Was ist Romantik?
Meine Lieben,
Diese Frage ist in der allgemeinen Diskussion über die Befindlichkeiten unseres Forums aufgetaucht. Sicher birgt sie das Potential zu einem endlosen Austausch von Meinungen, denn eine klare, definitive Antwort läßt sich darauf natürlich nicht geben. Möglicherweise paßt das Thema (je nachdem, ob und wie sich daraus ein Gedankenaustausch entwickelt) auch nicht in dieses allgemeine Forumsfach. Wenn unsere Moderation es daher anderswohin verschiebt, habe ich nichts dagegen.
Da man bei solchen Erörterungen zwangsläufig immer wieder ins Theoretische gleitet, und weil man gerade bei einer solchen Fragestellung seitens der verschiedenen Kunstgattungen bzw. Wissenschaftsdisziplinen oft sehr verschiedene Antworten bekommt, könnte es auch passieren, daß sich der Thread totläuft oder in eine Spezialistendebatte mündet, was sicher nicht wünschenswert ist. Wir müssen also versuchen, den Spagat zwischen Verständlichkeit und intellektueller Vertiefung so zu schaffen, daß sich niemand ausgeschlossen fühlt (in meinen Anfängerseminaren habe ich den Studenten immer wieder gepredigt, daß es nur eine dumme Frage gibt, nämlich, die, die man nicht stellt). Ich nähere mich dem Thema als Kunsthistoriker, aber mit Blick über die Schranken meines engeren Fachs und mit dem Bewußtsein des kulturellen Ganzen.
Den Begriff "romantisch" verwendet man einerseits in einem allgemeinen Sinn, bei dem man sich je nachdem auf Stimmungsmäßiges, Abgehobenes, Unpräzises, Düsteres usw. bezieht, andererseits als Ausdruck besonderer und eingeengter Bedeutung. Wir benennen damit eine Epoche, die auf den Barock folgt. Als Epochenbegriff bleibt "Romantik" klarerweise verschwommen und läßt sich auch nicht genau abgrenzen, zumal es ja auch unter anderem eine "Neoromantik" (um 1900) gibt, die vermutlich nicht die letzte solche sein wird. Mir geht es im Moment um diesen Epochenbegriff - trotz aller seiner Unzulänglichkeit. Aber die trifft ja auf alle solche Epochenbegriffe zu. Niemand kann Gotik oder Barock wirklich exakt definieren, und es ist inzwischen eine Binsenweisheit, daß wir ganz andere historische Einteilungen treffen und mit diesen ebenso gut leben könnten. Nur wäre das keine prinzipielle Verbesserung, daher kann man ruhig bei den traditionellen Termini bleiben. Man muß sich nur darüber klar sein, daß das verbale Krücken sind, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Unsere Sprache ist nun einmal ein höchst unvollkommenes Mittel, die Welt zu erfassen, ganz zu schweigen von unserem beschränkten Verstand... Trotzdem scheint es so nützlich wie vergnüglich, das Denken an derlei Problemen zu schärfen und vielleicht ein paar Quentchen Erkenntnis daraus zu gewinnen.
Wie schon angedeutet, läßt sich Romantik nicht präzise definieren, denn sie ist geprägt durch Subjektivismus, Individualismus und ähnliche Phänomene, die sich der Verallgemeinerung möglichst entziehen. Das ist aber nur eine Seite des Ganzen, denn es besteht gleichzeitig sowohl ein Bedarf nach konkreter Repräsentation, was eine verständlcihe optische Botschaft bedingt, als auch ein Trachten nach dem Ewigen, Allgültigen, sei es zum Beispiel im Religiösen oder im Erlebnis der Natur. Dabei werden aber immer wieder die Grenzen zwischen der erfaßbaren Wirklichkeit und der unbegrenzten seelisch-spirituellen Dimension gequert. Friedrich Schlegel sprach von Transzendentalkunst. Bei manchen Künstlern (in der Malerei etwa bei Philipp Otto Runge) ist eine universale Transzendentalkunst angestrebt, universal zumindest in der Empfindung. Aber auch für die Literatur hat man das schon festgestellt: Das romantische Ich erweitert sich zur Welt, aber die Welt ist auch wieder im Ich eingekerkert, das Ich hat nichts außer sich selbst. (W. Brecht, 1925).
