BERNSTEIN, Leonard: Die New York Musicals - III) WEST SIDE STORY

  • BERNSTEIN, Leonard: Die New York Musicals - III) WEST SIDE STORY

    Wenn ich dieses Musical, das seit seiner Uraufführung das mit Abstand populärste Werk Leonard Bernsteins geworden und bis heute geblieben ist, nicht in einem eigenen Kapitel sondern als Teil seiner New York-Trilogie abhandele, dann nicht um das Interesse an den beiden früheren Werken zu steigern, sondern um darauf verweisen, wie tief die Wurzeln der Partitur dieses Werkes reichen, und wie weit zurück man gehen kann und sollte um eine Kontinuität nicht nur in Bernsteins Werk, sondern auch in seiner Beschäftigung mit dieser Stadt festzustellen. Dabei sollte man nicht übersehen, dass es noch ein weiteres dramatisches Musikstück Bernsteins gibt, das in diese Welt aus einer wiederum anderen Perspektive eintaucht, und zwar die Filmmusik zu Elia Kazans meisterhaftem ON THE WATERFRONT / DIE FAUST IM NACKEN. Meine erste Begegnung mit dieser Musik außerhalb des Films war auf einer Einspielung von Bernsteins selbst, sinnvollerweise gekoppelt mit den "Symphonic Dances from WEST SIDE TORY". Wenn man diese beiden Stücke so nah nebeneinander hört und kennen lernt, hört man schnell, warum, ich hier auf Zusammenhänge hinweise, die man kennen sollte, wenn man dieses populäre Werk richtig würdigen will. Die eigentliche Heldin dieses Musicals ist nämlich nicht (nur) die Maria als moderne Wiedergängerin von Shakespeares Julia, sondern die Vielfalt Stadt New York selbst, von der Bernstein mit einer bunten Palette von Puccinesker Opernmusik über lateinamerikanische Tanzrhythmen bis hin zum Free Jazz ein liebevoll-kritisches Tonbild malt. Aber zunächst zur Vorgeschichte:


    Schon 1949 hatte der Choreograph Jerome Robbins Bernstein den Vorschlag gemacht, Shakespeares „Romeo und Julia“ in das zeitgenössische New York zu verpflanzen und daraus ein Musical zu formen. In einer Weiterentwicklung ihrer Arbeit an ON THE TOWN sollte es Orchester, Gesang, Tanz und Schauspiel als gleichberechtigte Elemente der Erzählung und Charakterisierung vereinen. Bernstein, dem genau dies schon lange vorschwebte, war begeistert, und Robbins entwarf ein erstes Szenario, das noch „East Side Story“ hieß und einen jungen Katholiken mit einer Jüdin konfrontierte. Trotz Robbins’ unermüdlichem Drängen wurde das Projekt aber erst 1955 wieder aufgenommen. In der Zwischenzeit hatten sich die Bandenkriege auf die West Side verlagert, wo Alteingesessene und lateinamerikanische Einwanderer mit all ihren sozialen Problemen Haus an Haus wohnten. Der aktuelle Jugendprotest, der zeitgleich im Rock’n Roll und ersten Halbstarkenfilmen Ausdruck fand, wurde in das Geschehen integriert.


    Trotz Bernsteins Popularität und seinen früheren Erfolgen auf der Musicalbühne, war es nicht einfach, dieses bahnbrechende Musical zu fnanzieren, denn nicht nur hatte sich der mit Spannung erwartete CANDIDE ein Jahr zuvor als kommerzieller Misserfolg erwiesen, kein Mensch glaubte ernsthaft, dass ein tragisches Musical über das aktuelle New York genügend Publikumsinteresse finden und halten könne, denn die vergnügenssüchtigen Pauschaltouristen, die erst einen großen Erfolög am Broadway ausmachen, würden kaum dort hnein zu bekommen sein. So jedenfalls die irrenden Propheten.



