J. S. Bach erfahren ...

  • Liebe Newbie, bin ich hier überhaupt im richtigen Thread gelandet --- in dem, in dem Du beklagst, zu Bach keinen rechten Draht entwickeln zu können, wo er doch als Komponistengott überall verehrt wird? Mit dem Handy verläuft man sich ja schnell hier.


    Jedenfalls:


    Mit geht's wie Dir. Ich fand nix was ich von Bach je hörte unanhörbar, aber es blieb auch kaum was von diesem Komponisten lange hängen. Ich habe kein Verhältnis zu Bach, garnicht. Vielleicht müßte man Partituren mitlesen können.


    Aber es gibt eine ganz große Ausnahme, jedenfalls für mein Ohr, für mich - vielleicht geht's dir ja ähnlich?


    Und das sind seine Suiten für Cello solo. Klingt vielleicht komisch. Warum sollte Musik für eine so merkwürdige Besetzung denn annäherungswürdiger klingen als all die berühmte Kirchenmusik oder die altbekannten weltlichen Sachen?


    Bei mir (vielleicht bei dir ja auch): weil wir Jazz mögen. Dies klingt wie ein Jazzer den es ins 18. Jahrhundert verschlagen hat. Ein Instrument (von betörendem Schönklang), eine Dichte, die eigentlich nur improvisatirisch erreichbar ist, und voll ins Herz - was nichts ist was ich mit Bach sonst verbinden würde :pfeif:


    Guck mal auf yt, und wenn's was sein könnte, dann


    Jaap ter Linden.


    Eine absolut magische Aufnahme!



    Und davon ab und darüber hinaus - wenn Bach nicht deins ist dann laß ihn liegen. Es gibt keine bildungsbürgerlichen Hörpflichten. Guck lieber mal nach den Rosenkranzsonaten von Biber. Für uns Jazzfans viel lohnender! Und katholisch statt evangelisch... Das riecht immerhin nach Weihrauch und nicht nach Linoleumboden, da haste suggestive Magie und nicht die strenge Predigt Grins1




    :)



    "Verzicht heißt nicht, die Dinge dieser Welt aufzugeben, sondern zu akzeptieren, daß sie dahingehen."
    (Shunryu Suzuki)

  • Garcia Dein schönes Plädoyer für die sechs Solosuiten für Cello kann ich absolut unterstreichen, zumal mit Jaap ter Linden!


    Und wer Cello nicht mag (gibt es so jemanden?), der findet vielleicht Gefallen an derselben Musik auf dem Saxophon, hier mit Raaf Hekkema:



  • Garcia:

    Ich schrieb ja am 01.08.2021 bereits Folgendes:

    Ich hab' s mittlerweile übrigens aufgegeben, mich für Bach begeistern zu "wollen".
    Es gibt so viele weitere - tolle - Komponisten, die ich für mich entdeckt habe und weiterhin entdecke ... :)

    Und die Cello-Suiten kannte ich natürlich schon. Dennoch vielen lieben Dank, Garcia! :wink:


    Ich muss aber dennoch sagen: ich habe ja bislang schon so mind. drei Bach-Werke live gehört und da gefielen sie mir "recht gut". Mehr aber auch nicht. So richtig "gepackt" haben sie mich auch live nicht. Ich bleibe dennoch weiterhin offen, versuche aber nichts zu erzwingen. Nun ja, ich wollte halt einfach nur verstehen, was die gefühlte Mehrheit an Klassik-Liebhabern so an JSB findet. Muss ich ja aber auch nicht.

    Hagen Rether: "Ich habe mich nie als Kabarettist verstanden; eher als Trauerbegleiter".



  • So richtig "gepackt" haben sie mich auch live nicht.

    "Packend" finde ich z. B.

    - den Eingangschor der Mt-Passion - Dialog zweier Chöre und zweier Orchester, darüber wie ein roter Faden der Choral "O Lamm Gottes, unschuldig", Doppeltonalität - der Satz steht in e-Moll, der Choral in G-Dur ...

    - "Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden" aus der Mt-Passion

    - "Erbarme dich" - Arie aus der Mt.Passion

    - "Mache dich, mein Herze, rein" - Arie aus der Mt-Passion

    - Das gigantische erste Kyrie aus der h-Moll-Messe - was für eine riesige Architektur

    - die Passacaglia "Crucifixus", die sich in der 13. Version ("jetzt schlägt's 13") von e-Moll nach G-Dur wendet - und nach einer Spannungspause in den Ausbruch "Et resurrexit ..." mündet

    - die Wahnsinnsstelle bei "Et expecto", a capella mit B. c., mit aberwitzigen Harmonien - hier geht es um Jenseitiges, und die Musik scheint dies vorweg zu nehmen


    ... so weit mal nur aus diesen beiden Ausnahmewerken, wobei es auch darin noch mehr gibt ...

