klar, dass es ihnen auch um gute Unterhaltung geht, sie scheuen sich nicht vor Schauwert-Brillanz. Der Beginn baut enorme Spannung auf, und der geheimnisvoll verklingende Schluss rundet die packenden ca. 25 Minuten ab, die Entladungen des Werks dazwischen sind aber durchaus auch Show, brillantes Herzeigen, wie souverän und gut und toll aufeinander abgestimmt man das alles kann.


    „Stonewave“ für Percussion Duo ist ein ganz aktuelles Werk von Alexei Gerassimez, der sich nebstbei auch als launiger Entertainer-Moderator präsentiert. Hier wird die Balance zwischen zeitgenössischer, strukturierter, technisch fordernder Komposition und einfach nur gut unterhaltendem, mitreißendem „Drum-Pop“ noch unverblümter ausgekostet. Das Publikum reagiert mit spontaner Begeisterung.


    Statt der angekündigten „Rhapsody in Blue“ stürzen sich die Jussen-Brüder nach der Pause in Maurice Ravels „La Valse“ – perfekt aufeinander eingespielt, die Walzerapotheose als pianistisches Feuerwerk aufbereitend, jedoch um den Preis fast jedes spontanen Moments. Die beiden strahlen eine ungeheure gemeinsame Spiellust sowie coole Lässigkeit aus, die das Publikum sofort zu fesseln vermögen, aber es fehlt der Kick des Augenblicks, es wirkt alles schwindelerregend perfekt abgerufen. Damit räumt man ab, klar.


    „Frank´s House“, das nächste Werk des Konzerts, ist der 2015 entstandene, etwa zehn Minuten lange akustische Kommentar des 1979 geborenen amerikanischen Komponisten Andrew Norman zu einem provokant entworfenen Haus des Architekten Frank Gehry. Hier halten wieder alle vier die Balance zwischen interpretatorischer Superperfektion und der Vorstellung eines chaotischen Hauses, incl, Papierzerreißen und Hausmusik an einem Klavier mittendrin. Es bleibt in Schwebe, ob man so etwas als reine akustische wie auch optische Comedy aufnehmen oder als musikalisches Werk ernstnehmen soll, Tendenz eher zu ersterem, bis zum effektvollen Schluss, der an jenen von Mahlers 6. Symphonie erinnert, gespanntes Verklingen und ein plötzlicher letzter Schlag.


    Zu den „Symphonic Dances“ aus Leonard Bernsteins „West Side Story“, hier wieder mal live in der spannend transparenten Version für zwei Klaviere und zwei Schlagwerker zu hören, werden wir vor Beginn aufgefordert, beim „Mambo“ mitzuschreien – Unterhaltung und Show gehören also auch hier dazu. Da gilt es ja erst recht, die Balance zwischen Bandenkrieg, großer tragischer Liebe und konzertanter Brillanz aufrecht zu erhalten. Eine gehörige Portion Schauwert-Brillanz bestimmt denn auch diese etwa 20 Minuten, und die hochvirtuose Fuge etwa kommt so wie alles an diesem Abend vor allen - cool. Präzise Probenarbeit ist selbstverständliche Voraussetzung, alles wird grandios perfekt abgerufen, und es ist fast ein bisschen schade, dass zwischen dem spannend sich aufbauenden Prologue und dem schicksalsschwer elegischen Ausklang (obwohl zumal technisch über Somewhere, Scherzo, Mambo, Maria-Cha-cha, Meeting Scene, Cool Fugue, Rumble und Finale vor allem ein ungeheurer Funkenflug sprüht) so gar nichts passiert, wo man ein Risiko mitspüren könnte. Spannungsmomente aufbauen und halten können sie alle großartig, aber eben kalkuliert, toll einstudiert, auf den Punkt abgerufen – die präsentierte Lässigkeit eines Zeitalters, das künstlerische Perfektion samt optisch „superherzeigbarer“ Aufbereitung als „selbstverständliches Nebenbei zwecks bester Unterhaltung“ suggeriert. „Keep cool, boy.“


    Die Zugabe gibt dem Publikum Zucker, "Short Ride in a Fast Machine", ein treibender John Adams Hit auf Hochtouren.