    WEST SIDE STORY

    Musical in zwei Akten


    Gesangstexte Stephen Sondheim
    Buch Arthur Laurents nach einem Konzept von Jerome Robbins und Shakespeares Drama „Romeo and Juliet“
    Orchestrierung: Sid Ramin und Irvin Kostal.
    UA 26.9.1957 New York
    Auszeichnungen 3 Tony Awards von 7 Nominierungen
    DE 25.2.1968, Volksoper Wien


    Personen
    Tony ehemaliger Anführer der Jets (Tenor)
    Maria Puertoricanerin, Bernardos Schwester (Sopran)
    Riff Anführer der Jets (Singender Schauspieler u. Tänzer)
    Bernardo Anführer der Sharks (Schauspieler u. Tänzer)
    Anita Bernardos Freundin (Mezzosopran)
    Chino Marias Verlobter, ein Shark (Schauspieler)
    Doc Drugstorebesitzer (Schauspieler)
    Lt. Schrank Polizeileutnant (Schauspieler)
    Krupke Polizist (Schauspieler)


    Diesel, Baby John, A-Rab, Action, Snowboy, Big Deal, Gee-Tar, Mouthpiece, Tiger Jets (singende Tänzer)


    Graziella, Velma, Minnie, Anybodys ihre Mädchen (singende Tänzerinnen)


    Pepe, Indio, Luis, Anxious, Nibbles, Juano, Toro, Moose Sharks (singende Tänzer)
    Rosalia, Consuelo, Teresita, Francisca, Estella, Margherita ihre Mädchen (singende Tänzerinnen)


    Ort und Zeit: New Yorker West Side, Mitte der 1950er Jahre


    Prolog: Eine Folge getanzter Schlägereien etabliert die erbitterte Rivalität zweier Jugendgangs, auf der einen Seite die einst von Tony und Riff gegründeten Jets, welche die schon länger Einheimischen repräsentieren, und auf der anderen die von Bernardo geleiteten Sharks, vorwiegend Latinos aus Puerto Rico („Prologue“). Beide suchen vergeblich, eine Entscheidung um die Beherrschung des Viertels herbei zu führen.


    Erster Akt:
    Riff will sich der Hilfe Tonys versichern, denn wenn man einmal ein Jet ist, bleibt man immer einer („Jet Song“). Tony arbeitet indessen in einem Drugstore und hat eigentlich von den Kindereien genug. Er kann seinem Freund aber auch nichts abschlagen, und so ist er einverstanden, Riff beim gemeinsamen Tanzabend in der Turnhalle zu treffen. Er hofft, dass vielleicht da das Besondere geschieht, von dem er schon lange träumt („Something’s Coming – Etwas kommt“). Unterdessen wird Maria, die Schwester Bernardos, von dessen Freundin Anita in der Schneiderei, in der sie arbeiten, für ihren ersten New Yorker Tanzabend eingekleidet. Bernardo hatte sie kürzlich aus Puerto Rico kommen lassen um sie mit seinem Freund Chino zu verkuppeln. Maria, die noch nicht weiß, was Liebe ist, freut sich auf den Tanz.


    In der Turnhalle, die als neutraler Boden gilt, entwickelt sich aus der Gegnerschaft der beiden Gruppen ein furioser Tanzwettbewerb („Dance at the Gym“). Inmitten des Getümmels sehen sich Tony und Maria zum ersten Mal und verlieben sich ineinander („Meeting Scene“). Bernardo unterbricht ihren Tanz und schickt Maria wütend nach Hause. Riff mischt sich ein und fordert den Entscheidungskampf („Jump“). Man verabredet, die Kampfregeln in Docs Drugstore zu vereinbaren.


    Tony ist der Kampf nunmehr gleichgültig. Er irrt durch die Straßen und kann nur noch an Maria denken. Dabei gerät er in ihre Nachbarschaft. Er ruft sie auf den Balkon. Sie hat Angst, von ihrem Bruder erwischt zu werden (Melodram: „Balcony Scene“), lässt sich aber auf ein Gespräch ein, in dem sich beide ihre Liebe gestehen (Duett: „Tonight – Heut Nacht“). Indessen versammeln sich die Sharks auf dem Dach des Hauses. Die Jungen verspotten ihre Mädchen wegen ihrer Begeisterung für Amerika und zählen Realitäten ihres Lebens in New York auf. Die Mädchen halten dagegen, dass es nicht von ungefähr kommt, dass alle Welt aus Puerto Rico hierher auswandert (Ensemble: „America“).


