BERNSTEIN, Leonard: Die New York Musicals - III) WEST SIDE STORY
Wenn ich dieses Musical, das seit seiner Uraufführung das mit Abstand populärste Werk Leonard Bernsteins geworden und bis heute geblieben ist, nicht in einem eigenen Kapitel sondern als Teil seiner New York-Trilogie abhandele, dann nicht um das Interesse an den beiden früheren Werken zu steigern, sondern um darauf verweisen, wie tief die Wurzeln der Partitur dieses Werkes reichen, und wie weit zurück man gehen kann und sollte um eine Kontinuität nicht nur in Bernsteins Werk, sondern auch in seiner Beschäftigung mit dieser Stadt festzustellen. Dabei sollte man nicht übersehen, dass es noch ein weiteres dramatisches Musikstück Bernsteins gibt, das in diese Welt aus einer wiederum anderen Perspektive eintaucht, und zwar die Filmmusik zu Elia Kazans meisterhaftem ON THE WATERFRONT / DIE FAUST IM NACKEN. Meine erste Begegnung mit dieser Musik außerhalb des Films war auf einer Einspielung von Bernsteins selbst, sinnvollerweise gekoppelt mit den "Symphonic Dances from WEST SIDE TORY". Wenn man diese beiden Stücke so nah nebeneinander hört und kennen lernt, hört man schnell, warum, ich hier auf Zusammenhänge hinweise, die man kennen sollte, wenn man dieses populäre Werk richtig würdigen will. Die eigentliche Heldin dieses Musicals ist nämlich nicht (nur) die Maria als moderne Wiedergängerin von Shakespeares Julia, sondern die Vielfalt Stadt New York selbst, von der Bernstein mit einer bunten Palette von Puccinesker Opernmusik über lateinamerikanische Tanzrhythmen bis hin zum Free Jazz ein liebevoll-kritisches Tonbild malt. Aber zunächst zur Vorgeschichte:
Schon 1949 hatte der Choreograph Jerome Robbins Bernstein den Vorschlag gemacht, Shakespeares „Romeo und Julia“ in das zeitgenössische New York zu verpflanzen und daraus ein Musical zu formen. In einer Weiterentwicklung ihrer Arbeit an ON THE TOWN sollte es Orchester, Gesang, Tanz und Schauspiel als gleichberechtigte Elemente der Erzählung und Charakterisierung vereinen. Bernstein, dem genau dies schon lange vorschwebte, war begeistert, und Robbins entwarf ein erstes Szenario, das noch „East Side Story“ hieß und einen jungen Katholiken mit einer Jüdin konfrontierte. Trotz Robbins’ unermüdlichem Drängen wurde das Projekt aber erst 1955 wieder aufgenommen. In der Zwischenzeit hatten sich die Bandenkriege auf die West Side verlagert, wo Alteingesessene und lateinamerikanische Einwanderer mit all ihren sozialen Problemen Haus an Haus wohnten. Der aktuelle Jugendprotest, der zeitgleich im Rock’n Roll und ersten Halbstarkenfilmen Ausdruck fand, wurde in das Geschehen integriert.
Trotz Bernsteins Popularität und seinen früheren Erfolgen auf der Musicalbühne, war es nicht einfach, dieses bahnbrechende Musical zu fnanzieren, denn nicht nur hatte sich der mit Spannung erwartete CANDIDE ein Jahr zuvor als kommerzieller Misserfolg erwiesen, kein Mensch glaubte ernsthaft, dass ein tragisches Musical über das aktuelle New York genügend Publikumsinteresse finden und halten könne, denn die vergnügenssüchtigen Pauschaltouristen, die erst einen großen Erfolög am Broadway ausmachen, würden kaum dort hnein zu bekommen sein. So jedenfalls die irrenden Propheten.
WEST SIDE STORY
Musical in zwei Akten
Gesangstexte Stephen Sondheim
Buch Arthur Laurents nach einem Konzept von Jerome Robbins und Shakespeares Drama „Romeo and Juliet“
Orchestrierung: Sid Ramin und Irvin Kostal.