    Das muss man diesem Abend lassen – er hat für (wohl von vielen auch erwartete) echte Begeisterung an Musik gesorgt. Der Abend hatte ganz viel von der „Wenn die kommen, ist was los, kriegen wir was geboten“-Stimmung, verstärkt durch die vorangegangene Corona-Pause umso dankbarer vom Publikum angenommen.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Lieber Alexander,


    ich muss mich doch mal für Deine immer wieder höchst lesenswerten Konzertbeschreibungen bedanken! Man möchte am liebsten immer dabeigewesen sein! Und selbst Deine Verrisse ;) haben etwas Enthusiastisch-Positives!


    Chapeau!:verbeugung2:

    Bernd


    Fluctuat nec mergitur

  • Herzlicher Dank für die freundlichen Zeilen. Nicht zuletzt auch vor allem die Konzerteindrücke von Giovanni di Tolon, Wieland, Gurnemanz, thomathi und einigen weiteren in diesem Forum haben Lust gemacht, wieder verstärkt in Konzerte zu gehen. An dieser Stelle gebe ich den Dank gerne an alle weiter.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • GESCHLOSSEN AN DIE GRENZEN


    Das Hagen Quartett im Prinzregententheater in München, 30.5.2022, ein weiterer persönlicher Konzerteindruck


    Was für ein Konzertprogramm! Vor der Pause Franz Schuberts Streichquartett Nr. 15 G-Dur op. 161 D 887, und danach Dmitri Schostakowitschs Streichquartett Nr. 15 es-moll op. 144 – was Streichquartettkonzerte betrifft eine Grenzerfahrung, in mehrfacher Hinsicht. Das ausverkaufte und gebannt wartende Prinzregententheater ist eigentlich zu groß für so ein Konzert, Showbühne statt Intimität. Zum 40jährigen Jubiläum dieses Streichquartetts, mit den drei von Anfang an zusammenspielenden Hagen Geschwistern aus Salzburg und seit 1987 mit dem 2. Geiger Rainer Schmidt, loten sie diverse Grenzen aus.


    Franz Schuberts G-Dur-Quartett fordert die Mitwirkenden interpretatorisch immens, es fordert aber auch das Publikum immens, gilt es doch, sich etwa 45 Minuten in extremste Gefühlsbereiche hineinfallen zu lassen, im 1. Satz zwischen Schicksalsdrama und Schanigarten, im 2. Satz zwischen Melancholie und Zerklüftung, im 3. Satz zwischen Aufgeregtheit und Beruhigung (im Trio), und im Finale mit seinem ausufernden Ritt. Das Hagen Quartett präsentiert sich als gestählt geschlossenes Ensemble, perfekt aufeinander abgestimmt, als vollendete Streichquartetteinheit. Das vibratolose, hell-klare Spiel, ohne jegliches Geschmiere, besticht in seiner Unerbittlichkeit. Die grimmigen Tremoli, die Aufschreie im 2. Satz, das Dahin des Finalritts – das Theater geht gebannt mit, muss gebannt mitgehen, mitzittern mit Schuberts Brüchen, gefestigt durch das brillante und doch so enorm emotionale Spiel des Quartetts. Nachher fühlt man sich zehn Jahre gealtert und doch frei und glücklich. Der Jubel ist einhellig.


    Die Herausforderung des 2. Teils ist fast noch größer. Nicht nur, weil hier die vier auch einzeln oder in Gruppen noch diffiziler gefordert sind, sondern vor allem, weil die Musik von Schostakowitschs 15. Quartett provokant eigenwillig mit sechs aufeinanderfolgenden langsamen Sätzen (Elegie, Serenade, Intermezzo, Nocturne, Trauermarsch und Epilog), großteils noch dazu fahler Musik, festhalten muss. Hier fesselt die Intensität des fast unheimlich geschlossen spielenden Hagen Quartetts noch eindringlicher, gerade in der bewusst erzeugten Kälte der Musik. Schon in der Elegie kann man eine Stecknadel fallen hören im Theater, nahezu jeden Atemzug des Umfelds, so angespannt spielen sie, so eindringlich. Wo sich einzelne exponieren (müssen), tun sie es auch aufgehoben in der Geschlossenheit des Zusammenspiels, und wenn sie dann explodieren, die vier hintereinander, kommt das wie brutale Messerstiche. Ungeheure Momente in einem Streichquartettkonzert!