    Die Jets erwarten die Sharks im Drugstore. Sie sind nervös und versuchen vergeblich, einander zu beruhigen („Cool“), was in einen frenetischen Tanz mündet („Fugue“). Bei der Planung des Entscheidungskampfs schlägt Tony ein Duell vor. Bernardo freut sich darauf, mit dem vermeintlichen Verführer seiner Schwester abrechnen zu können und stimmt zu. An Stelle von Tony nominiert sich aber Riff als sein Gegner. Bernardo kann nicht mehr zurück. Am nächsten Abend treffen sich Maria und Tony in der Schneiderei und stellen sich ihre Hochzeit vor („One Hand, One Heart – Eine Hand, ein Herz“). Tony verspricht Maria, den Kampf zu verhindern. Sie verabreden sich für später. Während beide das erneute Treffen kaum erwarten können, begeben sich die Gangs zum verabredeten Kampfort. Anita freut sich darauf, dass der Sex mit Bernardo nach einem Kampf immer besonders befriedigend ist (Quintett: „Tonight“). Als Tony ankommt, hat das Duell bereits begonnen. Tony versucht, Riff von dem Kampf abzubringen, lenkt dadurch aber dessen Konzentration ab, so dass Riff von Bernardo getötet wird. Entsetzt über den Tod seines Freundes, rächt Tony Riff und ersticht Bernardo. Ein allgemeiner Kampf setzt ein, aber nahende Polizeisirenen veranlassen alle zur Flucht.


    Zweiter Akt:
    Maria, die von dieser Entwicklung nichts ahnt, macht sich für Tony schön. Sie fühlt sich hübsch und ist glücklich. Ihre Freundinnen necken sie (Ensemble: „I Feel Pretty – Ich fühle mich hübsch“). Da kommt Chino hinzu und berichtet, dass Tony Marias Bruder umgebracht hat. Er greift sich Bernardos Pistole und macht sich auf die Suche nach Tony um seinen Freund zu rächen. Maria betet, als Tony durch ihr Fenster einsteigt und ihr berichtet, was geschehen ist. Sie glaubt ihm, dass er in Notwehr gehandelt hat, und beide gestehen einander erneut ihre Liebe (Ballettsequenz). Sie träumen davon, dass es irgendwo einen Ort gibt, in dem sie zusammen glücklich sein können (Scherzo). In ihrem Traum erscheint ein Mädchen und versichert ihnen, dass es einen solchen Ort des Friedens und der Ruhe gibt („Somewhere – Irgendwo“).


    Die Jets versuchen ihre Nervosität zu beruhigen, indem sie die Erwachsenen, verkörpert durch den Polizisten Krupke, verspotten („Gee, Officer Krupke“). Am folgenden Morgen klopft Anita an Marias Schlafzimmertür. Maria und Tony verabreden sich hastig im Drugstore, bevor er durch das Fenster enteilt. Anita merkt sofort, was geschehen ist, und wirft Maria vor, mit dem Mörder ihres Bruders geschlafen zu haben, einem Jungen, der nur das Eine von ihr will („A Boy Like That – Ein Kerl wie der“). Maria protestiert und überzeugt Anita davon, dass Tony und sie einander aufrichtig lieben („I Have a Love – Ich habe eine Liebe“). Nachdem sich ein Polizist bei ihnen nach Tony erkundigt hat, erklärt sich Anita bereit, zum Drugstore zu gehen und Tony zu warnen. Dort wird sie jedoch nur von den Jets erwartet, die an dem Flittchen von Riffs Mörder ihr Mütchen kühlen („Taunting Scene“). Hasserfüllt lügt Anita ihnen vor, Chino habe Maria getötet. Als Tony davon erfährt, will er sich von Chino erschießen lassen. Plötzlich entdeckt er Maria. Ungläubig rennt er auf sie zu und wird dabei von dem hinzu geeilten Chino erschossen. Verzweifelt kniet Maria neben ihm nieder und beschwört beider Traum (Reprise: „Somewhere“). Dann nimmt sie Chino die Pistole ab, bringt es aber nicht fertig, ihn ihrerseits zu töten. Betroffen finden die feindlichen Parteien erstmals zusammen um Tonys Leichnam davon zu tragen (Finale).