UA 26.9.1957 New York
Auszeichnungen 3 Tony Awards von 7 Nominierungen
DE 25.2.1968, Volksoper Wien
Personen
Tony ehemaliger Anführer der Jets (Tenor)
Maria Puertoricanerin, Bernardos Schwester (Sopran)
Riff Anführer der Jets (Singender Schauspieler u. Tänzer)
Bernardo Anführer der Sharks (Schauspieler u. Tänzer)
Anita Bernardos Freundin (Mezzosopran)
Chino Marias Verlobter, ein Shark (Schauspieler)
Doc Drugstorebesitzer (Schauspieler)
Lt. Schrank Polizeileutnant (Schauspieler)
Krupke Polizist (Schauspieler)
Diesel, Baby John, A-Rab, Action, Snowboy, Big Deal, Gee-Tar, Mouthpiece, Tiger Jets (singende Tänzer)
Graziella, Velma, Minnie, Anybodys ihre Mädchen (singende Tänzerinnen)
Pepe, Indio, Luis, Anxious, Nibbles, Juano, Toro, Moose Sharks (singende Tänzer)
Rosalia, Consuelo, Teresita, Francisca, Estella, Margherita ihre Mädchen (singende Tänzerinnen)
Ort und Zeit: New Yorker West Side, Mitte der 1950er Jahre
Prolog: Eine Folge getanzter Schlägereien etabliert die erbitterte Rivalität zweier Jugendgangs, auf der einen Seite die einst von Tony und Riff gegründeten Jets, welche die schon länger Einheimischen repräsentieren, und auf der anderen die von Bernardo geleiteten Sharks, vorwiegend Latinos aus Puerto Rico („Prologue“). Beide suchen vergeblich, eine Entscheidung um die Beherrschung des Viertels herbei zu führen.
Erster Akt:
Riff will sich der Hilfe Tonys versichern, denn wenn man einmal ein Jet ist, bleibt man immer einer („Jet Song“). Tony arbeitet indessen in einem Drugstore und hat eigentlich von den Kindereien genug. Er kann seinem Freund aber auch nichts abschlagen, und so ist er einverstanden, Riff beim gemeinsamen Tanzabend in der Turnhalle zu treffen. Er hofft, dass vielleicht da das Besondere geschieht, von dem er schon lange träumt („Something’s Coming – Etwas kommt“). Unterdessen wird Maria, die Schwester Bernardos, von dessen Freundin Anita in der Schneiderei, in der sie arbeiten, für ihren ersten New Yorker Tanzabend eingekleidet. Bernardo hatte sie kürzlich aus Puerto Rico kommen lassen um sie mit seinem Freund Chino zu verkuppeln. Maria, die noch nicht weiß, was Liebe ist, freut sich auf den Tanz.
In der Turnhalle, die als neutraler Boden gilt, entwickelt sich aus der Gegnerschaft der beiden Gruppen ein furioser Tanzwettbewerb („Dance at the Gym“). Inmitten des Getümmels sehen sich Tony und Maria zum ersten Mal und verlieben sich ineinander („Meeting Scene“). Bernardo unterbricht ihren Tanz und schickt Maria wütend nach Hause. Riff mischt sich ein und fordert den Entscheidungskampf („Jump“). Man verabredet, die Kampfregeln in Docs Drugstore zu vereinbaren.
Tony ist der Kampf nunmehr gleichgültig. Er irrt durch die Straßen und kann nur noch an Maria denken. Dabei gerät er in ihre Nachbarschaft. Er ruft sie auf den Balkon. Sie hat Angst, von ihrem Bruder erwischt zu werden (Melodram: „Balcony Scene“), lässt sich aber auf ein Gespräch ein, in dem sich beide ihre Liebe gestehen (Duett: „Tonight – Heut Nacht“). Indessen versammeln sich die Sharks auf dem Dach des Hauses. Die Jungen verspotten ihre Mädchen wegen ihrer Begeisterung für Amerika und zählen Realitäten ihres Lebens in New York auf. Die Mädchen halten dagegen, dass es nicht von ungefähr kommt, dass alle Welt aus Puerto Rico hierher auswandert (Ensemble: „America“).