Viel leichter fällt es zu sagen, was Romantik nicht ist. Romantik ist kein Stil. Das führt uns freilich zu einer begrifflichen Erörterung von "Stil", ein Wort, das oft höchst mißverständlich gebraucht wird und vom Phänomen einer mehr oder weniger variierten Wiederkehr von Einzelformen, etwa als "Personalstil" oder "Impressionismus" bis zur Charakterisierung eines großen zeitlichen oder regionalen Zusammenhangs reicht. Da eine derartige Ausweitung den Begriff aber völlig entwertet, hat man zusätzliche Termini eingeführt, die eine genauere Unterteilung ermöglichen. Einen Stil kann ich wählen wie eine Tonart. Ich kann neogotisch bauen, impressionistisch malen, kubistisch formen, ich kann, nein man kann (ich kann's nicht) eine Fuge komponieren oder eine Oper, je nachdem, ob ich will oder es tunlich ist, man kann in C-Dur schwärmen oder eine komplizierte Tonart mit etlichen Kreuzen oder was weiß ich wählen.
Dem Stilbegriff übergeordnet ist der Modusbgeriff, der auch noch mit einer bewußt getroffenen Entscheidung korreliert. man kann frei wählen, ob man sich in Neostilen ("Revival", "Stilrepetition") ergeht - da gibt es ja zahlreiche Möglichkeiten - oder jede Assoziation an Vergangenes möglichst unterdrückt (ganz geht es sowieso nicht), ob ich klassizistisch baue (Klassizismen gibt es viele, am bekanntesten ist natürlich der romantische Klassizismus, aber es gibt auch diverse Barockklassizismen, einen Klassizismus des Strengen Historismus, einen Klassizimus um 1900, in den 1920er Jahren etc.etc.). Ein weiterer Modusbegriff ist auch "Biedermeier" (Biedermeier ist kein Stil, hat u.a. H.Wille 1967 betont). Modes are consistently a basis for the selection of style [Modi sind ständig die Grundlage für die Wahl von Stilen](Fr.Cummings, 1964).
Über dem Modusbegriff - wir bauen sozusagen eine Begriffspyramide auf - steht der Strukturbegriff. Er bezieht sich auf den geschlossenen Kern hinter den Einzelerscheinungen (die Formulierung stammt von H.Tietze, 1913, der das schon lange vor der Erfindung des Strukturbegriffs erkannte). Als solcher entzieht er sich einer exakten Beschreibung oder Definition, obwohl wir dieses Gemeinsame hinter den beschreibbaren Dingen durchaus empfinden können. Mit entsprechender Erfahrung vermag man ein Musikstück als von Mozart stammend zu identifizieren (der Kenner sagt: "ich höre es", der Wissenschaftler sagt "Ich tippe auf Mozart, weil..."). Man kann den Personalstil Mozarts in vielem ganz gut beschreiben. Mit entsprechendem Talent plus Erfahrung kann man aber auch sagen, das oder jenes Musikstück ist im 18.Jahrhundert entstanden und nicht im 17. Natürlich gibt es einzelne Ausreißer in der Entwicklung der Künste und oft erstaunlich frühe Einzelphänomene, aber die lassen wir jetzt beiseite.
Romantik ist jedenfalls ein Strukturbegriff, wurde früher aber nicht immer so verstanden. Ich erinnere mich an eine Tagung im Jahr 1973, bei der über Begriffe wie Klassizismus, Romantik, Historismus und andere diskutiert wurde. Ludwig Grote, einer der großen alten Männer der deutschen Kunstgeschichte, bildete den einen Pol. Er sah Romantik sozusagen als Unterabteilung des Klassizismus. Den anderen Pol bildete ich mit der genau umgekehrten Auffassung. Zu meiner Verblüffung identifizierte sich das Plenum (mit etlichen Größen der Kunstwissenschaft wie H.G.Evers oder R.Wagner-Rieger) mit meiner Position, äußerte sie aus Höflichkeit gegenüber Grote aber nur sanft oder privatim. Schließlich waren Worte ja auch nur das äußere Kleid von Vorgängen oder Erscheinungen, über die wir uns mit Grote ja in vielem einig waren.
In der Schule habe ich noch gelernt, daß der frühe Beethoven ein Romantiker war und dann (ja wann?) der Klassik zuzuordnen ist. Persönlichkeitsspaltung??? Heute müßte man eine solche Formulierung wohl mit etlichen Kommentaren relativieren, um sie nicht mißverständlich erscheinen zu lassen.
Das wären - nur für den Anfang - einige Gedankensplitter, in der romantischen Hoffnung, damit etwas loszutreten (über das, was "romantische Hoffnung" bedeutet, könnten wir natürlich auch lang und breit diskutieren).
Liebe Grüße
Waldi