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    Das Werk musste bis zum Herbst 1957 fertig sein, denn danach stand Bernstein, der gerade Chefdirigent der New York Philharmonic geworden war, kaum mehr zur Verfügung. Unter diesem Zeitdruck entstand der Löwenanteil der Partitur im Sommer des Jahres. Die ersten Testvorführungen stießen auf Begeisterung. Diese setzte sich bei der offiziellen Broadwaypremiere fort. Das Werk wurde von nahezu allen Kritikern als ein Meilenstein in der Entwicklung des amerikanischen Musicals gefeiert und brachte es auf 732 Vorstellungen, zu denen bei der Wiederaufnahme im folgenden Jahr noch weitere 249 hinzu kamen. Es hätte sicher auch den Tony Award für das beste Musical gewonnen, wäre das Musical nicht im Jahr von „My Fair Lady“ herausgekommen. So blieben immerhin zwei für das Bühnenbild von Oliver Smith und die Choreographie von Jerome Robbins. Dessen Choreographie ist bis heute keineswegs veraltet und bleibt, jedenfalls außerhalb des reinen Balletts, als Ganzes unübertroffen. Dies wurde auch in London honoriert, wo das Werk bereits ein Jahr nach seiner Uraufführung anlief und es sogar auf 1039 Vorstellungen brachte.


    Bereits vier Jahre später errang die Verfilmung des Werkes durch Robert Wise und Jerome Robbins einen noch größeren Erfolg, der mit zehn Oscars gekrönt wurde und dem Musical weltweite Popularität einbrachte. Entgegen der üblichen Verfilmungspraxis blieb der Film seiner Vorlage relativ treu und verbesserte sie sogar durch sehr sinnvolle Umstellungen der Nummern „Gee, Officer Krupke“ und „Cool“. Seither hat sich das Musical im Bühnenrepertoire etabliert und wird gern von Tourneetheatern programmiert, welche in aller Regel die Originalinszenierung zu bewahren suchen.


    Die Musik


    Bernstein komponierte seine Partitur teilweise parallel zu „Candide“, und einige Nummern wanderten sogar von einem Projekt in das andere, etwa „One Hand, One Heart“ von „Candide“ zur „West Side Story“. Jahre später sollte „Oh Happy We“ den umgekehrten Weg gehen. Die eigentliche Meisterleistung des Stückes, mit der „West Side Story“ bis heute unerreicht bleibt, ist die dennoch bruchlose Integration der verschiedenen Kunstformen, die bereits bei seiner Uraufführung gewürdigt wurde. Bei aller Verschiedenheit der EInflüsse, die sich in dem Stück leicht ortenlassen, fasziniert die Einheitlichkeit des Werkes, das wie aus einem Guss wirkt. Eine solch starke Handschrift haben nur wenige Komponisten. Heute, nachdem zahlreiche spätere Werke die von diesem Musical erstmals begangenen Pfade ausgetreten haben, kann man sich kaum mehr vorstellen, wie viel Mut es seinerzeit von den Schöpfern und nicht zuletzt von den Investoren des Werkes erfordert hat, so konsequent vorzugehen.


    Der Kern dieses großen Wurfs ist die unauffällig strenge Kompositionsarbeit Bernsteins, die kaum glauben lässt, dass sie über einen langen Zeitraum hinweg und zwischen sehr verschiedenen Arbeiten als Stückwerk entstand. Tatsächlich gehen alle musikalischen Einfälle des Werkes auf ein Thema, fast ein einziges Klangintervall zurück, nämlich eine verminderte Quinte, eine der schärfsten Dissonanzen der tonalen Leiter. Es springt den Hörer gleich in den ersten Takten des Stücks mehrfach an und entwickelt sich dann zu dem Leitmotiv der Jets. Später kehrt es in fast nicht mehr erkennbarer Form als zärtliche Vertonung des Wortes Maria und als Ausdruck des Liebesrauschs in „Tonight“ zurück. In der Tanznummer „Cool“ mutet Bernstein seinem harmoniesüchtigen Publikum sogar eine Zwölftonreihe im Free Jazz-Klang zu, die sich aus dem Leitmotiv der Jets entwickelt. Wer sich von Bernsteins Kompositionskunst überzeugen will, braucht sich nur die Virtuosität vor Ohren zu führen, mit der er sein Grundmotiv einsetzt um die unterschiedlichen Stimmungslagen des Quintetts „Tonight“ auszudrücken und zusammen zu führen. Dabei berücksichtigt er sogar noch, dass es sich ungeachtet der fünf singenden „Parteien“ eigentlich um ein Terzett mit Doppelchor handelt, da er hier jeden, sonst sorgsam heraus gearbeiteten, Unterschied zwischen Jets und den Sharks aufhebt und beide als gewaltlüstern kennzeichnet.