Die Jets erwarten die Sharks im Drugstore. Sie sind nervös und versuchen vergeblich, einander zu beruhigen („Cool“), was in einen frenetischen Tanz mündet („Fugue“). Bei der Planung des Entscheidungskampfs schlägt Tony ein Duell vor. Bernardo freut sich darauf, mit dem vermeintlichen Verführer seiner Schwester abrechnen zu können und stimmt zu. An Stelle von Tony nominiert sich aber Riff als sein Gegner. Bernardo kann nicht mehr zurück. Am nächsten Abend treffen sich Maria und Tony in der Schneiderei und stellen sich ihre Hochzeit vor („One Hand, One Heart – Eine Hand, ein Herz“). Tony verspricht Maria, den Kampf zu verhindern. Sie verabreden sich für später. Während beide das erneute Treffen kaum erwarten können, begeben sich die Gangs zum verabredeten Kampfort. Anita freut sich darauf, dass der Sex mit Bernardo nach einem Kampf immer besonders befriedigend ist (Quintett: „Tonight“). Als Tony ankommt, hat das Duell bereits begonnen. Tony versucht, Riff von dem Kampf abzubringen, lenkt dadurch aber dessen Konzentration ab, so dass Riff von Bernardo getötet wird. Entsetzt über den Tod seines Freundes, rächt Tony Riff und ersticht Bernardo. Ein allgemeiner Kampf setzt ein, aber nahende Polizeisirenen veranlassen alle zur Flucht.
Zweiter Akt:
Maria, die von dieser Entwicklung nichts ahnt, macht sich für Tony schön. Sie fühlt sich hübsch und ist glücklich. Ihre Freundinnen necken sie (Ensemble: „I Feel Pretty – Ich fühle mich hübsch“). Da kommt Chino hinzu und berichtet, dass Tony Marias Bruder umgebracht hat. Er greift sich Bernardos Pistole und macht sich auf die Suche nach Tony um seinen Freund zu rächen. Maria betet, als Tony durch ihr Fenster einsteigt und ihr berichtet, was geschehen ist. Sie glaubt ihm, dass er in Notwehr gehandelt hat, und beide gestehen einander erneut ihre Liebe (Ballettsequenz). Sie träumen davon, dass es irgendwo einen Ort gibt, in dem sie zusammen glücklich sein können (Scherzo). In ihrem Traum erscheint ein Mädchen und versichert ihnen, dass es einen solchen Ort des Friedens und der Ruhe gibt („Somewhere – Irgendwo“).
Die Jets versuchen ihre Nervosität zu beruhigen, indem sie die Erwachsenen, verkörpert durch den Polizisten Krupke, verspotten („Gee, Officer Krupke“). Am folgenden Morgen klopft Anita an Marias Schlafzimmertür. Maria und Tony verabreden sich hastig im Drugstore, bevor er durch das Fenster enteilt. Anita merkt sofort, was geschehen ist, und wirft Maria vor, mit dem Mörder ihres Bruders geschlafen zu haben, einem Jungen, der nur das Eine von ihr will („A Boy Like That – Ein Kerl wie der“). Maria protestiert und überzeugt Anita davon, dass Tony und sie einander aufrichtig lieben („I Have a Love – Ich habe eine Liebe“). Nachdem sich ein Polizist bei ihnen nach Tony erkundigt hat, erklärt sich Anita bereit, zum Drugstore zu gehen und Tony zu warnen. Dort wird sie jedoch nur von den Jets erwartet, die an dem Flittchen von Riffs Mörder ihr Mütchen kühlen („Taunting Scene“). Hasserfüllt lügt Anita ihnen vor, Chino habe Maria getötet. Als Tony davon erfährt, will er sich von Chino erschießen lassen. Plötzlich entdeckt er Maria. Ungläubig rennt er auf sie zu und wird dabei von dem hinzu geeilten Chino erschossen. Verzweifelt kniet Maria neben ihm nieder und beschwört beider Traum (Reprise: „Somewhere“). Dann nimmt sie Chino die Pistole ab, bringt es aber nicht fertig, ihn ihrerseits zu töten. Betroffen finden die feindlichen Parteien erstmals zusammen um Tonys Leichnam davon zu tragen (Finale).
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Das Werk musste bis zum Herbst 1957 fertig sein, denn danach stand Bernstein, der gerade Chefdirigent der New York Philharmonic geworden war, kaum mehr zur Verfügung. Unter diesem Zeitdruck entstand der Löwenanteil der Partitur im Sommer des Jahres. Die ersten Testvorführungen stießen auf Begeisterung. Diese setzte sich bei der offiziellen Broadwaypremiere fort. Das Werk wurde von nahezu allen Kritikern als ein Meilenstein in der Entwicklung des amerikanischen Musicals gefeiert und brachte es auf 732 Vorstellungen, zu denen bei der Wiederaufnahme im folgenden Jahr noch weitere 249 hinzu kamen. Es hätte sicher auch den Tony Award für das beste Musical gewonnen, wäre das Musical nicht im Jahr von „My Fair Lady“ herausgekommen. So blieben immerhin zwei für das Bühnenbild von Oliver Smith und die Choreographie von Jerome Robbins. Dessen Choreographie ist bis heute keineswegs veraltet und bleibt, jedenfalls außerhalb des reinen Balletts, als Ganzes unübertroffen. Dies wurde auch in London honoriert, wo das Werk bereits ein Jahr nach seiner Uraufführung anlief und es sogar auf 1039 Vorstellungen brachte.