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Mauerblümchen Die Matthäuspassion und die h-moll-Messe bilden sicherlich die absoluten Gipfel in ihrer jeweiligen Gattung. Ich fürchte aber, dass sie für den Einsteiger zu sperrig sind. Allerdings hatte ich meine erste tiefgehende Bacherfahrung vor ca. 35 Jahren tatsächlich mit der Matthäuspassion, und zwar in der grandiosen Einspielung mit Otto Klemperer (mein erstes CD-Album überhaupt). Heute ziehe ich aber beide Werke in der minimalistischen Lesart Kuijkens mit solistischer Chorbesetzung der romantischen Übergröße bei Klemperer vor.

    Die Momente, die Du beschreibst, setzen immerhin schon ein analytisches Hören und musiktheoretische Kenntnis voraus, was bei jemandem, der neu in der klassischen Musik unterwegs ist, nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. Er wird sich eher emotional mitreißen lassen.

  • Die Momente, die Du beschreibst, setzen immerhin schon ein analytisches Hören und musiktheoretische Kenntnis voraus, was bei jemandem, der neu in der klassischen Musik unterwegs ist, nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. Er wird sich eher emotional mitreißen lassen.

    Das tun diese Stellen aber auch.
    Die von Mauerblümchen beschriebenen grandiosen Architekturen verhindern ja nicht, dass sie emotional wirken.

    Bei mir ist das auf jeden Fall so.

    Und obwohl ich auch umschalten kann und manchmal im Strukturhören- oder Harmoniehören-Modus bin, packen mich diese Stellen letztendlich immer wieder auf der emotionalen Ebene.

    :wink:

  • Hi,


    wenn es die Cello-Suiten sein sollen, dann sind bei Queyras und Lipkind an der Spitze. Hier kommen die Leichtigkeit und das Tänzerische dieser Suiten ausgezeichnet zum Ausdruck.

     

    Helli

  • Ich fürchte aber, dass sie für den Einsteiger zu sperrig sind.

    Eine Frage der Einstellung. Um 2010 begann ich mit den Passionen und war relativ schnell davon tief beeindruckt. Da hatte ich weder Orgel- noch Cembalowerke wirklich auf den Schirm gehabt. Die Instrumentalmusik anzueignen machte mir insgesamt mehr Mühe als die Vokalwerke.


    Ich glaube eher, daß eine gewisse Hartnäckigkeit etwas mehr bewirkt als ein sofortiges Gefallen. Aber letztendlich kommt es eh auf den einzelnen Hörer an, was seine Strategie des Einhörens am Besten funktioniert. Die Außenstehenden können Tipps geben, mehr aber nicht.

    "Interpretation ist mein Gemüse."

    Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation."

    Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..."

    jd

  • Eine Frage der Einstellung

    Oder des Geschmacks? Der persönlichen Zugangsmöglichkeiten?


    Ich kann es nur für mich sagen: Viele der Kantaten, die ich kennengelernt habe (nebenbei, immer unter Gardiner) fand ich sehr schön, die Schlußchoräle gar betörend. Aber es ist gerade die Matthäuspassion die mir wenig sagte. Und ich hab's versucht, mit diversen hip- und nonhip- Aufnahmen, am Ende gar mit einer dvd da ich dachte, ich müsse das vielleicht auch sehen (Koopman, in einer Kirche in Amsterdam).... Aber nein, es ging nicht.


    Ich glaube heute schon, daß, wenn man wie ich musiktheoretisch ein Analphabet ist (eine Fuge mag ja ein bewunderungswürdiges Ding sein, aber wenn ich's nicht höre ist das eben wie das New York Times Kreuzworträtsel), und wenn einem wie mir das Christentum als religiöse Offenbarung fernsteht, ...daß dann zu vieles Wesentliche fehlt, um das Phänomen Bach in seiner Komplexität wirklich erfassen zu können. Ich meine das auch emotional! Dann springt der Funke nicht über. Das liegt ja nicht an Bach, das sagt garnichts über ihn aus, aber manches über mich.