    Aber genug der Vorabanalyse. Mich würde interessieren, wie Ihr zu diesem außerordentlichen Werk steht, und woran es liegen könnte, dass die Klassikfreunde so wenig Versuche unternehmen, einmal herauszufinden, ob in dem Genre nicht noch mehr steckt als Bernsteins große Würfe.


    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Nun also zu den Einspielungen dieses Musicals, zu dem sonst leider niemandem viel einzufallen scheint:


    Vom Preis abgesehen (aber dafür kriegt man auch den Film) nur aus einem Grund empfehlenswert ist diese Aufnahme:



    Der Grund aber hat es in sich, denn er heißt Barbara Bonney. Es ist wirklich jammerschade um ihre überragende Maria, die ich der Bernstein-Aufnahme gewünscht hätte, da sie die ideale Mischung zwischen wunderbarem Gesang und glaubhaft jugendlicher Gestaltung des Mädchens Maria verkörpert. Jammerschade, dass man sie kaum je ohne Michael Ball zu hören bekommt, dessen am Mikrophonschluchzical geschulter Vortrag alles verhunzt. Bonneys Rollenportrait allein ist die Aufnahme wert, die man ansonsten allenfalls wegen ihrer vorbildlichen Vollständigkeit als konkurrenzfähig ansehen kann. Barry Wordsworth lässt das Royal Philharmonic Orchestradie Partitur korrekt, aber erschreckend farb- und leblos durchbuchstabieren. LaVerne Williams ist eine ordentlich, aber bemüht gestaltende Altistin, die zudem Bonney im Duett ins Opernhafte drängt, was diese sonst gut vermeidet. Der Riff von Christopher Howard ist der schwächste aller Alternativen, und die übrigen können nur so gut sein, wie der Dirigent es zulässt.


    Deutlich besser, aber beileibe nicht frei von Problemen ist Leonard Bernsteins eigene Einspielung:



    Sie ist deutlich teurer, aber der Aufpreis lohnt sich, denn die Edition enthält die vorzügliche Dokumentation der Aufnahmesitzungen, die sonst allein schon 25 Euro kostet.


    Der größte Pluspunkt ist natürlich Leonard Bernsteins Dirigat, denn niemand sonst holt so viel aus einer Bernstein-Partitur heraus wie Lenny, aber den problematischen Drang zur Oper muss er sich - auch als Komponist - anlasten lassen. Kiri Te Kanawas Maria ist eine problematisch opernhafte Besetzung, aber mit der Einschränkung singt sie fast optimal und wird nur von Barbara Bonney übrtroffen, die ihr das Element der Jugend und eine deutlich bessere Vertrautheit mit der Welt des Musicals voraus hat. Dagegen ist der Tony von José Carreras ein Fehlgriff in jeder Hinsicht. Nicht nur, dass er mit seinem spnaischen Akzent das absolute Gegenteil eines Tony ist, auch seine Gesangsleistung ist, milde gesagt, problematisch. Dagegen schafft es die Anita der Tatjana Troyanos sogar, das Musical in der Oper zu erhalten. Anders als der Riff Kurt Ollmanns hat sie hat allerdings auch die stärkste Konkurrenz. Der Superlativ dieser Aufnahme sind die übrigen, mit Marilyn Hornes "Somewhere", das zwar, wie fast alle Solonummern, zu nahe bei der Oper angesiedelt, ansonsten aber tadellos ist, vor allem aber mit den hinreißenden Chorensembles.


