Valentin Silvestrov - Metamusik und Postsymphonien

  • Valentin Silvestrov - Metamusik und Postsymphonien

    Der 1937 geborene ukrainische Komponist Valentin Silvestrov dürfte der bekannteste lebende Komponist seines Landes sein. Sein Vita liest sich ähnlich wie die der Zeitgenossen Schnittke, Gubaidulina, Denisov und Kancheli. Big Trouble mit dem sowjetischen Komponistenverband in den 60er und 70er Jahren, weil Anschluss an die westliche Avantgarde gesucht wurde. Dann im Rahmen von Glasnost und Perestroika zunehmend Verbreitung und Anerkennung im Westen, Abwendung von der Avantgarde und Entwicklung eines eigenen Stils.
    Die Musik, die Silvestrov komponiert, wird durch die Symphonien 4 und 5 exemplarisch demonstriert. Beide entstanden noch zu Sowjetzeiten.
    Die vierte Symphonie entstand 1976. Das 25-minütige Werk besteht aus einem Satz, einer Art Adagio. Nur Streicher und Bläser. Die Musik ist weitestgehend tonal, verwendet aber durchaus auch avantgardistische Techniken. Über einen langsamen - teils an Minimal Music erinnerten Puls- entwickelt sich die Musik, die selten über ein Mezzoforte hinauskommt. Die Musik klingt oft wie durch einen Nebel oder aus weiter Ferne herüberkommend. Dadurch hat man immer wieder das Gefühl nicht Musik, sondern Erinnerung an Musik zu hören, eben Metamusik. Zum Ende hin erstirbt die Musik langsam und verklingt im Nichts. Das ist Musik, die man konzentriert und in Ruhe hören muss. Dann entwickelt sie einen tranceartigen Sog.
    Das Lahti SO unter Jukka Pekka Saraste sind kompetente Anwälte für diese Musik.


    Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.

  • Das klingt ja sehr interessant. Später hier mehr von meiner Seite.

    ... Alle Menschen werden Brüder.
    ... We need 2 come 2gether, come 2gether as one.
    ... Imagine there is no heaven ... above us only sky

  • Mein erster Höreindruck bestätigt oben gesagtes:


    Einfach nur klasse, wie hier mit einer "metamusikalisch" daherkommenden Art mit "avantgardistischen Techniken" geschriebene Reihen in ein minimalistisch anmutendem Ganzen vereint werden. Diese Musik übt in der Tat einen starken Sog aus, dem man sich nicht entziehen kann - da gibt es noch sehr viel beim mehrmaligem Hören zu entdecken. Die Besetzung tut dazu ihr Übriges. Eine Bereicherung!!!

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  • Das Werk hat mich ja sofort gepackt. Kommt somit meiner - zugegeben etwas bequemen - Hörgewohnheit sehr entgegen.


    Nun, beim konzentrierten zweiten Hördurchgang muss ich gestehen, dass ich seit langem nicht mehr so was schönes und spannendes Neues gehört habe.


    Vielen, vielen Dank für die Empfehlung hier, dafür liebe ich unser Forum so sehr :klatsch: :klatsch: :klatsch: :juhu: :juhu: :juhu:

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  • Jaaaa, man sollte Werke nicht nach dem ersten flüchtigen Hören beurteilen. Ich hatte den Silvestrov schon mal vor Wochen auf dem Schirm, weil gerade die 4. in einem Artikel im Zusammenhang mit Pavlova empfohlen wurde. Einmal durchgehört und naja... Die 3. von Pavlova (ich glaube sogar, eine Schülerin von Silvestrov) fand ich sofort ansprechend, der Silvestrov, naja, den habe ich erst mal abgelegt.


    Aber der liebe Ingo hat mich aufgrund seiner positiven Resonanz dann doch zum Nachdenken gebracht, und ich habe mir das Werk heute noch mal vorgenommen. Und jaaa- nach zweimaligem Hören finde ich die gut! Die Musik zieht einen schon in den Bann. Und das verlöschen am Schluß - großartig!


    Auf jeden Fall eine Entdeckung!

    Was heißt hier modern? Betonen Sie das Wort mal anders! Richard Strauss

  • Silvestrov 4


    Das einsätzige Werk beginnt mit einigen heftigen Klangballungen in den Streichern, die sich dann zunächst ein wenig beruhigen, ehe sich dann immer mehr eine sehr prägnante schnelle rhythmische Reihenpassage herausschält, die sich dann in fast schon sirenenartigen Fanfaren der Blechbläser entlädt. Es folgt ein entrückter sehr ruhiger durchaus melodischer Teil mit herausgestellter, aber sehr zurückhaltend gespielter Solovioline. Diese Passage wird anfänglich nur ganz leicht, später dann aber immer mehr von der Rhythmusfigur unterbrochen. Diese steigert sich dann über mehrere Reihenebenen erneut zur Fanfare, die jetzt aber bedeutend prägnanter und melodischer ausfällt, als beim ersten Mal. Dann wieder diese wunderschöne wie aus der Ferne klingende liebliche Melodie in den Streichern, die sich jetzt aber langsam durch mehrere Reihenebenen immer intensiver und vielschichtiger emporschraubt, ehe sie wieder in die diesmal besonders strahlend gespielte Fanfare mündet. Danach beginnt die Musik zunächst kaum merklich, dann aber immer mehr zu entrücken, um schliesslich ganz friedlich zu verstummen.


