Erwin Schulhoff (1894–1942)
Hallo,
ich habe gesehen, es gibt bereits einen Thread zum mir am Herzen liegenden Viktor Ullmann. Ein anderer der zahlreichen Menschen, die
der Barbarei zum Opfer fielen und an die sich postum noch erinnert werden kann, weil sie nicht vergessen wurden, ist Erwin Schulhoff.
Er war einer der, scheint mir, umtriebigsten Komponisten seiner Zeit. Hie und da mag man ihn z. B. als einen der frühen „Integratoren“
des Jazz in die Sphäre der europäischen Kunstmusik denken; irgendwo bei Adorno (ich weiß nicht mehr, wo) findet Schulhoff lakonisch
als „Dadaist“ Erwähnung (das ist wirklich die einzige Klassifizierung, die Adorno vornimmt, und, soweit ich weiß, auch das einzige Mal,
dass er überhaupt von ihm spricht – kenne aber den Zusammenhang nicht mehr), solche Kürze zeugt wohl von einem besonderen Grad
an Ungnade; vielleicht ist auch dem einen oder anderen Schulhoffs Oratorium auf Grundlage des Kommunistischen Manifests bekannt.
Solche Schlagworte wie Jazz, Dadaismus und Marxismus lassen sich nun nur schlecht unter einen Begriff subsumieren, der sich auf die
historische Person Schulhoff anwenden ließe. Natürlich war bzw. betrieb er alles davon, und sogar noch mehr: Ebenso lassen sich
Hinwendungen zum Expressionismus wie zum Klassizismus verzeichnen; mit Alban Berg pflegte er einen sehr herzlichen Briefkontakt,
Paul und Rudolf Hindemith brachten einige von Schulhoffs Kompositionen zur Uraufführung.
Diese Schwierigkeit der Kategorisierung ist ein Charakteristikum Schulhoffs. Einige Zeitgenossen bemühten sich ja durchaus, durch
bestimmte künstlerische Errungenschaften als Dieser oder Jener von der Geschichtsschreibung festgehalten zu werden. Schulhoff z. B.
einen „Dadaisten“ zu nennen, wie es Adorno tut, das greift zu kurz, weil Schulhoffs Interesse an der Dada-Bewegung die wenigen Jahre
seines Lebens betrifft, die er in Dresden verbrachte. Späterhin wandte er sich wieder anderem zu. Und auch wenn nur der Schulhoff
von 1919–1922 gemeint wäre, selbst dann träfe ein solches Abstempeln höchstens zur Hälfte zu:
Schulhoff, der 1894 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Prag geboren worden war und bereits sehr früh ein privates Klavierstudium
am dortigen Konservatorium aufgenommen und zwischenzeitlich seine Studien in Wien und in Leipzig fortgesetzt hatte (u. a. in Komposition
bei Max Reger), erreichte Dresden im Jahr 1919, nachdem er seit August 1914 an der Front der österreichischen Armee zu dienen gehabt hatte.
In Dresden partizipierte Schulhoff an einem Künstlerfreundeskreis, dem u. a. der Dresdener Maler Otto Griebel angehörte, und auch der
berühmte Otto Dix gehörte zu dieser lockeren Gruppe.
Schulhoff begann sehr früh, sich öffentlich für die Pflege der zeitgenössischen Musik einzusetzen. In sogenannten „Fortschritts-Konzerten“,
die Schulhoff organisierte und auch als Virtuose z. T. selbst am Klavier ausführte, standen Werke von Berg, Schönberg, Webern, Scott,
Skrjabin auf dem Programm, aber auch für die Aufführung von Schulhoffs eigenen Kompositionen bot sich hier ein geeigneter Rahmen. Zur
Umsetzung gelangen insbesondere solistische und kleiner besetzte kammermusikalische sowie Liedkompositionen.
Schulhoff setzte große Erwartungen in das revolutionäre Potential der modernen Musik und attestierte ihr das Vermögen zur Erneuerung des
zur Dekadenz verkommenen bürgerlichen Musiklebens. Hier kündigt sich schon an, was Schulhoff Zeit seines Lebens bewahren würde,
nämlich eine Art von Klassenkampf, – den er allerdings mit unterschiedlichen Mitteln zu betreiben beliebte.
Gleichzeitig zu seinen Ambitionen, das Musikleben zu erneuern und v. a. die expressionistischen Kompositionen zu verbreiten, lernte
Schulhoff die „Lehren“ des Dadaismus kennen (womöglich war er es sogar, der, nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin und Kontakt mit
George Grosz, einige Schriften mit nach Dresden brachte und somit Dada dort erst bekannt machte). Als Dadaist begriff Schulhoff sich nicht
nur als Fechter wider das romantisierte Bürgertum, gegen Beethoven-Apotheose und idealistisches Kunstbild, sondern auch als einen
scharfen Kritiker der expressionistischen Bewegung, allen voran Schönbergs, dem er vorwarf, die Revolution zu ästhetisieren.