    Die sekundenlange Stille nach dem auch extrem spannend ausgeloteten Ausklang hätte durchaus noch länger anhalten können, aber es siegte doch der berechtigte Wunsch des Publikums, die vier nach dieser enormen Leistung umso herzlicher zu akklamieren.


    Dem heimlichen Wunsch des Schreibers dieser Zeilen, nach so einem Programm keine Zugabe zu geben (welche hätte da gepasst?), kamen sie nach.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Ich bin gestern im nicht ausverkauften Prinzregententheater gewesen. Im Rahmen der Münchner Opernfestspiele war ein Festspiel-Barockkonzert mit William Christie, seinen Les Arts Florissants und Sonya Yoncheva angekündigt. Gespielt wurde Händel, und zwar vor allem große, getragene Arien wie 'Ah mio cor' aus Alcina oder 'With darkness deep' aus Theodora. Ich mache es kurz: Es war ein ziemlicher absurder Abend, den ich vor den Zugaben ärgerlich verließ. Es war offensichtlich, dass viel zu wenig (wenn überhaupt!) geprobt worden war. Yoncheva klebte streckenweise an den Noten, Uneinigkeit über die Tempi zwischen Christie, der am Cembalo begleitete und dirigierte und der Sängerin und ihre Unfähigkeit, den langen Arien Ausdruck zu verleihen, ließen die 70 Minuten des Konzerts dann doch zu einem Ärgernis werden. Yoncheva hat eine sehr schöne Stimme, ohne Zweifel. Aber sie war an dem Abend nicht in der Lage, die Spannungen innerhalb der einzelnen anspruchsvolen Stücke aufzubauen und zu halten. Dazu kam, dass das Ensemble in Minimalbesetzung auf der Bühne war: Eine erste und eine zweite Violine sowie eine Bratsche, und die Continuo-Gruppe wurde durch einen Kontrabaß verstärkt. Dadurch war der Gesamtklang deutlich zu basslastig und der Klang verwaschen.
    Was ist bloß in München los? Für die Opernfestspiele waren und sind jede Menge Karten zu haben. Die neuen Inszenierungen will keiner mehr sehen. Selbst die Premieren sind nicht ausverkauft. Hier im Süden unserer Republik funktioniert irgendwie nichts mehr richtig.

  • KRAFTAKTE IM MOMENT


    Persönlicher Höreindruck vom Klavierabend von Clarin Isai Merk in der Freien Waldorfschule München Südwest in München, 7.10.2022


    Die von Stefan Laux geleitete Süddeutsche Schubertgesellschaft e.V. veranstaltet im Herbst 2022 in München einen Konzertzyklus „Robert & Clara Schumann Johannes Brahms“ mit Liedern, Klaviermusik und einem Vortrag von Prof. Dr. Peter Gülke.

    Veranstalter Stefan Laux begrüßt das Publikum (ca. 25 Menschen) mit einführenden Worten zum ganzen Zyklus und zum ersten Werk des ersten Abends, eines Klavierabends. Wir erfahren, dass die Sonate C-Dur op. 1 von Johannes Brahms bei seinem ersten Besuch bei den Schumanns in Düsseldorf mitgebracht worden war und Robert Schumann sich begeistert vom Werk des damals 20jährigen gezeigt hatte. Laux hebt hervor, dass sich diese Sonate an Beethovens Waldstein- und Hammerklaviersonate orientiert und orchestral angelegt ist. Beim 2. Satz greift Brahms auf ein altes Volkslied zurück.