    :juhu: :juhu: :juhu:

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  • Silvestrov 5


    Gerade läuft mein erster Hördurchgang. Auch hierbei bin ich sofort hingerissen. Diesmal ist es eine sehr mystische, fast schon verklärte Schönheit, die mich bei dieser Symphonie fesselt.


    Die Musik von diesem Komponisten gefällt mir immer besser !!!

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  • Die Fünfte lässt mich nicht mehr los.


    Nach einem schroffen Beginn schält sich immer mehr eine wunderschöne lange Melodie heraus, die zunächst zurückhaltend, aber dennoch ausgiebig vorgestellt wird. Sehr schön dabei das Umspielen des musikalischen Geschehens mit einer lieblichen Harfe. Auch die zurückhaltende Solovioline ist hier wieder kurz präsent. Dann wandelt sich die Musik zu einem Dialog zwischen rhytmischen Reihen und eben dieser Melodie, die dabei stets die Oberhand behält, was der Komponist mit entsprechenden lautstarken Fanfarenstössen bekräftigt.. Ich kann nur staunen, wie gekonnt hier dieser Zwist ausgetragen wird. Dann entspannt sich die Musik um sich wieder mehr der Lyrik der Melodielinie widmen zu können. Die Einwürfe der Reihen werden immer weniger bis sich dann die Melodie in aller Herrlichkeit voll entfalten darf. Am Ende wird die Musik immer mystischer, ehe die Symphonie friedlich verstummt.


    :verbeugung1: :verbeugung1: :verbeugung1: :verbeugung1: :verbeugung1: :verbeugung1:

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  • Wie Monolithen stehe sie bisweilen da, die tiefen mächtigen Blechbläserfanfaren inmitten in einem tosenden Meer von Rhythmus und Reihen.

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  • Immer wieder bin ich Gidon Kremer dankbar, dass er mich mit seinen CD-Veröffentlichungen zu Musikrichtungen verführt, die mir sonst verborgen geblieben wären.


    Im Februar 1995 führte er mit den Münchener Philharmonikern unter Roman Kofmann Silvestrovs "Widmung" auf. Das Werk von 1990/91 dauert ca. 40 Minuten und wird als Sinfonie für Violine und Orchester bezeichnet.



    Im Beiheft (der Originalausgabe dieser CD, ich weiß nicht ob die oben gezeigte Wiederveröffentlichung den Text auch noch hat) gibt es einen Beitrag von Kremer zu Silvestrov. Darin heißt es:


    "Das Genre, dem die Widmung zuzuordnen ist, könnte man wahrscheinlich als eine Hommage an die Romantik bezeichnen und als den nostalgischen Versuch, ihr wieder neues Leben einhauchen zu wollen. Dieser Versuch wirkt hoffnungslos, und doch gelingt es Valentin, am Rande des Unmöglichen, nicht nur mit der Romantik zu spielen, sondern sie neu zu erfühlen. Diese ganze Problematik ist in der Musik Silvestrovs hörbar und entspricht in gewisser Weise auch dem, was ich in der modernen Musik suche."


    Diese Vagheit passt zu Silvestrovs Komposition. Mir wird nirgends deutlich, was und ob überhaupt etwas an dem Werk hörenswert ist. Kremer spielt beeindruckend - aber auch distanziert und eben vage. Die Behauptung im weiteren Beitrag von Tatjana Frumkis über Silvestrov in dem Beiheft, im zweiten Satz erklinge in der Solovioline "ganz deutlich" ein "Schubertsches, in A-Dur gestaltetes pastorales Thema..." halte ich für eine ziemliche Anmaßung - gegenüber Schubert. Von dem ist mir jedenfalls nichts so Banales bekannt.


    Im weiteren Text des Essays zum Komponisten lässt sich Kremer ausführlich über seine (?) Erfahrung mit anderen Komponisten aus, bei denen Passagen "in einer schier unendlich scheinenden Zahl von technischen Anweisungen stecken bleiben" und man - gemeint ist anscheind mehr als der Interpret - "unwillkürlich nach dem Sinn dieser Kompliziertheit und ob vieles nicht einfacher niederzuschreiben gewesen wäre" frage. Beim Anhören von Silvestrovs "Widmung" habe ich mich vielmehr gefragt, warum der Komponist so häufig in Dissonanzen ausweicht - durchgängige Musak-Atmosphäre wäre angemessener gewesen. An irgend einer Stelle meinte ich eine - sicherlich nur ganz vage - Assoziation an Bergs Violinkonzert zu hören. Ich weiß nicht, ob Berg in seiner Partitur eine "schier unendlich scheinde Zahl von technischen Anweisungen" untergebracht hat. Doch Bergs Umgang mit dem Bach-Choral kommt mir im Vergleich zu dem unmotivierten Schwanken zwischen nichtssagender Melodik und atonalen Ausflüchten bei Silvestrov völlig einfach und schlüssig vor.