Schulhoff schuf zu dieser Zeit Stücke wie die Fünf Pittoresken für Klavier oder Bassnachtigall für Solo-Kontrafagott, Kompositionen, die
einer explizit dadaistischen Agenda stehen. Mit außerordentlichem musikalischen Feingespür nimmt Schulhoff alle noch so niet- und nagelfesten
etablierten musikalischen Errungenschaften aufs Korn, die zentralen Feindbilder sind aber Sentimentalismus wie Rationalismus (e. g. Wiener Schule).
Lohnenswert ist z. B. ein Blick auf das dritte Stück der Fünf Pittoresken, das ausschließlich aus Pausen (in völlig obskuren rhythmischen
Anordnungen) und einigen graphischen Beigaben besteht. – Das ist wirklich eine Fundgrube, und der Teufel (also Schulhoff) steckt da
besonders im Detail.
Ein integraler Bestandteil dieser dadaistischen Bestrebungen ist zudem Schulhoffs intensive Auseinandersetzung mit Jazz, wovon v. a.
die Fünf Pittoresken, die Ironien für Klavier zu vier Händen, oder auch die Suite für Kammerorchester zeugen. Im Fall der Suite handelt
es sich z. B. um eine Abfolge amerikanischer Tanzsätze (was wir ja auch von Hindemith kennen, e. g. Suite „1922“), die, natürlich ganz nach
Schulhoff'scher Manier und auch im Sinne der Zeit, ihrer eigentlichen Klangsprache z. T. erheblicher Verfremdungen unterzogen werden.
Jazz hieß für Schulhoff, der verknöcherten und bornierten Bourgeoise eine mit ihren schlagenden Rhythmen und verzerrenden Synkopen
erotisch-ekstatische Musik zu präsentieren, etwas Perverses gleichsam, das die Tradition der Musik des Geistes aufbrechen und an ihre Stelle
eine Musik des nackten Körpers einsetzen wollte. Von entsprechender Explizität sind dann auch Schulhoffs Kompositionen der frühen 20er Jahre.
Das Interessante ist ja, dass Schulhoff hier zweigleisig fährt. Während er einerseits in den „Fortschritts-Konzerten“ das revolutionäre Potential
der neuen Musik auszuschöpfen bestrebt war, fiel er parallel über sprichwörtlich alles her, sozusagen auch über sich selbst (obwohl er sich
von der Kritik immer ausnahm, zumindest kenne ich keine Selbstkritik Schulhoffs), und machte aus aller Musikkultur einen einzigen universalen
Ulk. Diese Paradoxie ist etwas, das Schulhoff für mich besonders lohnenswert macht, denn indem er weder systematisch noch orthodox
verfährt, spielt er schonungslos mit der Rezeptions- und Erwartungshaltung des öffentlichen Lebens und schafft wirklich astreine Persiflagen,
die trotz allem Schabernack von enormer Musikalität zeugen und sein bemerkenswertes Gespür für das musikalische Detail demonstrieren.
Schulhoffs Interesse am Jazz ist allerdings nicht auf seine wenigen dadaistischen Jahre limitiert. Nachdem der Dadaismus vorerst wieder
von der Bühne verschwunden war, verlor auch Schulhoff sein Interesse daran; die Vorliebe für Jazz blieb bestehen. Nunmehr galt es aber
nicht mehr, das bürgerliche Musikleben mit Synkopen in die Pfanne zu hauen, sondern jetzt hieß es für ihn, den „banalen“ Jazz vermittelst
des europäischen Tonsatzes zu „veredeln“. Ganz großartige Kompositionen, die unter diesen Vorzeichen entstanden, sind z. B. die
Suite danseante en jazz für Klavier oder die etwas bekanntere Hot-Sonate für Altsaxophon und Klavier. Hier zeigt sich, dass Schulhoff einen
außerordentlich feinsinnigen Umgang mit dem Jazzidiom pflegt und dass er diese Musik in ihrer Wirkungskraft verstanden hat.
Erwin Schulhoff begab sich 1924 wieder nach Prag, wo er fortan freischaffend tätig war. Er machte sich als Pianist und Komponist gleichermaßen
einen Namen, kämpfte aber auch gleichzeitig ums Überleben, denn seine Eltern unterstützten seine Hinwendung zum „Musikbolschewismus“
nicht im Geringsten und verweigerten ihm die finanzielle Unterstützung.
Nach dem Einfall der Deutschen in Böhmen und Mähren 1939 und der Errichtung des Protektorats, verschlechterte sich Schulhoffs
Situation rapide. 1941 wurde er mit seinem Sohn ins bayerische KZ Wülzburg deportiert, wo er kein Jahr später, im August 1942, starb.
Vielleicht konnte ich ja mit meinen einführenden Worten den einen oder anderen von euch aufmerksam oder gar neugierig auf diesen Komponisten machen.
Einige CDs, die ich gern empfehle:
Viel Spaß beim Reinhören!