Bereits vier Jahre später errang die Verfilmung des Werkes durch Robert Wise und Jerome Robbins einen noch größeren Erfolg, der mit zehn Oscars gekrönt wurde und dem Musical weltweite Popularität einbrachte. Entgegen der üblichen Verfilmungspraxis blieb der Film seiner Vorlage relativ treu und verbesserte sie sogar durch sehr sinnvolle Umstellungen der Nummern „Gee, Officer Krupke“ und „Cool“. Seither hat sich das Musical im Bühnenrepertoire etabliert und wird gern von Tourneetheatern programmiert, welche in aller Regel die Originalinszenierung zu bewahren suchen.
Die Musik
Bernstein komponierte seine Partitur teilweise parallel zu „Candide“, und einige Nummern wanderten sogar von einem Projekt in das andere, etwa „One Hand, One Heart“ von „Candide“ zur „West Side Story“. Jahre später sollte „Oh Happy We“ den umgekehrten Weg gehen. Die eigentliche Meisterleistung des Stückes, mit der „West Side Story“ bis heute unerreicht bleibt, ist die dennoch bruchlose Integration der verschiedenen Kunstformen, die bereits bei seiner Uraufführung gewürdigt wurde. Bei aller Verschiedenheit der EInflüsse, die sich in dem Stück leicht ortenlassen, fasziniert die Einheitlichkeit des Werkes, das wie aus einem Guss wirkt. Eine solch starke Handschrift haben nur wenige Komponisten. Heute, nachdem zahlreiche spätere Werke die von diesem Musical erstmals begangenen Pfade ausgetreten haben, kann man sich kaum mehr vorstellen, wie viel Mut es seinerzeit von den Schöpfern und nicht zuletzt von den Investoren des Werkes erfordert hat, so konsequent vorzugehen.
Der Kern dieses großen Wurfs ist die unauffällig strenge Kompositionsarbeit Bernsteins, die kaum glauben lässt, dass sie über einen langen Zeitraum hinweg und zwischen sehr verschiedenen Arbeiten als Stückwerk entstand. Tatsächlich gehen alle musikalischen Einfälle des Werkes auf ein Thema, fast ein einziges Klangintervall zurück, nämlich eine verminderte Quinte, eine der schärfsten Dissonanzen der tonalen Leiter. Es springt den Hörer gleich in den ersten Takten des Stücks mehrfach an und entwickelt sich dann zu dem Leitmotiv der Jets. Später kehrt es in fast nicht mehr erkennbarer Form als zärtliche Vertonung des Wortes Maria und als Ausdruck des Liebesrauschs in „Tonight“ zurück. In der Tanznummer „Cool“ mutet Bernstein seinem harmoniesüchtigen Publikum sogar eine Zwölftonreihe im Free Jazz-Klang zu, die sich aus dem Leitmotiv der Jets entwickelt. Wer sich von Bernsteins Kompositionskunst überzeugen will, braucht sich nur die Virtuosität vor Ohren zu führen, mit der er sein Grundmotiv einsetzt um die unterschiedlichen Stimmungslagen des Quintetts „Tonight“ auszudrücken und zusammen zu führen. Dabei berücksichtigt er sogar noch, dass es sich ungeachtet der fünf singenden „Parteien“ eigentlich um ein Terzett mit Doppelchor handelt, da er hier jeden, sonst sorgsam heraus gearbeiteten, Unterschied zwischen Jets und den Sharks aufhebt und beide als gewaltlüstern kennzeichnet.
Aber genug der Vorabanalyse. Mich würde interessieren, wie Ihr zu diesem außerordentlichen Werk steht, und woran es liegen könnte, dass die Klassikfreunde so wenig Versuche unternehmen, einmal herauszufinden, ob in dem Genre nicht noch mehr steckt als Bernsteins große Würfe.
Rideamus