    Zum letzten Satz bemerkt Kremer dann: "Als ich die Widmung auf dem Aufnahmeband, das zur Veröffentlichung vorlag, hörte, rief ich spontan "Tod in Venedig" und fügte nach einer kleinen Pause hinzu. "Genauer: Tod in Kiew". Vielleicht klang das provokativ, aber es war keine versteckte Anspielung oder ein Vorwurf. Der Satz hätte auch von Valentin selbst kommen können Es ist kein Versuch, diesem Werk irgendeine grelle oder banale Erklärung zu geben. in der Musik Silvestrovs gibt es tatsächlich etwas von Mahler, dessen Musik den ganzen Film Viscontis durchdringt. Sie ist wie eine Totenmesse für das, was existiert, wünschenswert, unerreichbar oder nur in der Phantasie zu erlangen ist."

    Tatsächlich: Mahler "existiert" als Produkt der Kulturindustrie, dessen Musik den ganzen Film Viscontis durchdringt. Für "wünschenswert" halte ich das nicht. Dass der ganze letzte Satz von Silvestrovs Werk von einer unsäglich gedehnten Adagietto-Persiflage durchtränkt ist, ist allerdings ohne jede "Phantasie" zu erkennen - wenn es erst beim Abhören des Aufnahmebands auffällt, ist das kein gutes Zeichen für den Interpreten. Zum Werk fällt mir danach nichts mehr ein. Es ist für mich "unerreichbar".


    ich frage mich allerdings noch, wie es wohl klänge, wenn es nicht mit dem riesigem Hall aufgenommen wäre, den die CD-Aufnahme auszeichnet. Als Test-Aufnahme für die Raumwirkung einer Stereo-Anlage gut geeignet. Aufgeblasener Kommerz.


    Die geradezu "uerreichbare" oder "nur in der Phantasie zu erlangende" Hallwirkung gibt es übrigens auch in einer neueren Aufnahme eines Silvestrov-Werks mit Kremer. Das Anfangsstück "Dedication to J.S.B.
    for violin and echo sound" findet sich auf der neueren Veröffentlichung Kremers "The Art of Instrumentation: Homage to Glenn Gould". Hier erzeugt - anscheinend elektronisch manipuliert - ein Vibraphon den unsäglichen "echo sound". Gould hat diese "Homage" nicht mehr erleben müssen und Bach zwar wohl wenig Unfähigeres aber auch sonst schon viel Unbill ertragen müssen.


    (Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Ich werde auch weiter Aufnahmen von Gidon Kremer hören und halte z.B. seinen Schubert oder auch Berg für sehr beachtlich.)





  • Zwischen Silvestrovs 3. Sinfonie und den späteren liegen Welten. Die Dritte wurde 1968 in Darmstadt (vermutlich im Rahmen der Tage für Neue Musik) unter Leitung von Bruno Maderna uraufgeführt. Dass die späteren Sinfonien auf avantgardistischen Veranstaltungen erklingen, dürfte wohl ausgeschlossen sein. Da gibt es wohl einen echten Bruch (eine „Abkehr von der Avantgarde“, wie es in diesem Thread weiter oben steht. ) Ich hätte fast die Neigung zu sagen, dass der neue Stil sich irgendwie als Hintergrundmusik für „Wellness Einrichtungen“ eignet. Diese späteren Werke wurden oben recht zutreffend charakterisiert. Ganz ähnlich schreibt Frans Lemeire (La musique du XXe siecle en Russie): „Silvestrov schreibt Werke von faszinierender verinnerlichter Intensität in einem post-mahlerischen Lyrismus. Sie scheinen die Widersprüche der Welt überstiegen und den Künstler mit seinem Schicksal versöhnt zu haben“ (S. 475; meine Übers.) . Lemeire führt weiter aus, dass die "Konzentration auf ein so schmales expressives Register die Musik zu einer gewissen Monotonie verurteilen kann". Es ist aber wohl gerade dieses monotone „schmale expressive Register“, das die „Sogwirkung“ erzeugt, die so typisch für Silvestrovs Musik zu sein scheint. Mahlers berühmtes Adagietto aus der 5. Sinfonie scheint für seine „Abkehr von der Avantgarde“ eine Vorbildfunktion zu haben. Jedenfalls hört sich Silvestrovs 5. an, wie eine lange Meditation über Motive aus Mahlers Adagietto. Auch in anderen Werken scheinen „Adagietto-Zitate“ als eine Art Signatur des Komponisten zu dienen.

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