    Probiere es doch mit dem andren großen Barockmeister, liebe Newbie, teste mal Händel... Ich fand da was ich bei Bach nicht fand, sogar etwas mir noch ferner stehendes als Passionen, meine einzige von mir geliebte Oper...



    :)

    "Verzicht heißt nicht, die Dinge dieser Welt aufzugeben, sondern zu akzeptieren, daß sie dahingehen."
    (Shunryu Suzuki)

  • Eine Frage der Einstellung

    Oder des Geschmacks? Der persönlichen Zugangsmöglichkeiten?

    Nein. Was ich meine, steht am Anfang - daß man zunächst mal beginnt und einige Durchläufe auf sich wirken läßt. Was du schreibst, ist eher die Folge - wenn es eben nicht funktioniert, nachdem man es mehrmals versucht hat.


    Mir geht es nichtmal darum, daß Bach bei Einem nicht ankommt - ich spreche einfach davon, daß man es nicht direkt nach dem zweiten Mal sein läßt. Bach braucht schon eine Weile.

    Ich glaube heute schon, daß, wenn man wie ich musiktheoretisch ein Analphabet ist [...], und wenn einem wie mir das Christentum als religiöse Offenbarung fernsteht, ...daß dann zu vieles Wesentliche fehlt, um das Phänomen Bach in seiner Komplexität wirklich erfassen zu können. Ich meine das auch emotional! Dann springt der Funke nicht über.

    Ich habe nie wirklich das Gefühl gehabt, daß es immer um das Hintergrundwissen geht, damit man in einer musikalischen Welt eintauchen kann. Es kann auch ohne gehen - die Komponisten haben sich häufig schon die Gedanken darüber gemacht: handwerklich, konzeptionell, emotional. Daß es dennoch nicht funktioniert, obwohl man es öfters versucht hat, ist halt das Ergebnis der eigenen Bemühungen. In Bezug anderer Komponisten oder Genres ist das bei mir auch nicht anders.

    "Interpretation ist mein Gemüse."

    Hudebux

    "Derjenige, der zum ersten Mal anstatt eines Speeres ein Schimpfwort benutzte, war der Begründer der Zivilisation."

    Jean Paul

    "Manchmal sind drei Punkte auch nur einfach drei Punkte..."

    jd

  • Die Momente, die Du beschreibst, setzen immerhin schon ein analytisches Hören und musiktheoretische Kenntnis voraus, was bei jemandem, der neu in der klassischen Musik unterwegs ist, nicht unbedingt vorausgesetzt werden kann. Er wird sich eher emotional mitreißen lassen.

    Ich denke, dass die emotionale Gewalt dieser Momente sich auch dann erschließt, wenn man die Vorgänge nicht in Echtzeit analysieren kann. Ansonsten wäre es ja vergeblich, solche Dinge zu komponieren.


    Und was ein hypothetischer Neuling versteht und was nicht, das ist ganz schwer einzuschätzen. Ich würde in jedem Falle davon absehen, ihn für hörbehindert zu erklären.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • ... was ein hypothetischer Neuling versteht und was nicht, das ist ganz schwer einzuschätzen. Ich würde in jedem Falle davon absehen, ihn für hörbehindert zu erklären.

    Stimmt. Von "hörbehindert" sollte aber nicht die Rede sein. Der musikalisch nicht Gebildete hört sicherlich anders, vielleicht sogar bisweilen intensiver (emotional), als jemand, der sich diesen direkten Zugang durch zu stark analytisch (rational) betontes Hören versperrt.

  • Die Kunst der Fuge BWV 1080 ist sicherlich eines der schwierigsten Werke Bachs, weil es so abstrakt ist, dass Bach nicht einmal Hinweise zur Besetzung gegeben hat. Manche Aufführung klingt spröde, bestenfalls akademisch. Vielleicht kann man sich das Werk besser erschließen mit einem Klangkörper, der wie kaum ein anderer in der Lage ist, die Tiefen der Musik auszuloten: dem Streichquartett. Auch ohne große Kenntnis vom Kontrapunkt und der Bauart einer Fuge kann diese Musik direkt zum Herzen sprechen. Ich werfe mal die Einspielung mit dem Keller Quartett in den Raum.

  • Ich denke, dass die emotionale Gewalt dieser Momente sich auch dann erschließt, wenn man die Vorgänge nicht in Echtzeit analysieren kann. Ansonsten wäre es ja vergeblich, solche Dinge zu komponieren.