    Was hätte das mit einer adäquateren Besetzung für eine fantastische Aufnahme werden können! Bernstein verkennt leider den Charakter und mindert die besondere Qualität seines superben Musicals, wenn er daraus einen Puccini-Abklatsch machen will. Allein die unidiomatische Besetzung des Tony ist fast unverzeihlich, aber auch Kiri Te Kanawa erscheint deplatziert, wie man an den Passagen merkt, in denen Bernstein das amerikanische Milieu voll zur Geltung bringt. Trotzdem ist diese Aufnahme dem reinen Soundtrack des Films allemal vorzuziehen.


    Dort hört man nämlich Johnny Greenes aufgeblähte und zuweilen zum Süßlichen hin veränderte Orchestrierung. Seine Tempi aber sind fast durchweg sehr gut bis mitreißend, z.B. im "Tonight"- Quintett. Die Maria Natalie Woods wurde, wie später auch die "Fair Lady" Audrey Hepburns, von Marni Nixon gedoubelt, und allein diese "Vielseitigkeit" verrät viel über die Charakterlosigkeit der Stimme. Ihre professionelle, aber farblose Darbietung ist schwer mit Natalie Woods intensiver Darstellung in Einklang zu bringen oder (für mich) ganz von dieser zu lösen, aber im reinen Hörvergleich mit Carol Lawrence in der Broadway-Aufnahme lassen sich deutliche Qualitätsunterschiede in der Charakterisierung ausmachen. Richard Beymer fand später selbst seine darstellerische Leistung als Tony so grottenschlecht, wie sie tatsächlich war, aber er wird durch seine Singstimme gerettet - oder Jimmy Bryant von Beymers Darstellung beeinsträchtigt, je nachdem. Auf den Soundtracjk reduziert, ist sie sehr ordentlich, mehr aber auch nicht. Mit der Anita Rita Morenos und dem Riff Russ Tamblyns hatte man wenigstens den Nebenrollen die eigenen Stimmen belassen, und das zahlt sich aus. Rein stimmlich bleibt aber doch ein Klassenunterschied zu Troyanos und Ollmann.


    Eigentlich braucht man also den Soundtrack nicht erwerben, aber man bekommt ihn neuerdings in dieser Edition der ersten und immer noch besten Aufnahme, nämlich dem originalen Broadway-Soundtrack gleich mit:




    Dem originalen Broadway Orchester fehlt allenfalls die gelegentliche Raffinesse eines Spitzenorchesters und -dirigenten wie Bernstein selbst, aber Max Gobermans Tempo und Einfühlungsvermögen stimmen vollkommen, denn hier wird perfektes Theater geboten. Das beginnt bei der Maria von Carol Lawrence, die ein superbes Rollenportrait bietet, auch wenn Bonney die exponierten Töne noch besser meistert. Hier wird die Rolle einmal nicht von einer Sängerin verkörpert, sondern singt ein wirkliches - wenn auch hochbegabtes - Mädchen. Warum man sie nicht wenigstens als Synchronstimme für den Film eingesetzt hat, ist mir schleierhaft. Das um so mehr, als sie hervorragend mit Larry Kert harmoniert, dem ersten und immer noch besten Tony auf Tonträgern. Geschulte Opernsänger mögen ihn in der Tonproduktion übertreffen, obwohl die auch sehr gut ist, aber er verkörpert die Rolle und singt sie nicht nur. Der dritte große Pluspunkt der Aufnahme ist die Anita von Chita Rivera. Dank ihrer Bühnenerfahrung in dieser Rolle ist sie noch ein Stück glaubhafter als Troyanos, die allerdings noch besser singt. Auch der Riff von Art Smith ist absolut überzeugend, und zudem ist er auch noch der mit Abstand textverständlichste Riff. Klagen über die übrigen wären unangebracht, aber im Orchester und der Rasanz der Ensembles haben Bernstein und, trotz der aufgeblasenen Instrumentation, auch der Filmsoundtrack natürlich hörbare Vorteile.