    Die viersätzige Sonate stellt ja eine gewaltige pianistische Herausforderung dar, sie fordert Kraft und sorgfältige Konzentration auf die virtuose Vollgrifftechnik. Die junge Pianistin präsentiert sich nicht als Showpianistin, sondern ausschließlich fokussiert auf den Klaviervortrag. Die Exposition des 1. Satzes nimmt sie eine Spur verhalten, sie spielt sich quasi ins Konzert hinein, nicht gleich „voll offensiv“. Der nicht zu große Raum und der wohl schon etwas ältere C. Bechstein Flügel, verbunden mit dem beherzten Klavierspiel der Pianistin, sorgen für eine etwas vergrößerte Hausmusikatmosphäre. Großartig von Anfang an ist die Musikantik. Clarin Isai Merk spielt nicht „pianistisch abgerufen“, sondern sie macht den Moment zum Augenblick im Jetzt, „man kann nie sagen, wie es weitergeht“. Mit der Expositionswiederholung findet sie zu Sicherheit und Freiheit für gestalterische Akzente. Technisch gelingt alles großartig, nichts wird verwischt oder knapp verfehlt. Wo Brahms melodisches Aussingen ermöglicht, weiß die Pianistin gestalterische Reife zu zeigen, etwa wenn die Musik im Trio des 3. Satzes ins Irgendwo wandert. Mit der brillanten Stretta des Finalsatzes, für den sie sich großartig die Kräfte auch noch eingeteilt hat, räumt sie ab und holt sich den verdienten, herzlichen Applaus.

    Vor dem zweiten Teil erklärt Laux, dass Schumann mit Clara schon in den 30er Jahren nach Wien wollte und Clara insgesamt 60 Jahre auf der Bühne war. Ihr Souvenir de Vienna op. 9 dreht sich um die alte Kaiserhymne. Clarin Isai Merk spielt auch dieses weniger bekannte Werk beherzt. Zu Robert Schumanns Faschingsschwank aus Wien op. 26 spricht Laux vorab aber auch zu den Davidsbündlern, zu Florestan und Eusebius und zu den Kreisleriana. Die Pianistin stellt diesen auch ziemlich herausfordernden fünf Sätzen „Warum?“ aus den Fantasiestücken op. 12 voran. Sie bleibt weiter spannend „im Moment“ und gestalterisch stark und bewältigt auch diesen enormen Kraftakt bravourös.

    Zugabe gibt es an diesem Abend allerdings keine.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Ein schöner lebendiger Bericht, lieber Alexander, herzlichen Dank! Da wäre ich gern dabeigewesen!


    :wink:

    Es grüßt Gurnemanz
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    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Da schließe ich mich gerne an! Sehr interessant, ich hatte noch nie etwas von Konzerten in einer Münchner Waldorfschule gehört.

    "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." (Theodor Ludwig Wiesengrund)

  • SKRJABINABENTEUER UND WALZERAPOTHEOSE


    Anna Vinnitskaya am 20.11.2022 im Münchner Prinzregententheater, ein weiterer persönlicher Höreindruck


    Dass die Pianistin Anna Vinnitskaya bei ihrem Münchenkonzert nur vor einem halbvollen Auditorium konzertieren musste, ist schade. Das fabelhaft virtuose wie hochmusikalisch inspirierte Konzert hätte sich ein ausverkauftes Haus verdient. Vinnitskaya bot im ersten Teil ein herausfordernd anspruchsvolles Programm, um im zweiten Teil (technisch vielfach nicht minder virtuos) äußerlich gefälligere Werke vorzustellen.


    César Francks Prélude, Fugue et Variation, ein Orgelwerk, von Theo Wegmann für Klavier transkribiert, gibt den Grundcharakter des Klavierspiels der Pianistin vor: sie verleiht der Musik Seele, lässt sie aus dem Augenblick leben, von fließender Innigkeit zu kathedraler Größe.


    Francks Werk ist der Auftakt zum gewaltigen Alexander Skrjabin Block vor der Pause. Skrjabins Valse op. 1 gibt sich noch charmant chopinesk, aber wie die Pianistin dann die eruptiv-gewaltige Fantasie op. 28 als Kraftakt ganz aus dem Moment hinlegt, den großen Bogen auch mit immenser Musikalität spannt, das ist einfach atemberaubend gut.