    Da muss ich dir Recht geben. Wirklich als Anfänger und junger Teenager kannte ich nur ein bisschen Bach vom Klavier (damals gefühlt "eher langweilig") und von der Orgel (natürlich die "Acht kleinen" - das Orgelbüchlein war zu der Zeit noch nicht dran). BWV 21 lernte ich dann in meinem allerersten Projekt in der örtlichen Kantorei kennen (eigentlich ganz nett zum Einstieg). Im Hörspiel über Bach in der Reihe "Wir entdecken Komponisten", das ich zu dieser Zeit hoch und runter gehört hatte wurde leider verschwiegen, dass im Weihnachtsoratorium auch lange Arien vorkommen. Das erste Weihnachtsoratorium im Konzert war für mich dann auch eher eine zähe Angelegenheit.


    Die H-Moll-Messe, die ich dann im Bachjahr 2000 auf CD (noch in der Rilling-Einspielung) kennengelernt hatte, hat mich dann allerdings gleich von Beginn an gepackt. Analytisch hören konnte ich die Musik zu diesem Zeitpunkt noch absolut gar nicht. Und das ist doch das Faszinierende an Bach: die Musik ist qualitativ so hervorragend, dass sie höchsten Ansprüchen genügt (nicht nur in der Zeit, aus der sie stammt, sondern auch darüber hinaus), und sich trotzdem / dennoch / gerade deswegen / gleichzeitig auch beim unbedarften Anhören unheimlich ansprechend ist und auch emotional berührt.


    Was die beiden großen Passionen angeht muss ich sagen, dass sich diese für mich auf anderem Weg erschlossen haben. Beim Hören der CDs war ich auch relativ ernüchtert und habe sie erstmal beiseite gelegt. Hier machten es die Konzerte an Karfreitag aus. Einerseits lag es vielleicht an dem Tag, wenn die neunte Stunde auf einmal wirklich die neunte Stunde ist und nach "... und verschied" auf einmal eine tiefe Betroffenheit im Raum steht. Andererseits ist es auch die große Dramatik in den beiden Werken, die - heute immer noch für mich - in einem Konzert live und vor Ort einfach besser spürbar ist und hier das Besondere an den Passionen ausmacht.


    Mauerblümchens Liste kann ich so nur bestätigen und ergänze noch aus der H-Moll-Messe "Dona nobis Pacem", "Et in terra Pax" (der Paukeneinsatz) und das "Cum Sancto Spiritu" (das "Hochjubeln" gegen Ende des Satzes).

  • Tipps zu geben, mit welchen Werken von Bach man beginnen sollte, ist sehr schwierig, da die Zugänge zu individuell verschieden sind. Glenn Gould aber aus "HIP-hygienischen" Gründen auszuschließen, hielte ich für einen Fehler. Ich kenne einige Leute - mich eigentlich eingeschlossen - die über Glenn Goulds Aufnahmen ihre Zuneigung zu Bach entwickelt haben. Seine Aufnahme der Französischen Suiten bspw. hat meine Frau - die zuvor so gut wie keine klassische Musik gehört hat - gleich begeistert. Auch die Goldbergvariationen von Gould gefallen Klassikfernen oft.

    Im Zweifelsfall immer Haydn.

  • Tipps zu gheben, mit welchen Werken von Bach man beginnen sollte, ist sehr schwierig, da die Zugänge zu individuell verschieden sind.

    Da stimme ich sofort zu; dasselbe gilt für Ratschläge à la "Einsteiger sollten unbedingt hiermit anfangen: (1), (2), (3), ...". Eigentlich kann man nur möglichst breit anbieten.

    "Den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten." - Johann Wolfgang von Goethe

  • Ich kenne einige Leute - mich eigentlich eingeschlossen - die über Glenn Goulds Aufnahmen ihre Zuneigung zu Bach entwickelt haben.

    Zu diesen Leuten gehöre auch ich.


    :)

    Es grüßt Gurnemanz
    ---
    Der Kunstschaffende hat nichts zu sagen - sondern er hat: zu schaffen. Und das Geschaffene wird mehr sagen, als der Schaffende ahnt.
    Helmut Lachenmann

  • Zu diesen Leuten gehöre auch ich.

    Ich schließe mich an. :)

    Ebenso. Und das gilt auch für Schumanns Klavierquartett ... oder -quintett? - Da müsste ich nachsehen. Über meine Probleme, die ich dennoch prinzipiell mit Glenn Gould habe, muss ich jetzt nicht anfangen, diskutieren zu wollen ... ;) :)

    He who can, does. He who cannot, teaches. He who cannot teach, teaches teaching.

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