    Bleibt natürlich noch der Film selbst, der trotz der angeführten Nachteile auf dem rein musikalischen Sektor neben dem unmittelbaren eigenen Erlebnis im Theater immer noch der beste Weg ist, mit diesem Musical vertraut zu werden:



    Bei diesem Film, der mich seit meiner Jugend immer wieder begeistert und bei der Erstaufführung eine anhaltende Schwärmerei für Natalie Wood ausgelöst hat, kann ich nur schwer objektiv sein. Der gelegentliche Hang zum Kitsch, den der Regisseur Robert Wise zu verantworten hat, wird durch die Leistung seine Choreographen und Co-Regisseurs Jerome Robbins mehr als ausgebügelt, dessen Inzenierung der Tanzsequenzen bis heute maßstäblich ist.Erst viel später haben mir andere Aufnahmen gezeigt, dass der musikalische Teil zwar sehr gut, aber beileibe nicht optimal realisiert ist. Schade, dass man aus urheberrechtlichen Gründen noch lange auf eine andere DVD des vollständigen Musicals wird warten müssen, aber die Messlatte für eine solche liegt mit diesem Film zum Glück auch enorm hoch. Solange es sie gibt, kann ich übrigens nur dringend zum Erwerb der gezeigten Collector's Edition raten, denn die hat neben dem besten Ausgangsmaterial auch ein vorzügliches "Making Of" mit Proben der Gesangsstimme von Natalie Wood (gar nicht so schlecht, aber in der Tat nichts für wiederholtes Hören) und anderen sowie als grandioses Extra ein kommentiertes Drehbuch mit dem Gesamttext. Eine der besten DVD-Editionen überhaupt.


    Da, angefangen von Bernsteins eigenen "Symphonic Dances", kaum ein anderes zeitgenössisches Bühnenwerk so viele musikalische Varianten und Ableger hervorgebracht hat wie die WEST SIDE STORY, stellen diese noch ein weiteres interessantes Kapitel zu dem Werk dar, dem ich mich ein andermal widmen möchte.


    Vorab aber die Frage, da ich seit den genannten keine der neueren Aufnahmen kenne: welche von denen kennt Ihr und könnt Ihr noch empfehlen? Und warum das?


    [Blockierte Grafik: http://www.tamino-klassikforum.at/images/smilies/gruss.gif] Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Heut Nacht, heut Nacht!

    Also, da kann ich jetzt nicht schweigen.


    Rideamus hat ja Recht, die richtige Übersetzung von "Tonight" sind die obigen Wörter. Ich habe die Aufnahme auf Deutsch mit Adolf Dallapozza, den ich übrigens wirklich mag, auch daheim. Ich bin froh, daß ich mir die "Westside Story" nie live auf Deutsch anhören "mußte", ich meine jetzt im Theater.


    Dieses Lied z.B. ins Deutsche übersetzt zu hören ist unsäglich für mich, es nimmt allen Zauber weg, einfach furchtbar. Ich weiß, das war vor Jahrzehnten ja üblich, ich denke auch mit Grauen an "Kiss me Kate" mit Howard Keel, wo in unseren Kinos deutsche Sänger sangen.



    Liebe Grüße aus München


    Kristin :wink: :wink: :wink:

    Vom Ernst des Lebens halb verschont ist der schon der in München wohnt (Eugen Roth)

  • Zum Verständnis der letzten Anmerkung fehlt leider die Vorgeschichte, die ab hier zu lesen ist: WEILL: Street Scene – Broadway-Oper par excellence.


    Ich schrieb da u. a.: ... ob "Heut' Nacht! Heut' Nacht!" nicht doch die einzig richtige Übersetzung von "Tonight! Tonight!" ist ... , darüber ließe sich trefflich diskutieren ...

    Ansonsten hat Musikkristin natürlich Recht. Übersetzte Musicaltexte sind fast immer unsäglich, weswegen Stephen Sondheim, der Texter der WEST SIDE STORY, sich auch notorisch weigert, Übersetzungen seiner Songtexte zu sanktionieren. Leider sind sie aber anscheinend bei uns unvermeidlich, wenn man für Musicalaufführungen mit vielen gesprochenen Dialogen Publikum bekommen will. Noch leiderer tut es mir deshalb vor allem, dass Übersetzungen immer so schnell verfertigt werden müssen und dann aus Lizenzgründen kaum mehr zu verbessern sind, wenn sie einmal gedruckt wurden.


