Bach, J. S.: Kantate Nr. 75 „Die Elenden sollen essen“
Am Samstag vor dem Trinitatisfest, dem 22. Mai 1723, erreichte Johann Sebastian Bach mit vier Wagen, die ihn, seine Familie und den Hausrat fuhren, seine neue Wirkungsstätte, die Universitätsstadt Leipzig. Sein Amt als Kantor und Director Musices trat in der folgenden Woche an und studierte die erste Leipziger Kantate ein (wenn man die Probestücke BWV 22 und BWV 23 nicht mitzählt). Die Gelehrten streiten, ob das Werk eventuell schon in Köthen entstanden sei. Christoph Wolff bejaht diese Möglichkeit in seiner Bach-Biographie, Tadashi Isoyama (im Beiheft der Suzuki-Einspielung) will aus der Handschrift des autographen Manuskripts große Eile erkennen und folgert, dass das Werk „inmitten des Durcheinanders nach der Übersiedlung nach Leipzig ausgeführt wurde“.
Die Besetzung ist eher klein, vier Vokalsolisten, vierstimmiger Chor, zwei Oboen, Streicher und B. c. – so etwas wie die Leipziger Standardbesetzung.
Dafür ist die Kantate mit 14 Sätzen außergewöhnlich lang. Außer der ebenso vielteiligen Kantate BWV 76, die für den folgenden Sonntag komponiert wurde, kommt keine (erhaltene) Bachsche Kirchenkantate auf diese Zahl. Wollte Bach einfach nur eine „Duftmarke“ setzen und den Leipzigern zeigen, wen sie bekommen hatten? Erste Wahl war er ja nicht gewesen und wusste das wohl auch. Oder – und diese Hypothese finde ich spannender – wollte er seine Erstlingswerke unterschreiben? B + A+ C + H = 2 + 1 + 3 + 8 = 14; diese Chiffrierung seines Namens hat Bach an prominenten Stellen seines Schaffens angebracht. Auch hier?
Mit dieser für den 1. Sonntag nach Trinitatis, den 30. Mai 1723 komponierten Kantate beginnt also der erste Leipziger Kantatenjahrgang Bachs. Wenig ist über das Feedback überliefert, das Bach für seine Werke in Leipzig erhielt, aber die „Acta Lipsiensium academica“, die Chronik der Universität, berichten: „Den 30. dito als am 1. Sonnt. nach Trinit. führte der neue Cantor u. Collegii Musici Direct. Hr. Joh. Sebastian Bach, so von dem Fürstl. Hofe zu Cöthen hieher kommen, mit gutem applausu seine erste Music auf.“ Trotz der falschen Amtsbezeichnung – Bach war (noch) nicht der Leiter eines der collegiorum musicorum, sondern der chori musici – kann man der Meldung zumindest entnehmen, dass sein Amtsantritt positiv gewürdigt wurde.
Der Dichter der Kantate ist unbekannt. Ihr Text orientiert sich eng am Evangelium des 1. Sonntags nach Trinitatis, Lk 16, 19-31, dem Gleichnis vom reichen Mann und Lazarus. Sie ist zweiteilig angelegt, der erste Teil wurde vor der Predigt, der zweite danach musiziert.
Erster Teil
Dem Eingangschor liegt Vers 27 aus dem 22. Psalm zugrunde.
Nr. 1 Chor
Die Elenden sollen essen, dass sie satt werden, und die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen. Euer Herz soll ewiglich leben.
Rezitativ Nr. 2 singt angesichts der eigenen Endlichkeit eine Absage auf den Reichtum dieser Welt.
Nr. 2 Rezitativ
Was hilft des Purpurs Majestät,
Da sie vergeht?
Was hilft der größte Überfluss,
Weil alles, so wir sehen,
Verschwinden muss?
Was hilft der Kitzel eitler Sinnen,
Denn unser Leib muss selbst von hinnen?
Ach, wie geschwind ist es geschehen,
Dass Reichtum, Wollust, Pracht
Den Geist zur Hölle macht!
Arie Nr. 3 nimmt die Motive des Rezitativs auf: „Purpur“ und „Freudenwein“ (pars pro toto für den Reichtum dieser Welt) sind Jesu „teures Blut“ und „seines Geistes Liebesglut“.
Nr. 3 Arie
Mein Jesus soll mein alles sein!
Mein Purpur ist sein teures Blut,
Er selbst mein allerhöchstes Gut,
Und seines Geistes Liebesglut
Mein allersüß'ster Freudenwein.
Nach diesen eher allgemeinen Aussagen wird der Text nun tagesspezifischer. Rezitativ Nr. 4 resümiert das Gleichnis vom reichen Mann und von Lazarus.
Nr. 4 Rezitativ
Gott stürzet und erhöhet
In Zeit und Ewigkeit.
Wer in der Welt den Himmel sucht,
Wird dort verflucht.
Wer aber hier die Hölle überstehet,
Wird dort erfreut.
Arie Nr. 5 nimmt die Position des gläubigen Christen ein: Leiden auf Erden wird „mit Freuden“ ertragen, da himmlische Belohnung winkt.
Nr. 5 Arie
Ich nehme mein Leiden mit Freuden auf mich.
Wer Lazarus' Plagen
Geduldig ertragen,
Den nehmen die Engel zu sich.
Rezitativ Nr. 6 erteilt die Absolution für den Genuss eines „kleinen Gutes“ (was immer „klein“ sein mag) und nennt den Tod nach „langer Not“ als „wohlgetan“.