    Skrjabins Zwei Poèms op. 32 lässt sie weiter aus dem Augenblick fließen, zuerst träumerisch, dann aufgeladen. Zum zweiten sensationellen „Highlight“ nach der Fantasie wird die Sonate Nr. 5 op. 53. Sie beginnt mit einem Schockmoment, aus dem sich aber sofort mystischer Zauber löst, der sich dann in einen Rausch hinein wandelt, und man ist völlig gespannt und gebannt, wie uns die Pianistin durch die Zauberwelten weiterer Stimmungsbrüche dieses Werks manövriert. Das Werk endet wie ein Spuk.


    Zwei solche Kraftakte schon vor der Pause! Man fragt sich fast, was da noch kommen soll. Die „Achterbahnfahrt“ wird denn auch im zweiten Teil etwas zurückgenommen, die Stückauswahl glänzt nun mehr äußerlich und, vielleicht durchaus kalkuliert, gefälliger.


    Frédéric Chopins vier Impromptus (Nr. 1 As-Dur op. 29, Nr. 2 Fis-Dur op. 36, Nr. 3 Ges-Dur op. 51 und Nr. 4 cis-Moll op. 66 "Fantaisie-Impromptu"), von der Pianistin zuletzt beim Label Alpha veröffentlicht, vermitteln nach dem fulminanten ersten Teil fast etwas enttäuschend das „preisträgerhafte“ Abrufen gut einstudierten Repertoires. Das ganz Besondere, das Außergewöhnliche, wird nicht so evident. Im zweiten Impromptu sticht die Marschsteigerung im Mittelteil heraus, und das populärste ist ja das vierte Impromptu.


    Maurice Ravels acht Valses nobles et sentimentales kommen musikantisch facettenreich, da kann die Pianistin weiter ihre hohe Musikalität voll ausloten, zwischen Virtuosität und Geheimnis.


    Könnten anderswo Skrjabins Fantasie genauso wie die 5. Sonate das fulminante Abschlusswerk sein, ist es hier ein weiterer „Reißer“ des Klaviervirtuosentums, Ravels La Valse, diese Walzerapotheose, ein Abräumer par excellence. Die Pianistin nimmt uns mit in den Rausch und hat das Durchhaltevermögen und die Kraft, bis zum irrwitzig hochvirtuosen Schluss ganz und gar „drin“ zu bleiben, eine auch körperlich unglaubliche Leistung.


    Zwei Zugaben dürfen wir nach diesem großen Klavierabend auch noch als Erinnerung mit nach Hause nehmen. Wer sie nicht zuordnen kann, erfragt sie telefonisch bei der Konzertdirektion Hörtnagel, die netterweise nach Recherche zurückruft: Rachmaninow, Etude-tableaux op. 33/2 und Tschaikowsky, „April“ aus den „Jahreszeiten“.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

  • Hallo zusammen,


    seit langer Zeit mal wieder ein Beitrag von mir in diesem Faden. Ich bin gestern in einer konzertanten Aufführung einer selten gespielten Oper von Jules Massenet gewesen und bin - wie meine charmante Begleitung - einigermaßen enthusiasmiert herausgekommen. Hier die Fakten:

    Jules MASSENET: „ARIANE“ (uraufgeführt 1906) Oper in fünf Akten, Libretto von Catulle Mendès

    Amina Edris - ARIANE (Sopran)

    Marianne Croux - EUNOÉ / ERSTE SIRENE (Sopran)

    Judith van Wanroij - CHROMIS / CYPRIS / ZWEITE SIRENE (Sopran)

    Kate Aldrich - PHÈDRE (Mezzosopran)

    Julie Robard-Gendre - PERSÉPHONE (Mezzosopran)

    Jean-François Borras - THÉSÉE (Tenor)

    Jean-Sébastien Bou PIRITHOÜS - (Bariton)

    Yoann Dubruque - KAPITÄN / ERSTER MATROSE (Bariton)

