Bach, J. S.: Kantate Nr. 188 „Ich habe meine Zuversicht“
Wir können uns freuen, dass zum einundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis nicht die üblichen drei, sondern vier Kirchenkantaten Bachs erhalten sind. BWV 188 ist die späteste dieses Quartetts. Doch die Überlieferung ist im wörtlichen Sinne fragmentarisch. Bachs autographe Partitur umfasste 18 Seiten im Folio-Format. Ein früher Possessor (Wilhelm Friedemann Bach?) hat offenbar die ersten zehn Seiten abgetrennt, denn diese sind verschollen. Auf diesen zehn Seiten war der größte Teil der einleitenden Sinfonia notiert. Mit dem verbleibenden Rest dieses Satzes kann man immerhin feststellen, dass es sich um eine Bearbeitung des dritten Satzes des Cembalokonzertes d-moll BWV 1052 für Orgel und Orchester handelte, dem drei Oboenstimmen hinzugefügt wurden.
Damit nicht genug: Von den verbleibenden acht Blättern sind nur vier als Ganzes überliefert. Zwei weitere Blätter wurden in jeweils zwei, die übrigen beiden in jeweils drei Streifen parallel zu den Notenlinien zerschnitten. Somit müsste es insgesamt vierzehn Fragmente der Partitur geben. Der größere Teil davon ist in Berlin, Paris, Washington, Wien, Eisenach und Petersburg sowie in mehreren Privatsammlungen zu besichtigen. Einige Streifen – genauere Informationen liegen mir nicht vor – sind verschollen.
Mit der Titelseite der Partitur ist auch die liturgische Bestimmung verschwunden, und der Text ist so allgemein gehalten, dass er keine direkten Anhaltspunkte liefert. Doch glücklicherweise kennt man den Librettisten von BWV 188, es war Christian Friedrich Henrici (1700-1764) alias Picander. In seinem Werk „Cantaten Auf die Sonn- und Fest-Tage durch das gantze Jahr“ ist die Dichtung dem 21. Sonntag nach Trinitatis zugeordnet. Da Picanders Jahrgang für 1728/29 bestimmt war, mag man vorsichtig vermuten, dass die Kantate erstmals am 17. Oktober 1728 aufgeführt wurde.
Das Evangelium des Sonntags war in Leipzig seinerzeit Joh 4, 47-54. Jesus kam abermals nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte. Und es war ein Mann im Dienst des Königs, dessen Sohn lag krank zu Kapernaum. Dieser hörte, dass Jesus aus Judäa nach Galiläa kam, und ging hin zu ihm und bat ihn, herabzukommen und seinem Sohn zu helfen; denn er war todkrank. Und Jesus sprach zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht. Der Mann sprach zu ihm: Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt! Jesus spricht zu ihm: Geh hin, dein Sohn lebt! der Mensch glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm sagte, und ging hin. Und während er hinabging, begegneten ihm seine Knechte, und sagten: Dein Kind lebt. Da erforschte er von ihnen die Stunde, in der es besser mit ihm geworden war. Und sie antworteten zu ihm: Gestern um die siebente Stunde verließ ihn das Fieber. Da merkte der Vater, dass es um die Stunde war, in der Jesus zu ihm gesagt hatte: Dein Sohn lebt. Und er glaubte mit seinem ganzen Hause. Das ist nun das zweite Zeichen, das Jesus tat, da er aus Judäa nach Galiläa kam.
Picander nahm diese Lesung zum Anlass, einen Text zu schreiben, der zu Gottvertrauen und Zuversicht in Not und Gefahr mahnt.
Der einleitenden Sinfonia folgt eine Arie über die Zuversicht auf Gott.
Nr. 2 Arie
Ich habe meine Zuversicht
Auf den getreuen Gott gericht,
Da ruhet meine Hoffnung feste.
Wenn alles bricht, wenn alles fällt,
Wenn niemand Treu und Glauben hält,
So ist doch Gott der allerbeste.
Rezitativ Nr. 3 begründet näher, warum diese Zuversicht angemessen ist: Er „meint es gut mit jedermann“, und selbst wenn einem „allergrößte Nöte“ widerfahren, so ist es ein Zeichen „seiner Liebe“. Die letzte Zeile ist von Gen 32, 27 übernommen („Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“).
Nr. 3 Rezitativ
Gott meint es gut mit jedermann,
Auch in den allergrößten Nöten.
Verbirget er gleich seine Liebe,
So denkt sein Herz doch heimlich dran,
Das kann er niemals nicht entziehn;
Und wollte mich der Herr auch töten,
So hoff ich doch auf ihn.
Denn sein erzürntes Angesicht
Ist anders nicht
Als eine Wolke trübe,
Sie hindert nur den Sonnenschein,
Damit durch einen sanften Regen
Der Himmelssegen
Um so viel reicher möge sein.
Der Herr verwandelt sich in einen grausamen,
Um desto tröstlicher zu scheinen;
Er will, er kann's nicht böse meinen.
Drum lass ich ihn nicht, er segne mich denn.
Die folgende Arie meditiert über die Unerforschlichkeit des Ratschlusses Gottes (Röm 11, 33b: „We unbegreiflich sind seine Gerichte und wie unerforschlich seine Wege!“). Schlussfolgerung: Auch unser Leiden dient uns nur „zu unserem Besten“.
Nr. 4 Arie
Unerforschlich ist die Weise,
Wie der Herr die Seinen führt.
Selber unser Kreuz und Pein
Muss zu unserm Besten sein
Und zu seines Namens Preise.
Vor dem Schlusschoral verweist Picander auf die zeitliche Begrenztheit weltlicher Macht und stellt ihr den ewigen Gott gegenüber.
Nr. 5 Rezitativ
Die Macht der Welt verlieret sich.
Wer kann auf Stand und Hoheit bauen?
Gott aber bleibet ewiglich;
Wohl allen, die auf ihn vertrauen.
Der Schlusschoral ist die erste Strophe des Liedes „Auf meinen lieben Gott“, dessen Autor unbekannt ist.
Nr. 6 Choral
Auf meinen lieben Gott
Trau ich in Angst und Not;
Er kann mich allzeit retten
Aus Trübsal, Angst und Nöten;
Mein Unglück kann er wenden,
Steht alls in seinen Händen
Hier die sechs Sätze von BWV 188 samt ihrer Besetzung im Überblick:
1. Sinfonia – Oboe I/II, Taille, Violine I/II, Viola, obligate Orgel, B. c.
2. Arie „Ich habe meine Zuversicht“ – Tenor, Oboe I, Violine I/II, Viola, B. c.
3. Rezitativ „Gott meint es gut mit jedermann“ – Bass, B. c.
4. Arie „Unerforschlich ist die Weise“ – Alt, obligate Orgel, B. c.
5. Rezitativ „Die Macht der Welt verlieret sich“ – Sopran, Violine I/II, Viola B. c.
6. Choral „Auf meinen lieben Gott“ – Sopran, Alt, Tenor, Bass, Oboe I/II, Taille, Violine I/II, Viola, B. c.