    Im konkreten Fall hätte ich nach reiflicher Überlegung auch nicht für "Heut' Nacht" plädiert, sondern vielleicht eine klanglich adäquate Lösung um die Worte "Zu zweit" und/oder "Bereit" versucht. Wenn man sich zwischen Sinn und Klang entscheiden muss, ist der Sinn zwar meist die näher liegende, nicht immer jedoch die bessere Alternative.


    Aber das ist fast schon wieder ein anderes Thema.


    :wink: Rideamus

    Ein Problem ist eine Chance in Arbeitskleidung

  • Lieber Rideamus,


    im Eifer des Gefechtes habe ich wirklich übersehen, den Bezug herzustellen, sorry und danke, daß Du es gemacht hast.


    Ich möchte noch bemerken, daß es in den 50er-Jahren auch Musical-Verfilmungen gab, bei denen der Original-Gesang erhalten blieb, z.B. "Oklahoma", das lief ca. 1/2 Jahr bei uns in München und keiner hat sich gestört, daß "Oh what a beautiful morning" gesungen wurde. Ich kann mich leider nicht mehr erinnern, ob es damals schon deutschsprachige Untertitel gab.
    Aber im Theater war das natürlich eine andere Sache und wohl eher nicht möglich.


    Liebe Grüße


    Kristin um Mitternacht :wink: :wink:

    Vom Ernst des Lebens halb verschont ist der schon der in München wohnt (Eugen Roth)


  • Von 27.6. bis 2.7.2013 entstand in der Davies Symphony Hall in San Francisco eine Live-Komplettaufnahme von Leonard Bernsteins „West Side Story“ unter der musikalischen Leitung von Michael Tilson Thomas (2 CDs SFS Media SFS 0059). Wie Bernsteins eigene Aufnahme aus dem Jahr 1984 sind hier auch die musikuntermalten Dialogpassagen und die wesentlichen Tanzsequenzen berücksichtigt. Es ist meinem Hörempfinden nach eine beeindruckende Modellaufnahme des Musicals – kraftvoll, mit lebendigem Drive, musikdramatisch packend. Das betrifft alles Instrumentale, vom grandios getimten San Francisco Symphony mit tollem Orchesterklang in seiner ganzen Vielschichtigkeit eingefangen (der Prolog, die Tänze, die „Cool“-Fuge, der Kampf, die Traumsequenz), die Soli (Tonys „Something Coming“ und „Maria“ genauso wie Marias „I Feel Pretty“ und „I Have A Love“) und die Duette (Tony/Maria und Maria/Anita) wie erst recht die mitreißenden Ensembles (vom „Jet Song“ über „America“ und „Tonight“ bis zu „Gee, Officer Krupke“). Die Besetzung mit ausgebildeten seriösen Musicalstimmen sorgt für vokale Authentizität – Alexandra Silber als Maria, Cheyenne Jackson als Tony, Jessica Vosk als Anita, bei „Somewhere“ das Girl Julia Bullock sowie das ganze weitere Ensemble fügen sich zu einem geschlossen hochkarätigen Gesamteindruck. Akustisch besticht der großartige offene Raumklang. Die Seriosität des Aufnahmeprojekts wird mit der Buch-Bookletgestaltung unterstrichen, mit Grußworten von Jamie Bernstein (die die Verbundenheit des Dirigenten mit der Bernstein-Familie herausstreicht) und Rita Moreno, mit einer bebilderten geschichtlichen Einführung und mit den kompletten Lyrics. Zwei winzige Kritikpunkte schmälern den Gesamteindruck einer, wenn nicht „der“ Modellaufnahme des Werks für mich keineswegs: Als konzertante Liveaufnahme deklariert, wird jeglicher Applaus ausgespart (auch sonst ist kein Husten etc. zu hören), und ganz am Schluss, wenn die Katastrophe perfekt ist, wenn Tony stirbt und Maria ihn verzweifelt verabschiedet, singen die beiden so engelsrein wie zuvor, ungleich mehr (schon) verklärt als (noch) gebrochen.


    Demnächst hier mehr, zum Spielberg Film und Soundtrack.

    Herzliche Grüße
    AlexanderK

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