    Philippe Estèphe - PHÉRÉKLOS / ZWEITER MATROSE (Bariton)

    Chor des Bayerischen Rundfunks

    Stellario Fagone EINSTUDIERUNG

    Münchner Rundfunkorchester

    Laurent Campellone LEITUNG


    Das ist wahrlich nicht mein Standardrepertoire, aber eine Freundin hatte ein sehr feines Angebot gemacht, dem ich nicht widersprechen wollte. Aber zum Musikalischen kann ich dann, denke ich, ausreichend viel schreiben. Librettist und Komponist sind bekennende Wagnerianer, das hört man insbesondere der Musik immer mal wieder an, aber natürlich klingt diese Musik immer französisch und nicht deutsch.


    Die Konzeption des Librettos fand ich sehr gelungen, insbesondere die beiden Schwester Ariane und Phèdre sind im Text sehr gut charakterisiert und ihre komplexen Emotionen sind sehr gelungen entwickelt. Und die Musik hat damit eine wunderbare Basis für die Schilderung der emotionalen Seite der Geschichte, die sich voll auf den Konflikt der Schwestern um Thésée kümmert.


    Wunderbare Musik gibt es hier zu hören, insbesondere die beiden Duette der Schwestern im ersten und dritten Akt sind grandiose Musik, eben weil der Textdichter in seiner Wagner-Verehrung wusste, was ein Tonsetzer benötigt. Wenn es nicht den vierten Akt mit seiner Konzentration auf Perséphone gäbe, würde man tatsächlich denken, dass es einen so dramaturgisch großartigen Akt wie den dritten kaum sonst gibt.


    Dieser besteht u.a. aus einem weiteren großen Duett der Schwestern ('Donnez la bête aux chiens vainqueurs!'), in dem die Titelheldin ihre Schwester auffordert, bei Thésée erneut für sie zu werben, weil sie gemerkt hat, dass sie in dessen Gunst nicht mehr an vorderster Stelle steht. Phèdre weiß noch nicht um die Gefühle ihres Schwagers für sie, hat Schuldgefühle wegen ihrer eigenen Gefühle für den Schwager ('Oui, j’accomplirai cette tâche sacrée'). Im anschließenden Duett ('Qui t’attendait au penchant de la route.') zwischen Thésée und Phèdre kommt sie anfangs noch ihrem Versprechen der Schwester gegenüber nach, aus Thésée brechen aber seine starken Gefühle für Phèdre heraus, denen sie nichts wirklich entgegen zu setzen hat. Dann kommt Ariane dazu und erkennt sofort, dass sie abgeschrieben ist. Thésée und Phèdre treten ab, Ariane kämpft mit ihren Emotionen ('Je ne comprends pas. Les choses N’ont pas changé.') und ringt sich - bei allem Neid auf ihre Schwester ('Oh! Qu’il doit souffrir de ne m’aimer plus! Qu’elle doit souffrir de m’avoir trahie!') - aber doch zu einer Anerkennung der neuen Lage ab. Sie kann die Gefühle der Schwester gegenüber aber nicht so weit dämpfen, dass sie ihr nicht doch etwas Schlechtes an den Hals wünscht. Dies tritt in der Oper sofort ein: wenige Minuten später wird der Tod der Phèdre gemeldet. Ariane fühlt sich schuldig und verspricht, ihre Schwester aus der Unterwelt wieder hervorzuholen.


    Dies passiert im sehr einfach strukturierten (kurze Chorszene, längeres Solo der Perséphone, kurze Szene mit Überzeugung der Perséphone), aber musikalisch sehr gelungenen 4. Akt. Musikalisch ist dieser Hades eine finstere Gegend mit Auspeitschungen und allgemeinen Klagegesängen. Im 5. Akt wird das Warten der auf der Oberfläche zurückgebliebenen Protagonisten geschildert, bis die Schwestern aus dem Untergrund wieder auftauchen: Thésée und Phèdre versprechen beide, auf Ariane Rücksicht zu nehmen, werden aber von Ihren Gefühlen füreinander überwältigt und lassen sie musikalisch einfach zurück. Der Chor der Sirenen, den Anfang des ersten Akts aufnehmend, lockt Ariane ins Meer.