Nr. 6 Rezitativ
Indes schenkt Gott ein gut Gewissen,
Dabei ein Christe kann
Ein kleines Gut mit großer Lust genießen.
Ja, führt er auch durch lange Not
Zum Tod,
So ist es doch am Ende wohlgetan.
„Wohlgetan“ ist die Steilvorlage für die Choralstrophe, die den ersten Teil beschließt. Es ist die fünfte Strophe des Liedes „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ von Samuel Rodigast (1649-1708). Mit der Gegenüberstellung von „bittrem Kelch“, der „zuletzt“ der Ergötzung weicht, passt sie trefflich.
Nr. 7 Choral
Was Gott tut, das ist wohlgetan;
Muss ich den Kelch gleich schmecken,
Der bitter ist nach meinem Wahn,
Lass ich mich doch nicht schrecken,
Weil doch zuletzt
Ich werd ergötzt
Mit süßem Trost im Herzen;
Da weichen alle Schmerzen.
Zweiter Teil
Nach dem dogmatisch akzentuierten ersten Teil wendet sich der zweite Teil der Lebenspraxis zu, oder, wenn man will, diskutiert die Ethik des Evangeliumstextes.
Zunächst erklingt als Nr. 8 eine Sinfonia, in der die Melodie des Chorals Nr. 7 abermals zu hören ist. Es folgt ein Rezitativ, das – rhetorisch sinnvoll – eine Antithese platziert: Wenn nun der Christ nicht nur durch Abwesenheit materieller Güter, sondern auch geistlich arm wäre, dann fehlte ihm die Kraft, das ewige Leben durch rechtes Verhalten auf Erden zu erlangen.
Nr. 9 Rezitativ
Nur eines kränkt
Ein christliches Gemüte:
Wenn es an seines Geistes Armut denkt.
Es gläubt zwar Gottes Güte,
Die alles neu erschafft;
Doch mangelt ihm die Kraft,
Dem überirdschen Leben
Das Wachstum und die Frucht zu geben.
Arie Nr. 10 entkräftet die Antithese durch Falsifizierung ihrer Voraussetzung: Jesus macht geistlich reich.
Nr. 10 Arie
Jesus macht mich geistlich reich.
Kann ich seinen Geist empfangen,
Will ich weiter nichts verlangen;
Denn mein Leben wächst zugleich.
Jesus macht mich geistlich reich.
Rezitativ Nr. 11 benennt, worin dieser Reichtum denn liegt: Die gläubige Seele hat, wenn sie sich selbst verleugnet und irdische Güter fahren lässt, ihr wahres Ich und Gott gefunden.
Nr. 11 Rezitativ
Wer nur in Jesu bleibt,
Die Selbstverleugnung treibt,
Dass er in Gottes Liebe
Sich gläubig übe,
Hat, wenn das Irdische verschwunden,
Sich selbst und Gott gefunden.
Arie Nr. 12 malt den Zustand der Seele, die ganz in Jesus bleibt: Ein Feuerfest der verschmelzenden Liebe.
Nr. 12 Arie
Mein Herze glaubt und liebt.
Denn Jesu süße Flammen,
Aus den' die meinen stammen,
Gehn über mich zusammen,
Weil er sich mir ergibt.
Rezitativ Nr. 13 schlägt den Bogen zum Anfang des Werkes und zum Evangelium des Sonntags mit einem Loblied auf die Armut, die zu Gott führt.
Nr. 13 Rezitativ
O Armut, der kein Reichtum gleicht!
Wenn aus dem Herzen
Die ganze Welt entweicht
Und Jesus nur allein regiert.
So wird ein Christ zu Gott geführt!
Gib, Gott, dass wir es nicht verscherzen!
Es folgt eine weitere Strophe des bereits begonnenen Chorals, hier die sechste und letzte; abermals wird gesagt, dass Not und Elend in die Arme Gottes führen.
Nr. 14 Choral
Dabei will ich verbleiben.
Es mag mich auf die rauhe Bahn
Not, Tod und Elend treiben;
So wird Gott mich
Ganz väterlich
In seinen Armen halten;
Drum lass ich ihn nur walten.
Hier die vierzehn Sätze der Kantate mit ihrer Besetzung:
Erster Teil
1. Chor „Die Elenden sollen essen“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Oboe I/II, Violine I/II, Viola, B. c.
2. Rezitativ „Was hilft des Purpurs Majestät“ – Bass, Violine I/II, Viola, B. c.
3. Arie „Mein Jesus soll mir alles sein“ – Tenor, Oboe I, Violine I/II, Viola, B. c.
4. Rezitativ „Gott stürzet und erhöhet“ – Tenor, B. c.
5. Arie „Ich nehme mein Leiden mit Freuden auf mich“ – Sopran, Oboe d’amore, B. c.
6. Rezitativ „Indes schenkt Gott ein gut Gewissen“ – Sopran, B. c.
7. Choral „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Oboe I/II, Violine I/II, Viola, B. c.
Zweiter Teil
8. Sinfonia – Trompete, Violine I/II, Viola, B. c.
9. Rezitativ „Nur eines kränkt ein christliches Gemüte“ – Alt, Violine I/II, Viola, B. c.
10. Arie „Jesus macht mich geistlich reich“ – Alt, Violine I/II, B. c.
11. Rezitativ „Wer nur in Jesu bleibt“ – Bass, B. c.
12. Arie „Mein Herze glaubt und liebt“ - Bass, Trompete, Violine I/II, Viola, B. c.
13. Rezitativ „O Armut, der kein Reichtum gleicht!“ – Tenor, B. c.
14. Choral „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Oboe I/II, Violine I/II, Viola, B. c.