    Sängerisch gibt es vieles sehr Gutes zu berichten, mich haben die drei weiblichen Hauptrollen: Ariane, Phèdre und Perséphone am meisten überzeugt. Für die Titelrolle würde ich mir persönlich eine etwas schwerere und etwas silber-metallischere Stimme als die von Amina Edris wünschen, aber ihre Gestaltung dieser von Anfang an liebestrunkenen Ariane war sehr beeindruckend. Auch die beiden männlichen Hauptrollen Thésée und Pirithoüs war außerordentlich gelungen, für meine Verhältnisse hat Jean-Sébastien Bou insbesondere in den ersten beiden Akten etwas zu stark auf Lautstärke gesetzt. Der Höhepunkt in meinen Ohren war allerdings Julie Robard-Gendre in ihrer Gestaltung der Perséphone, sie hat auch den stärksten Applaus bekommen.


    Der BR-Chor war vor allem in den Frauenstimmen gefordert und hat seine Sache wieder einmal großartig gemacht. Das Rundfunkorchester hat sehr ordentlich gespielt, hier war noch ordentlich Luft nach oben, wenn man in München so großartige Orchester wie das BR-SO, Bayrisches Staatsorchester und Münchner Philharmoniker zu regelmäßig hört. Der mir vorher völlig unbekannte Dirigent Laurent Campellone hat seine Sache sehr gut gemacht, aber auch hier könnte ich mir vorstellen, dass ein erstklassiges Opernhaus mit einem anderen Dirigenten noch mehr zaubern könnte.


    Die Aufführung gestern ist mitgeschnitten worden, es soll eine CD-Produktion gemeinsam mit Palazzetto Bru Zane geben.


    Gruß Benno

    Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist (Nietzsche)

  • Was ist bloß in München los? Für die Opernfestspiele waren und sind jede Menge Karten zu haben. Die neuen Inszenierungen will keiner mehr sehen. Selbst die Premieren sind nicht ausverkauft. Hier im Süden unserer Republik funktioniert irgendwie nichts mehr richtig.

    Dido and Aeneas / Erwartung in der Staatsoper war letzten Samstag fast ausverkauft, auch die Stehplätze dicht besetzt. Leider litt der Purcell unter dem oben für Sonya Yoncheva beschriebenen Problem: Günter Papendell als sehr überzeugender, viriler Aeneas/Sailor scheint der einzige Vokalsolist gewesen zu sein, der im Vorfeld seine Töne gelernt hat und auch weiß, wie man mit Barockoper stilistisch umgeht. Die Sängerinnen durchwegs ein Ärgernis. Man sollte doch meinen, dass sie im Lockdown wenigstens Zeit zum Rollenstudium hatten. Aušrine Stundyté (Dido) konnte dann immerhin als Frau in Schönbergs Erwartung punkten.


    Ausgezeichnete Orchesterleistung in beiden Teilen (Dirigent: Andrew Manze), der Chor manchmal etwas grob, aber auch gut. Der Regisseur Krzysztof Warlikowski steckte die Sänger meist in ein modulares Tiny House am rechten Bühnenrand, was die Sichtbarkeit von den Rängen aus drastisch einschränkte (und vielleicht auch die Akustik). Das Münchner Publikum war trotzdem begeistert.

    "Wenn [...] mehrere abweichende Forschungsmeinungen angegeben werden, müssen Sie Stellung nehmen, warum Sie A und nicht B folgen („Reichlich spekulativ die Behauptung von Mumpitz, Dinosaurier im alten Rom, S. 11, dass der Brand Roms 64 n. Chr. durch den hyperventilierenden Hausdrachen des Kaisers ausgelöst worden sei. Dieser war – wie der Grabstein AE 2024,234 zeigt – schon im Jahr zuvor verschieden.“)."
    Andreas Hartmann, Tutorium Quercopolitanum, S. 163.

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